Kabelbäume sind Blutkreislauf und Nervensystem eines Autos - und ihre Knappheit hat nach der russischen Invasion in der Ukraine in der Autobranche für Unruhe gesorgt. Doch die eigentliche Revolution bei Kabelbäumen läuft schon länger. "Nicht der Krieg hat die Branche zum Umdenken für neue technische Lösungen bewogen, sondern die Elektromobilität", sagt Walter Glück, beim Zulieferer Leoni zuständig für Bordnetze. Dabei gehe es darum, wie das System vereinfacht werden kann.
Denn heute sind Kabelbäume kilometerlange schwere Gebilde aus Kabeln, die sich wie ein Aderngeflecht durch das Auto ziehen. Sie verbinden alle möglichen Teile mit Strom und Daten, vom Scheinwerfer über Motor und Cockpit bis hin zu den Türschlössern und der Innenbeleuchtung. Sie werden für jedes Auto individuell konfiguriert und von Hand zusammengesetzt. Fehlen sie, steht die Produktion eines Autos still; Kabelbäume gehören zu den Teilen, die als erstes in ein neues Fahrzeug eingebaut werden. "In der Ukraine-Krise drohten unsere Fabriken mehrere Monate lang komplett stillzustehen, viel länger, als wir sie wegen Corona geschlossen haben", sagt Adrian Hallmark, Chef der Volkswagen-Luxustochter Bently.
Inzwischen sind die meisten dieser Sorgen Vergangenheit - die Hersteller von Kabelbäumen haben in Windeseile neue Fertigungsanlagen an anderen Standorten aufgebaut, etwa in Marokko, Serbien, Tunesien oder Rumänien. Mercedes-Benz flog einem Insider zufolge Kabelbäume aus Mexiko ein. Zudem produzieren die Werke im Westen der Ukraine wieder. Autobauer wie Nissan kündigten dennoch an, mit den Zulieferern über Änderungen zu sprechen.
Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob die Teile an anderen Standorten produziert werden - es geht um einen grundsätzlich neuen Ansatz, der nicht nur eine automatisierte Produktion erlaubt, sondern auch die Leistungsfähigkeit der Bordnetze erhöht. Leoni-Manager Glück spricht von einem "Paradigmenwechsel". In der Vergangenheit seien niedrige Kosten im Mittelpunkt gestanden, deswegen sei auf Schnittstellen verzichtet worden. "Der Kabelsatz ist auf Kosten getrimmt." Doch jetzt geht es darum, den langen Kabelbaum in mehrere Einzelteile zu trennen und über Stecker zu verbinden. Vorteil dieser "zonalen Architektur" ist, dass weniger Steuergeräte nötig sind, weil diese vor allem an Knotenpunkten sitzen, über die die einzelnen Teile des Bordnetzes verbunden sind.
Lesen Sie hier: Mercedes macht den nächsten Schritt auf dem Weg zum E-Auto-Konzern