Deindrustialisierung : Folgeschäden der Energiekrise: Was passiert in der Industrie?

Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie, Gerald Haug

Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie, Gerald Haug, hat Sorge, dass ganze Industriezweige verloren gehen, wenn jetzt nicht gehandelt wird - insbesondere in der Grundstoffindustrie. "Das würde eine noch viel höhere Abhängigkeit von Asien und vor allem China bedeuten."

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In Teilen der deutschen Wirtschaft greift wegen des rapiden Anstiegs der Gas- und Strompreise Panikstimmung um sich. Für die österreichische Wirtschaft ist dies durchaus von Bedeutung, ist Deutschland nicht nur Nachbar und wichtigster Handelspartner, sondern auch ein Stimmungsbarometer.

Angesichts der bis Anfang nächsten Jahres erwarteten weiteren Preiserhöhungsrunde fürchten sowohl Betriebe als auch deren Branchenverbände, dass die Produktion in Deutschland dauerhaft unrentabel werden könnte. Das Münchner Ifo-Institut erwartet, dass die Entwicklung der Energiepreise zu vermehrten Investitionen im Ausland führen wird.

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"Der Kostenanteil für Energie ist auf den ersten Blick gar nicht so hoch", sagt Ifo-Ökonom Oliver Falck. Der Anteil der Energiekosten am Bruttoproduktionswert liegt in der Autobranche bei 0,5 Prozent, im Maschinenbau bei 0,8 Prozent und in der Chemie bei 3,1 Prozent.

"Trotzdem kann ein starker Preisanstieg bei der Energie die Wettbewerbsfähigkeit gerade von denjenigen Branchen beeinträchtigen, die im harten internationalen Wettbewerb stehen und ohnehin schon wettbewerbsbedingt relativ geringe Umsatzmargen realisieren." Falck erwartet "vorübergehende Produktionseinstellungen und die Verlagerung besonders energieintensiver Produktionsschritte ins Ausland."

Energieintensive Produktion ist nach Falcks Worten auch sehr kapitalintensiv - sprich teuer. Verlagerungen seien nicht ohne weiteres möglich. "Wir werden aber bei Neuinvestitionen wahrscheinlich Verlagerungen ins Ausland sehen." Beim Maschinenbau-Verband VDMA sagt ein Sprecher: "Allein wegen der Energiepreise werden die Unternehmen eine solch wichtige Entscheidung nicht treffen, aber stark steigende Energiepreise können natürlich im Einzelfall das Zünglein an der Waage sein."

Oliver Falck spricht über die Möglichkeit eines großen Crashs.

Lieferkettenprobleme durch Energiekosten

Wie immens der Energiebedarf der energieintensivsten deutschen Unternehmen ist, lässt sich an den Daten des Statistischen Bundesamts ablesen. Den größten Gasverbrauch in ganz Deutschland hat die Stadt Ludwigshafen mit ihren lediglich 171.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Denn die Stadt am Rhein beherbergt das BASF-Stammwerk.

Zahlen nur für Ludwigshafen nennt die BASF nicht, doch die Energiekosten der europäischen Standorte zusammen waren nach Angaben des Chemiekonzerns im zweiten Quartal 800 Millionen Euro höher als ein Jahr zuvor. Verglichen mit dem zweiten Quartal 2020 beliefen sich die Mehrkosten der Energieversorgung demnach auf eine Milliarde Euro.

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Ein Folgeschaden der hohen Energiepreise: Längst sind die innerdeutschen Lieferketten gestört, Nachschubprobleme gibt es nicht mehr nur bei chinesischen Importen. "Uns liegen zahlreiche Rückmeldungen von Mitgliedsverbänden vor, die von Produktionsdrosselungen der Mitgliedsbetriebe aufgrund der massiv gestiegenen Energiepreise berichten", sagt Bertram Brossardt, der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw).

Die BASF hat ihre Ammoniakproduktion stark reduziert, nicht mit voller Auslastung läuft auch die Herstellung von Acetylen, einem Grundstoff für viele Kunststoffe, Textilien oder auch Lösungsmittel. Nach Angaben eines BASF-Sprechers ist die Nachfrage zurückgegangen, weil einige Acetylen-Folgeprodukte zur Zeit nicht wettbewerbsfähig hergestellt werden können.

"Die Kosten für Strom, Öl und Gas machen in der chemischen Industrie rund 12 Prozent der Produktionskosten aus", sagt Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands VCI. "In der Grundstoffchemie ist der Anteil mit rund 16 Prozent noch höher. Bei einzelnen Chemikalien, zum Beispiel Ammoniak oder Chlor, liegt der Anteil sogar bei mehr als 70 Prozent."

Energiekrise besonders dramatisch für Mittelstand

Ein besonderes Augenmerk bei Auswirkungen der hohen Energiepreise muss außerdem auf mittelständische Unternehmen gelegt werden (das INDUSTRIEMAGAZIN hat berichtet).

Denn einer Analyse der Deutschen Bank zufolge, die durchaus auch für den österreichischen industriellen Mittelstand Geltung hat, drohen mittelständischen Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe Herausforderungen, an denen viele scheitern würden. Große, globalisierte Industrieunternehmen, die ihre Aktivitäten besser nach ihren individuellen Kosten- und Kundenstrukturen wählen können, hätten es demzufolge leichter.

Laut der Studie wird die industrielle Produktion in Deutschland heuer um 2,5 Prozent schrumpfen und 2023 um weitere rund fünf Prozent nachlassen. Die größten Rückgänge seien in den energieintensiven Industrien - und hier vor allem im Mittelstand - zu erwarten.

"Wenn wir in etwa zehn Jahren auf die aktuelle Energiekrise zurückblicken werden, könnten wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung betrachten." Die Deutsche-Bank-Fachleute sind pessimistischer für den Industriestandort Deutschland als für die großen deutschen Industrieunternehmen.

Erneuerbare oder Gefahr für Grundstoffindustrie

Ein weiterer Blick auf energiebezogene Gefahren für die Industrie, wenn auch von einer anderen Richtung:

Der Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie, Gerald Haug, hat eine deutliche Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien, aber auch des Kohleausstiegs gefordert. Haug warnt vor dem Ende der Grundstoffindustrie, besonders der chemischen Industrie. Als ein Problem sieht er die „zunehmende Überregulierung“ der EU.

„Wir müssen massiv in Erneuerbare investieren. Das war viel zu langsam“, sagt der Klimaforscher. "Wenn die Süddächer mit Photovoltaik bedeckt wären, hätten wir schon mal einen Ausbau um den Faktor vier." Und: "Wir müssen den Kohleausstieg forcieren - auch wenn wir jetzt diesen und nächsten Winter etwas mehr brauchen", sagte Haug mit Blick auf den Krieg in der Ukraine. "Für unsere Klimaziele ist es wichtig, den Kohleausstieg wirklich bis 2030 zu schaffen. Dafür brauchen wir viel mehr Erneuerbare, aber auch mehr Gas- und Wasserstoffkraftwerke." Die Gaskraftwerke müssten "Wasserstoff-ready" sein.

Haug hat Sorge, dass ganze Industriezweige verloren gehen, wenn jetzt nicht gehandelt wird - insbesondere in der Grundstoffindustrie. "Das würde eine noch viel höhere Abhängigkeit von Asien und vor allem China bedeuten." Die Chemieindustrie etwa komplett aus Deutschland oder überhaupt Europa auszulagern, hält er für einen "fundamentalen Fehler" - insbesondere angesichts des Ziels der Klimaneutralität bis 2045. Die Überregulierung führe bei der Industrie zu "unglaublichen Unsicherheiten."