Energieversorgung : Wenn das Gas knapp wird: Drohende Wirtschaftstriage
Wie sehr die Wirtschaft von der Gasversorgung in der Industrie abhängt und wie stark verschiedene Industriezweige voneinander abhängen, unterstreicht auch eine aktuelle Expertenaussage.
Die Bau- und Energie-Expertin Lamia Messari-Becker warnt für den Fall eines Stopps von russischen Gaslieferungen nach Deutschland vor verheerenden Folgen für die deutsche Wirtschaft. "Wenn Grundstoff-Industrien zum Erliegen kämen, würde ein Dominoeffekt entstehen, der nicht mehr aufzuhalten und nur schwer reparabel wäre", sagte Messari-Becker am Freitag.
In Österreich wäre das freilich nicht anders. So warnte die heimische Industrie erst am Montag auch angesichts der Sorge um Gas vor existenzbedrohenden Szenarien. In einer Aussendung der Industriesparte der Wirtschaftskammer Steiermark sorgte man sich um "tausende Jobs und hunderte wirtschaftliche Existenzen".
Nach Angaben von Messari-Becker, die die deutsche Bundesregierung in Bau-und Energiefragen berät, hängt etwa die Bauwirtschaft "maßgeblich" an gasintensiven Industrien wie der Chemie-, Stahl- und Zementindustrie.
In Österreich warnte erst diese Woche die Chemische Industrie vor Produktionsausfällen, da eine kostendeckende Produktion immer schwieriger werde. "Besonders schwierig ist die Situation für die energieintensiven Unternehmen. Einer der Hauptgründe dafür ist, dass die gestiegenen Herstellungs- und Beschaffungskosten nicht oder nur zum Teil an die Kunden weitergegeben werden kann", so der Fachverband der Chemischen Industrie Österreichs (FCIO) in einer Aussendung.
Da die Chemie am Anfang fast aller Produktionsprozesse steht, würden in der Konsequenz auch viele nachgelagerte Liefer- und Produktionsketten in Österreich zusammenbrechen. Von der Automobil- über die Bau- und Pharmaindustrie bis hin zur Landwirtschaft, wären die verschiedensten Branchen betroffen. Zigtausende Arbeitsplätze wären in Gefahr.
„Ein abrupter Stopp der Gasversorgung hätte katastrophale Auswirkungen auf die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern“, warnte der Obmann der chemischen Industrie, Hubert Culik.
In der deutschen Chemieindustrie macht man sich nicht weniger Sorgen. Martin Brudermüller, Chef des Chemiekonzerns BASF mit Sitz in Ludwigshafen, hat für den Fall eines Importstopps oder längeren Ausfalls von Gas- und Öllieferungen aus Russland vor beispiellosen wirtschaftlichen Schäden gewarnt. "Das könnte die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen", sagte Brudermüller. Vor allem für viele kleine und mittelständische Unternehmen wäre dies aus seiner Sicht existenzbedrohend. Und zu einem Produktionsstopp bei BASF: "Wir stellen Produkte her, die am Anfang der Wertschöpfungskette stehen", sagte Brudermüller. "Da hängt am Ende die Versorgung mit täglichen Gütern von Lebensmitteln bis hin zu Medikamenten dran."
Forderungen nach einem europäischen Energie-Importboykott gegen Russland wies der BASF-Chef zurück: "Wollen wir sehenden Auges unsere gesamte Volkswirtschaft zerstören? Das, was wir über Jahrzehnte hinweg aufgebaut haben? Ich glaube, ein solches Experiment wäre unverantwortlich." Ein vollständiger Verzicht auf russische Erdgaseinfuhren sei erst mittelfristig möglich. Andere Energieimporte, etwa von Flüssiggas aus den USA, könnten "nicht auf Knopfdruck" erhöht werden.
Der Stahlkonzern Salzgitter, ein Wettbewerber der Voestalpine, hat angesichts der Debatte um die Gasversorgung die Bedeutung einer funktionierenden Stahlindustrie betont. "Ohne Erdgas keine Produktion von Stahl", sagte ein Konzernsprecher. Der Politik müsse klar sein, dass von der Produktion wiederum die Energieversorgung und auch die Energiewende abhängen.
Das Unternehmen in Salzgitter ist demnach schon aus wirtschaftlichen Gründen dabei, den Erdgaseinsatz auf ein Minimum zu beschränken. Teilmengen könnten durch den Einsatz von Heizöl kompensieren werden, sagte der Sprecher.
Triage darf nicht die Konsequenz sein
Messari-Becker forderte nun die deutsche Politik auf, "ideologiefrei alle nationalen Reserven zu mobilisieren" und notfalls auch Laufzeitverlängerungen konventioneller Kraftwerke, etwa von Kohlekraftwerken, in Erwägung zu ziehen. Das wäre aus ihrer Sicht "allemal verkraftbarer als eine über Jahrzehnte aufgebaute soziale Marktwirtschaft zu schädigen", sagte die Expertin.
Oberstes Ziel müsse es sein, "mit allen Mitteln eine drohende Wirtschaftstriage zu verhindern", sagte Messari-Becker. Damit meint die Expertin ein Szenario, bei dem im Falle von Versorgungsengpässen gewisse Unternehmen und Einrichtungen bevorzugt mit Gas versorgt würden - in Anlehnung an den medizinischen Begriff "Triage".
Solch eine Priorisierung würde etwa greifen, wenn die Notfallstufe des Notfallplans Gas ausgerufen würde. Sowohl in Deutschland als auch Österreich wurde diese Woche vorsorglich bereits die Frühwarnstufe dieses Plans aktiviert.
Am Donnerstag hatte der russische Präsident Wladimir Putin mit Wirkung zum 1. April angeordnet, dass westliche Staaten Konten bei der Gazprombank eröffnen müssen, um weiter russisches Gas zu erhalten. Andernfalls würden die Lieferungen für die "unfreundlichen" Länder eingestellt, sagte er. Zu diesen zählt auch Österreich. (apa/red)