Logistik : Billig-Amazon: Wie Temu und Shein die Luftfracht-Kapazitäten verstopfen

Boston, US, March 2023: Hand holding a phone with Temu logo displayed on the screen. Blurred logo on the background. Temu is an online marketplace. Illustrative editorial

Billig-Anbieter wie Temu und Shein verstopfen die weltweiten Transport-Kapazitäten

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Nicht nur den europäischen und amerikanischen Markt überschwemmt das rasante Wachstum der chinesischen Unternehmen Temu und Shein mit Billig-Produkten. Es sorgt inzwischen auch für Engpässe im weltweiten Luftverkehr. Die Frachtraten steigen auf Rekordhöhe. "Noch Mitte 2023 war die Nachfrage aus China sehr schwach, ab Ende des Jahres stieg sie jedoch plötzlich massiv an", wie ein deutscher Logistik-Experte zur Nachrichtenagentur Reuters sagte.

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"Dahinter steckten zwei Firmen, wie sich herausstellte: Temu und Shein." Zusätzliche Mengen könnten die Flugzeuge kaum aufnehmen, wenn Unternehmen wegen der Angriffe der Huthis auf Schiffe im Roten Meer einen Teil ihrer Waren per Flugzeug transportieren wollten. "Der größte Trend, der die Luftfracht beeinflusst, ist nicht das Rote Meer, es sind chinesische E-Commerce-Firmen wie Shein und Temu", sagt auch Basile Ricard, verantwortlich für das China-Geschäft bei Bollore Logistics.

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4.000 -5.000 Tonnen Luftfracht - täglich

Die Unternehmen haben sich im Internetgeschäft mit Hemden und Hosen für wenige Euro, aber auch mit Haushaltswaren und Spielzeug eine starke Position erarbeitet. Allein Shein beherrscht rund ein Fünftel des weltweiten Fast-Fashion-Marktes, schätzen Marktbeobachter wie Coresight Research. In Amerika versenden Shein und Temu zusammen täglich 600.000 Pakete, heißt es in einem Bericht des US-Kongresses vom Juni 2023. In Deutschland sind es Schätzungen zufolge rund 400.000 Pakete pro Tag. Alle Waren kommen innerhalb weniger Tage nach der Bestellung an. Das hat gravierende Folgen für die Luftfracht.

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Jeweils 4.000 bis 5.000 Tonnen Waren werden nach Angaben von Branchenkennern täglich von Shein und Temu ausgeflogen. Anders ausgedrückt: Mehr als hundert Frachter vom Typ Boeing 777 müssen allein dafür täglich abheben. Zum Vergleich: Große Technologiekonzerne wie Apple kommen bestenfalls auf 1.000 Tonnen pro Tag. Sie müssen Branchenkreisen zufolge bereits um Frachtraum in den Maschinen kämpfen. Apple wollte auf Anfrage keinen Kommentar abgeben.

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Sheins und Temus Strategie scheint klar: Beide Firmen liefern direkt aus China bis vor die Haustür in Berlin, New York oder Rio de Janeiro. Zwischenhändler gibt es ebenso wenig wie Logistikzentren oder Lager. Zurückgeschickte Hemden, Toaster oder Spielzeuge werden zerstört. Die Apps sind zum Teil wie Spiele gestaltet, die zu immer neuen Käufen animieren sollen. Datenschützer halten das für bedenklich. Aber auch Verbraucherschützer warnen vor vielen Produkten, zum Teil wegen Sicherheitsbedenken. Zudem greift die Produkthaftung nicht, weil der Hersteller tausende Kilometer entfernt in China sitzt und es keinen Importeur gibt.

Jeweils 4.000 bis 5.000 Tonnen Waren werden nach Angaben von Branchenkennern täglich von Shein und Temu ausgeflogen.

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Mit Blick auf Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit ist das Geschäft mit Temu und Shein ohnehin eine Katastrophe.

Logistiker: Verdrängt Temu langjährige Kunden?

Günstig sind die Waren auch deshalb, weil die Unternehmen bei der Verpackung auf die Einhaltung der Zollgrenzen der jeweiligen Länder achten. "Ein Stift für Brasilien wurde so in vier Teile zerlegt und einzeln verpackt", sagt ein Logistikexperte. Um die vergleichsweise strengen chinesischen Vorschriften für den Export von Elektroprodukten zu umgehen, würden die Waren inzwischen per Lkw nach Vietnam gebracht und von dort aus per Flugzeug nach Hanoi geflogen.

Sogar Thailand sei ein Ziel, weil dort viele Passagiermaschinen noch Frachtkapazitäten im Bauch hätten und die Luftfrachtraten entsprechend niedriger seien. Außerdem versuchten die Firmen inzwischen, sich selbst Flugzeuge zu beschaffen: "Wir haben gehört, dass Temuzwölf Großtransporter sucht, um sie zu leasen. Sie suchen den Markt nach jedem Flugzeug ab, das sie bekommen können. Wir haben sogar eine Anfrage direkt auf unsere Website bekommen", berichtet Marc Schlossberg, Vizepräsident des Luftfrachtunternehmens Unique Logistics.

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Temu erklärte auf Anfrage von Reuters, dass man in den USA und Europa nach Zwischenhändlern suche, um Transportwege und Lieferzeiten zu verkürzen. Shein hat bereits damit begonnen, Lagerhäuser in den USA zu nutzen. "Shein arbeitet ständig daran, sich für den Kunden zu verbessern und effizienter zu werden", erklärte das Unternehmen.

Mit einem schnellen Abflauen des Fracht-Booms aus China rechnen die Logistiker allerdings nicht. Zwar hätten einige Frachtlinien ihre Kapazitäten erhöht, doch auch diese seien langfristig gebucht, sagt ein Schenker-Sprecher. "Wir erwarten, dass die starke Nachfrage in den kommenden Monaten anhält." Doch was in der Branche eigentlich für Freude sorgen sollte, wird auch kritisch gesehen. Es sei ungewiss, ob das Geschäft mit Temu und Shein nachhaltig sei, sagt der Asienchef eines Logistikers. Es bestehe die Gefahr, dass jahrelang zuverlässige Kunden nun verdrängt würden. "Und mit Blick auf Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit ist das Geschäft mit Temu und Shein ohnehin eine Katastrophe".

"Schrott um billiges Geld"

Ein härteres Vorgehen gegen chinesische Billigmarktplätze wie Temu fordern Handelsexperten und Verbände. "Weder der europäische noch der deutsche Gesetzgeber sind in der Lage, ihre Verordnungen und Gesetze gegenüber chinesischen Unternehmen vollständig durchzusetzen", sagte der Vize-Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE), Stephan Tromp, der Deutschen Presse-Agentur. Die Folge seien Verzerrungen im Wettbewerb.

"Wenn die EU weiterhin zulässt, dass Drittstaatenhändler und Ultra-Fast-Fashion-Anbieter in Europa um billigstes Geld vielfach Schrott verkaufen dürfen, setzen wir den gesamten stationären Handel aufs Spiel - und damit auch unsere Stadtkerne, das sollten wir nicht aus den Augen verlieren", kritisierte Rainer Will, Geschäftsführer des österreichischen Handelsverbandes, in einer Stellungnahme die aktuelle Situation. "Es braucht endlich eine faire Besteuerung, damit für den Händler ums Eck dieselben Regeln gelten wie für die digitalen Giganten."

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Eine stärkere staatliche Regulierung hält auch Kai Hudetz vom Institut für Handelsforschung (IFH) für notwendig. "Es ist kein fairer Wettbewerb, wir brauchen mehr Transparenz. Die Politik muss aktiv werden und insbesondere Kennzeichnungspflichten durchsetzen", so der IFH-Geschäftsführer. Die gleichen Regeln und Standards wie für europäische Anbieter müssten auch für Anbieter aus Fernost gelten. Dies sei eine Frage der Fairness. Gleichzeitig sieht er die Verbraucher gefordert. "Bei den Preisen kann sich jeder ausrechnen, wie nachhaltig die Produkte hergestellt und transportiert worden sind und wie gut die Qualität sein kann." Will sieht das ähnlich: "Datenschutzvorgaben werden häufig ignoriert, vielfach Fake-Produkte verkauft, die laut Greenpeace häufig mit giftigen Chemikalien belastet sind und gesundheitsgefährdend sein können."

Die Paketflut aus China sei ein europäisches Problem. Es müsse eine europäische Lösung geben, so der HDE. Eine große Zahl von Paketen käme zum Beispiel im Logistikzentrum des Brüsseler Flughafens an. "Und wenn die Produkte erst mal in Europa sind, dann haben sie mehr oder weniger freie Bahn. Wir müssen unseren Binnenmarkt schützen", sagte Tromp. "Wenn ein Markt mit unsicheren Produkten überschwemmt wird, ist Gefahr im Verzug."

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Ein Verbot von Handelsplattformen wie Temu sei deshalb aber nicht notwendig. "Wenn sich alle an die gleichen Regeln halten müssen, findet Wettbewerb zum Wohle des Verbrauchers statt. Dann siegt die bessere Lösung", so Tromp. Es sei aber unfair, wenn es solche Plattformen leichter hätten, weil Politik und Behörden sie nicht so stark kontrollierten.

Der HDE fordert daher eine Stärkung des Zolls. Dieser ist beispielsweise für die Paketabfertigung zuständig. "Der Zoll ist mit der schieren Masse schlicht überfordert", sagte Tromp, der auch Digitalisierungsexperte beim HDE ist. Eine digitale Plattform, auf der jede Sendung angemeldet werden muss, könnte ein Ansatzpunkt sein. So könnten Pakete von nicht regelkonformen Händlern einfacher und schneller aussortiert werden. Außerdem müsse die Marktüberwachung in größerem Umfang tätig werden: Die nehmen derzeit kaum Proben oder versuchen, chinesische Händler auf solchen Plattformen zu verfolgen.

Googles größter Kunde

Hinter Temu steht das Unternehmen PDD Holdings mit Sitz in China. PDD ist in China vor allem für seine App Pinduoduo bekannt, die zu den am schnellsten wachsenden E-Commerce-Plattformen des Landes zählt. Seit 2022 ist PDD auch im Ausland auf Expansionskurs. Mit Minipreisen, Rabattangeboten von bis zu 90 Prozent und teilweise skurrilen Produkten hat Temu zuletzt für Aufsehen gesorgt.

Damit hat sich die chinesische Plattform erstaunlich schnell auf dem deutschen Markt etabliert. Jeder Vierte zwischen 16 und 65 Jahren hat in den vergangenen sechs Jahren dort eingekauft, wie eine Umfrage des Marktforschungsunternehmens Appinio zeigt. Laut dem Webanalyse-Unternehmen Similarweb belegt Temu im Ranking der am häufigsten heruntergeladenen Shopping-Apps in Deutschland den ersten Platz. Das Unternehmen tritt selbst nicht als Verkäufer auf, sondern bietet Händlern lediglich eine Marktplatzplattform.

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Handelsexperte Hudetz hat dafür eine Erklärung. "Temu ist weltweit der größte Kunde von Google. Die pumpen unglaubliches Geld in Online-Marketing." Das sei zwar derzeit ein unrentables Geschäft. Zumal vor allem billige, margenschwache Produkte verkauft würden. Doch kann die chinesische Plattform langfristig erfolgreich sein? "Wir dürfen die Beharrlichkeit von Temu nicht unterschätzen. Die haben tiefe Taschen und sind in der Lage, langfristig in den Markt zu investieren", sagt Hudetz.