Künstliche Intelligenz in der Industrie : Das lernen wir von den AI-Pionieren der österreichischen Industrie

Anwendung der KI-Technologien in der Industrie. Beispiele, Meinung von Experten der österreichischen Wirtschaft

von li. n. re.: Manuel Krammer, Department Manager Factory Integration, Flex; Alois Wiesinger, CTO, Fill; Franz Weghofer, Lead Smart Factory & Strategic Industry 4.0, Magna Steyr; Harald Langeder, CTO Fronius; Martin Schwarz, CSO Keba.

Die Bilder wurden per KI Midjourney erstellt. Die Anweisungen lauteten (auf Englisch): Ganzkörperaufnahme der Person als Superheld, der AI im Stile von Superhelden, einen Superheldenanzug tragend.

- © WEKA Industrie Medien, Adobe Stock, beigestellt

Wenn Philipp Lehner etwas in Erstaunen versetzen kann, dann das: In sechs von acht Fokuspunkten der Alpla-Strategie war ChatGPT auf dem richtigen Weg. Lehner wollte es in einem Selbstversuch wissen: Kann die AI bzw. künstliche Intelligenz in einem größeren Kontext Inhalte erfassen? Nur bei zwei Pfeilern lag der KI-Chatbot "marginal bis grundsätzlich daneben", sagt Lehner, der die Entwicklung insgesamt atemberaubend findet: Die Möglichkeiten, die KI-Chatbots jetzt so betont lässig in den Raum stellen, seien "Startschuss für einen Produktivitätswettlauf", glaubt der Chef des Kunststoffverpackungsherstellers aus dem vorarlbergischen Hard.

Vor drei Jahren schon nahm das Unterrnehmen einen Anlauf in der Prozessparameteregulierung durch maschinelles Lernen. Allerdings gab es damals ein Problem beim Einsatz von künstlicher Intelligenz: Man fand keinen Weg, soweit zu automatisieren, um die Anwendung von KI-Chatbots ohne Probleme auf weitere Produktgruppen zu übertragen. Jetzt - mit den neuen Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz - will Lehner die Bedeutung von AI für das Unternehmen überdenken und neuerlich die Probe aufs Exempel machen:

Ist die Replizierbarkeit von AI womöglich um einiges wirtschaftlicher darstellbar?

Philipp Lehner, CEO Alpla
"Nur zweimal lag ChatGPT marginal bis grundsätzlich daneben." Philipp Lehner, CEO Alpla - © Alpla

Wird AI zur großen Gewinnmaschine?

Es sind Fragen wie diese, die Unternehmer beschäftigen. Rasend schnell, wie auf Speed, erwischte Microsofts OpenAI Chatbot-Technologie ChatGPT Beobachter auf dem falschen Fuß: Die jüngste AI aus dem Repertoire der Transformer-Methodiken schaffte etwas ungeheuerliches: Sie fusionierte die bislang nur getrennt aufretenden AI-Felder Sprache, Bild und Text. "Das Epizentrum ist interessanterweise wieder San Francisco", sagt der Netzwerkforscher und FASresearch-Gründer Harald Katzmair. Dort habe sich in den letzten Wochen eine unglaubliche Szene herausgebildet. Katzmair spricht von "einer Bonanza rund um dieses neue Technologieamalgam".

Die ihre Ausläufer auch in Europa findet - und auch hierzulande die Protagonisten der klassischen Produktionsindustrien herausfordert. In einer Zeit, in der AI Identitäten durcheinanderwirbelt und womöglich die letzten Vertrauensbildungen des Geschäftsalltags erschüttert, müssen sie Sandboxes errichten, mit AI experimentieren und neue Engineering-Skills aufbauen. Wenn sich viele noch fragen: Artificial Intelligence (AI) - was ist das?
Die gute Nachricht aus der österreichischen Wirtschaft: Viele Unternehmen stellen sich dem neuen Wettlauf, entweder, um die Gewinnmaschine AI anzuwerfen, Prozesse abzusichern oder künstlich zu optimieren. Schon mittendrein im Paradigmenwechsel, schrauben sie an performanten KI-Systemen für ein besseres morgen. Die Industrial-AI-Vordenker der Industrie im Porträt.

Harald Katzmair, Gründer und Geschäftsführer FASresearch
"Eine Bonanza rund um das neue Technologieamalgam". Harald Katzmair, Gründer und Geschäftsführer FASresearch - © Matthias Heschl

Der Grenzgänger: Alois Wiesinger, Fill

Den Schritt in die Rechnerwolke hat der Sondermaschinenbauer vollzogen. Jetzt geht er in einer Taskforce neuen AI-Algorithmen auf den Grund.

Eine Technologie, die in Riesentempo heranrauscht - was kann das für einen Mittelständler bedeuten? Dieser Frage geht der Gurtener Sondermaschinenbauer Fill in einer neu formierten, fünfköpfigen AI-Taskforce auf den Grund. In den nächsten Jahren soll die Gurtener Produktion stärker automatisiert werden, autonom fahrende Fahrzeuge auffahren, insgesamt mehr Maschine-zu-Maschine-Kommunikation stattfinden. Die KI-optimierten Terminpläne in den ineinander greifenden Intralogistik- und Fertigungsschritten werden "die Projekte beschleunigen", ist CTO Alois Wiesinger überzeugt. Und Wiesinger glaubt, dass Chat-Funktionalitäten in der Instandhaltung und Maschinenbedienung ihre Chance kriegen werden.

Ausschreibungen im AI-Check

Kundenseitig hat Fill den Schritt in die Rechnerwolke - ganz wie Autobauer, die hunderte ihrer Fabriken vernetzen - vollzogen. Optional sind die CNC-Maschinen (SYNCROMILL) an die Fill-Cloud angebunden, ein KI-Feature, dass das "Warmfahren" der Maschine optimiert, ist zuschaltbar. Zu einem Paradigmenwechsel könnten, hofft Wiesinger, textbasierte Analysen durch ChatGPT oder andere Transformer-Methoden bei Ausschreibungen führen. So ließen sich Angebote, AGBs oder Vertragswerke auf kritische - und womöglich widersprüchliche - Spezifikationen "durchforsten", sagt er.

Vor Einsatz einer AI seien Unternehmen der Automobil- und Zulieferindustrie jedoch in der Pflicht, eine TISAX-Zertifizierung - sie hat die globale Informationssicherheit im Fokus und ist Folge der vermehrten Cloud-Anwender der Branche - zu ergattern. Fill ist in der Vorbereitung darauf, ist in Gurten zu hören.

Selber programmieren?

Geht es nach Amazon oder Microsoft, sollen AI-Funktionlitäten künftig in den AI Cloud-Produkten integriert werden. Die Frage, ob die Innviertler künftig solche Produkte zukaufen oder selbst in die OpenAI ChatGPT-Programmierung einsteigen, will CTO Wiesinger in der neu formierten Expertengruppe klären. Aktuell sei er "kein Fan" davon, die Software und andere OpenAI Chatbots blind zu nutzen. Denn persönliche Daten hochzuladen, könnte auch bedeuten, dass Mitbewerber diese vielleicht einsehen könnten. Daher bleibt die Frage nach der AI Data Processing und der Datensicherheit im Netz offen.

Wiesinger selbst hat natürlich auch schon mit der Plattform experimentiert. ChatGPT die Frage zu stellen, wie ein IT-Organigramm eines modernen Maschinenbauunternehmens auszusehen habe, juckte Wiesinger. Das Ergebnis überraschte ihn. Zu über 90% deckte sich das Elaborat der AI mit seinen Vorstellungen.

Alois Wiesinger, CTO, Fill
"Angebote ließen sich auf widersprüchliche Spezifikationen durchforsten." Alois Wiesinger, CTO, Fill - © Antje Wolm

Der Tempomacher: Wolfgang Litzlbauer, Umdasch

Der Bauzulieferer lädt sein Geschäftsmodell digital auf. Mit AI will man Grenzen durchstoßen.

"Die Vertreter meiner Generation werden noch so manche Disruption erleben", macht sich Wolfgang Litzlbauer nichts vor. ChatGPT habe dieses Gefühl verstärkt. "Es brachte eine zusätzliche Sensibilisierung für Dinge, die bisher eigentlich unvorstellbar waren", sagt der Vorsitzende der Umdasch Group. Vieles von dem Neuen treibt der Schalungs- Gerüste- und Ladenbauexperte an vorderster Front voran: Das klassische Stammgeschäft wird digital aufgeladen, bis hin zu einer Präsenz im Metaversum, wo man auf seinem eigenen Grund und Boden, im „Decentraland“, nicht bloß residiert, sondern neue Geschäftsmodelle rund um virtuelle Bauwerke ergründet. Zugleich werden Technologien wie der Betondruck oder Fertigteilfabriken ergründet. Um ein Viertel, überschlägt Litzlbauer, sind Bestandsimmobilien weniger wert, wenn ihre Daten nicht durchgehend erfasst sind – dazu zählt etwa die digitale Abbildung von Energieeinsatz und -bedarf. Und dann gibt es die AI. Diese sei der sichere Schlüssel dafür, "mehr Effizienz und Produktivität am Bau zu realisieren", sagt der Manager.

Partner für gesamten Bauzyklus

Turbo für Litzlbauers Vision: Das Unternehmen will sich mit seinen Divisionen als Kompetenzpartner für den gesamten Bauzyklus positionieren. Dazu gehört die Technologieführerschaft im Bauen mit Beton. So optimiert eine 3D-Bausoftware mit AI die Baufortschrittserkennung. Sie detektiert Objekte und Personen auf der Baustelle und entlarvt Schalungen in unterschiedlichen Arbeitsstadien. Bauleiter und Polier erhalten die Information ortsunabhängig - und nahezu in Echtzeit - direkt in das 3D-BIM-Modell gespielt.

Technologische Barrieren werden in Hinkunft mit atemberaubendem Tempo durchbrochen, ist Litzlbauer mit Blick auf AI überzeugt. Dies müsse im Einklang mit den gesellschaftlichen Systemen passieren. Denn man werde es sich in den disruptiven Wellen "als Unternehmen nicht leisten können, mit alten Technologien anzutreten, um die Menschen vor dem Neuen zu beschützen", sagt Litzlbauer.

Wolfgang Litzlbauer CEO Umdasch
"Wir können nicht mit alter Technologie antreten, um vor dem Neuen zu bewahren." Wolfgang Litzlbauer, CEO Umdasch - © Umdasch

Der Neudenker: Gottfried Egger, AT&S

Selbst Simulationen fährt der Leiterplattenhersteller mittlerweile AI-gestützt. Der Entwicklung von Algorithmen nähert sich das Unternehmen spielerisch.

Wenn ihn wieder mal die Kollegen aus anderen Kontinenten anchatten und sich alles um AI und ChatGPT dreht, dann tritt Gottfried Egger nicht auf die Euphoriebremse. Der Leiter der Corporate IT bei AT&S will kein Spielverderber sein, das ist auch fachlich gut begründet: Immerhin sind schon einige der Prozesse in der Leiterplatten- und Substratproduktion AI gestützt.

So optimiert in einigen Fabriken ein Algorithmus auf Basis Boolescher Algebra die Reihenfolge der Einsteuerung in die Produktionslinien. Auch Simulationen fahren beim Leiterplattenhersteller bereits KI-gestützt. Und Egger weiß: Die kommenden Jahre werden noch einiges mehr an Veränderung durch AI-Anwendungen bringen. So dürften Fertigungsschritte teilweise oder komplett über künstliche Intelligenz gesteuert und optimiert werden. Und selbstlernende Systeme auf Basis neuronaler Netze werden neue Architekturen entwickeln. Diese durch künstliche neuronale Netze trainierten Systeme könnten für das Geschäftsmodell des Technologieunternehmens aus Leoben ein Gamechanger sein und dieses "weiterentwickeln", so Egger.

AI-optimierte Entwicklung

Der wiederholbare Prozessschritt als solcher dürfte dann für die Steirer "nicht mehr länger ein Alleinstellungsmerkmal bleiben", glaubt Egger. Eher wird dieser Grundvoraussetzung für AI-optimierte Entwicklungen sein. Die sich schon am Horizont abzeichnen. Kleiner und leistungsfähiger, wird der Thermoregulierung von Substraten immer entscheidendere Bedeutung zufallen. Produktionsübergreifend wird deshalb schon heute auf die AI Daten Prozessing gesetzt. Der AI-Entwicklung nähere man sich "spielerisch", sagt Egger. Und ohne die Augen vor Pionierleistungen zu verschließen. Denn auch in der Halbleiterei gebe es Patente, die richtungsweisend seien und in eigene Überlegungen einbezogen werden könnten. "Es muss nicht alles neu erfunden werden", sagt Egger.

Gottfried Egger AT&S
"Auch bei AI gilt: Es muss nicht alles neu erfunden werden." Gottfried Egger, Vice President Corporate Information Technology, AT&S - © AT&S

Der Enabler: Michael Wittmann, Wittmann Kunststoffgeräte

Der Spritzgießmaschinenbauer sieht AI als Effizienzboaster. Und erprobt die Technologie in Showcases.

Auch Michael Wittmann machte die Probe aufs Exempel: Von ChatGTP ließ sich der Geschäftsführende Gesellschafter des Kunststoffspritzgießmaschinenbauers Wittmann-Battenfeld eine Darstellung der Spritzgießindustrie erarbeiten. Fazit: Es wurden dem Manager keine Märchen aufgetischt. "Die Struktur der Branche samt ihrer Player wurden von der AI realistisch eingefangen", sagt Wittmann. Auch sonst ist sein Interesse an den neuen Möglichkeiten von AI erwacht: Wenn Maschinen künftig noch mehr Maschinencodes schreiben - 60 Prozent aller Programmieraufgaben sollen bereits KI-generiert sein - dann freut das auch einen Maschinenbauer, der seine eigene Steuerung samt Oberfläche im Portfolio hat. "Das wäre revolutionär", sagt Wittmann. Der die Herausforderung nicht ausblendet, dass die Echtzeitprogramme der Maschinensteuerung, auf Basis von C++ erstellt, um vieles kritischer als Webanwendungen wie Phython seien.

Neue Zeitrechnung

AI sieht er durchaus als Anbruch einer neuen Zeit, der man sich nicht verschließen wird können. "In einem Hochlohnland wie unserem nimmt man jeden Effizienzboaster, den man kriegen kann, dankbar an", sagt Wittmann. Wo also sieht er die herausragenden Anwendungsfelder für AI?

In einem Showcase nutzt der Maschinenbauer schon heute ein Sprachmodul, das eine Datenbrille ansteuert. 1.500 typische Sätze und Kommandos wie "Maschine starte" oder "Auswerfer nach hinten" können Maschinenbediener der Brille zurufen - mit dem Ergebnis, einen Spritzgießprozess, der alles andere als trivial ist, effizienter zu gestalten. Heute noch nicht serienreif, weckt die Anwendung große Hoffnungen. "Ein Produktionsleiter könnte durch die Halle schreiten und schon aus einiger Entfernung Statuschecks durchführen", so Wittmann. Chancen sieht der CEO auch in der Disposition, wo eine AI "wohl sehr viel fundiertere Vorschläge auf Basis einer Mustererkennung von historischen Bestellverhalten durchführen kann", glaubt Wittmann.

Ein weiterer potenzieller Einsatzort von AI: Die Maschinenabnahme. Beim erstmaligen Anfahren der Werkzeuge - wenn sich entscheidet, ob die Form vollständig ausgespritzt oder womöglich überspritzt ist - könnte die KI-Chatbots aus den gesammelten Daten wie Drehmomente, Temperaturen oder Drücke die Maschine schneller ans Optimum führen.

Wittmann Michael Geschäftsführender Gesellschafter Wittmann Kunststoffgeräte
"In einem Hochlohnland nimmt man jeden Effizienzboaster dankbar an." Michael Wittmann, Geschäftsführender Gesellschafter Wittmann Kunststoffgeräte - © Sophia Hilmar ,MA s.hilmar@gmx.at

Der Überzeugte: Martin Schwarz, CSO Keba

Der Linzer Elektronikfertiger versteht AI durchaus als Missing link in der Automatisierungstechnik. Ein Schlüssel liegt in der Objekterkennung.

Als Keba vergangenen März in Seoul auf der "Automation World" einem auserlesenen Kreis in einem Showcase eine Automatisierungseinheit mit Spracherkennung vorstellte, war die Überraschung groß: Selbst in der stark frequentierten Messehalle ist es den Linzern gelungen, die Umgebungsgeräusche wegzufiltern. "Die Anwendung verfehlte nicht ihre Wirkung", erzählt Keba-CSO Martin Schwarz. Welcher KI-Chatbot nun der Demoanwendung zugrunde gelegen ist, will er lieber nicht verraten. Dass die Oberösterreicher AI mit einigem Tempo vorantreiben, ist jedoch kein Geheimnis. Schon einige Innovationen hat das hauseigene KI-Kompetenzzentrum der Linzer verlassen. Zu Jahresbeginn schnürten die Oberösterreicher gar ein Entwicklerpaket. Dieses koppelt ein AI-Modul mit einer offenen Steuerung für eine Vielzahl von Anwendungen, etwa die Objekterkennung in der Robotik. Keine Frage: Keba will AI zu den Anwendern im Maschinenbau oder der Logistik bringen.

Fehlendes Glied?

Ist AI also das Missing link für die klassische Automatisierungstechnik? "Wer AI nicht heute in den Produktbaukasten aufnimmt oder erste Anwendungen identifiziert, dem werden in Hinkunft Grenzen aufgezeigt", glaubt Schwarz. Den Vormarsch von AI sieht er demnach nicht als "harten Bruch bestehender Produktionsphilosophien". Schon eher als schrittweise vollzogenene Stärkung "der Wettberwerbsfähigkeit von Unternehmen". Den Vormarsch von Google und & Co in die Industriedomänen erachtet er nicht als grundlegend neu - geschweige denn als Drohkulisse. Auch deshalb, weil AI Processing von Daten in der Regel lokal erfolgt. Zudem verfügt Keba über - unbezahlbares - Branchenwissen. "Da reicht uns keiner so schnell das Wasser", sagt Schwarz.

Schwarz Martin CSO Keba
"AI gehört in den Produktbaukasten." Martin Schwarz, CSO Keba - © Keba

Der Euphorische: Michael May, Siemens

Der Industrieelektronikhersteller matcht sich im Patenranking mit der Google-Mutter Alphabet. Und will bei AI weiter an Terrain zulegen.

Seit mehr als 30 Jahren eine AI-Abteilung, hunderte AI-Vorentwickler allein in München, dazu die Gewissheit, im Patentranking die Nummer elf weltweit zu sein, nur einen Rang hinter der der Google-Mutter Alphabet: "Wir haben nicht das Gefühl, dass Big-Tech-Firmen uns vor sich hertreiben", sagt Michael May, der die AI- und Datenanalyse-Forschung des Elektronikriesen Siemens leitet. Und trotzdem: Es sind schon besondere Zeiten für einen Technologiekonzern, der seine Geschäftsmodelle aus der alten, freilich digitalen Ära in eine neue Zeitrechnung überführen muss. "Eine spannende Zeit", sagt May. In der es ein Fehler wäre, an "Tempo zu verlieren", sagt May. Denn neben dem "Zusammenwachsen von Sinnesmodalitäten" eröffne ChatGPT allein schon durch sein Sprachmodul zahllose Möglichkeiten. So ließe sich eine Zukunft erdenken, in der Werker sich "mit dem Fließband unterhalten", sagt May. Vorausgesetzt, der AI könnte durch Anreicherung von Daten - also durch Zuführung von Industriewissen - deren Drang, "Fakten zu erfinden" ausgetrieben werden.

AI wird Commodity

"Es stimmt, dass Microsoft und OpenAI mit ChatGPT sehr schnell und überraschend auf den Markt gestoßen sind", sagt Siemens-Österreich-AI Forscher Daniel Schall. Doch geht er - wie sein Chef May - davon aus, dass aus dem AI-Markt für Sprachmodelle ein Commodity-Markt wird. May etwa rechnet mit Chancen in der - wie er sagt - "Domänenadaption". Er versteht darunter die Anpassung der Modelle an spezifische industrielle Aufgabenstellungen.

Zudem würden kleinere, aber gut adaptierte Transformer-basierte Sprachmodelle wie BERT und Nachfolger - erstere nutzt Siemens schon produktiv - dort ihren Zweck erfüllen, wo es "statt Riesendialogen" nur kontextrelevante Antworten braucht wie "etwa im Qualitätsmonitoring", sagt May.

Michael May, Head of Company Core Technology Data Analytics & AI, Siemens
"ChatGPT weist in eine Zukunft, in der Arbeiter mit Fließbändern sprechen." Michael May, Head of Company Core Technology Data Analytics & AI, Siemens - © Siemens

Der Skalierer: Franz Weghofer, Magna Steyr

Der Fahrzeugbauer nutzt schon heute eine AI für die Optimierung von OEE-Werten und Durchlaufzeiten. Und hofft auf Realisierung eines offenen Datenökosystems.

"Anything that is a process can and will be run by ai". Der provokative Ausspruch des deutschen KI-Gurus Chris Boos vor ein paar Jahren ist Franz Weghofer in Erinnerung geblieben. Schon damals hielt Weghofer, ein, wie er selbst sagt, "Fan von OpenAI der ersten Stunde", diese These für durchaus möglich. Blickt der Technologiescout und Factory of the Future-Experte des Automobil-Zulieferers Magna in das Grazer Gesamtfahrzeugwerk, sieht Weghofer die AI auf dem Vormarsch: Klassische Assistenzfunktionen übernehmen schon Maschinen. Mit Transformer-Modellen wie ChatGTP könnte die Sprache zur Interaktion noch schneller den Weg in die Fertigung finden. Heute erhalten Mitarbeiter_innen durch AI Entscheidungshilfen. Und auch als Teil der Prozessautomatisierung fungiert AI schon. Circa 1000 Roboter sind in den Karosseriebauten im Einsatz. Viele Daten fallen an - von OEE-Werten bis Durchlaufzeiten. Die AI ermittelt dabei heute Abweichungen vom Plansoll - "als zusätzliche Logik korreliert sie die Informationen mit weiteren Datenquellen, "etwa dem Planungssystem", schildert Weghofer. Mitarbeiter_innen erhalten die Ergebnisse "device-agnostisch" auf den Rechner oder das Smartphone gespielt.

Ausschleusen gehört Vergangenheit an

Auch in der Karosserievermessung - hier werken vier Roboter im Takt - werden mittels AI aus Multisensordaten Muster erkannt. Früher mussten die maßgebenden Transportvorrichtungen für die Karosserie aus dem Produktionsprozess ausgeschleust und einzeln vermessen werden. Heute nutzt Magna die 100-Prozent-Messung direkt an der Linie und ermittelt durch AI mögliche Abweichungen frühzeitig. "Das bringt eine nicht unerhebliche Zeit- und Kostenersparnis", sagt Weghofer.

Tatsächlich denken die Steirer_innen - wie ihre Kollegen und Kolleginnen aus 343 weiteren Produktionswerken - radikal in Business Cases. AI ist da keine Ausnahme. Wo kein Business Case, da auch kein Use Case. Eine global gültige Referenzarchitektur regelt, was IT und OT abzubilden haben. Orchestriert von einer Stabstelle in den Staaten werden Technologien auf globale Skalierbarkeit abgeklopft. "Wir schaffen Module, die im Konzern beliebig wieder einsetzbar sind ", sagt Weghofer. Ein kollaboratives, offenes Datenökosystem wie z.B. Catena-X, dass auch Lieferanten und Sublieferanten entlang des Wertschöpfungsnetzwerkes anbindet, kann AI-Technologien demnach einen zusätzlichen Schub geben, hofft Weghofer.

Wird ChatGPT & Co also auch in der Industrie in den Rang einer "God-Software" erhoben werden? Weghofer sieht die (technologische) Singularität noch in weiter Ferne. AI schaffe jedoch zusätzliche Möglichkeiten, Wissen und Erfahrungen von Mitarbeiter_innen auf neue Weise zu erfassen und in einem fortlaufenden Lernprozess zu verarbeiten, um daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten", sagt er.

Franz Weghofer, Lead Smart Factory & Strategic Industry 4.0, Magna Steyr über OpenAI
"Ich bin Fan der ersten Stunde." Franz Weghofer, Lead Smart Factory & Strategic Industry 4.0, Magna Steyr über OpenAI - © Magna Steyr

Der Überlegte: Harald Langeder, Fronius

Der Solar- und Schweißtechnikhersteller setzt bereits auf AI in der Wechserichterfertigung. Auch an Sprachmodulen schraubt das Unternehmen.

Big-tech-Unternehmen wie Amazon oder Microsoft, die sich entlang der betrieblichen Wertschöpfungsketten einnisten: Dieser Umstand erfüllt Harald Langeder nicht mit Sorge. Oder, wie er sagt, nicht mit neuer Sorge. Denn schon bisher hätten die Clouddienstleister ein Händchen dafür gehabt, immer wieder aufs neue ihre Monetarisierungsmodelle umzustellen. Verrechneten diese zunächst Datenmengen und später die Zahl der App-Zugriffe, wird man neuerdings für cloudbasierte Geschäftsprozesse zur Kasse gebeten, beobachtet Langeder. Auch deshalb ist der Drang, den "für die breite Masse sehr klug aufgebauten" AI-Dienst ChatGPT überstürzt in der Organisation zu nutzen, gebremst. Prozesse und Produkte sind bei den Pettenbachern jedoch schon AI-gestützt. So ist in der Wechselrichterfertigung just an jener Stelle, wo das Leistungsteil mit dem Gehäuse verheiratet wird, eine optische - KI-gestützte - Qualitätskontrolle am Werk. Ein System, das nicht auszutricksen ist? "Ihre Trefferquote ist hoch", sagt der Fronius-Manager.

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Ausregelung von Energieflüssen

Intelligenz bringe man auch durch AI-basierte Ausregelung von Energieflüssen in den Wechselrichtern zu den Kunden. Auch bei Roboterschweißanlagen gewinnt AI zunehmend an Bedeutung und ist mehr als bloß ein Gimmick. Andere Ausprägungen von AI sieht Langeder skeptischer. So sind Sprachmodulen - Fronius erprobte mit Pro2Future den Einsatz von Sprachassistenten - in der Produktion aufgrund der Fehleranfälligkeit beim Einsatz von Fachtermini Grenzen gesetzt. Und die Regelung eines Lichtbogens beim Schweißen? Ein komplexer Prozess, "den wir mit konventionellen Methoden gut zu kontrollieren gelernt haben", so Langeder. In Zukunft wolle man dieses komplexe System mit AI-Unterstützung "noch besser beherrschbar machen“, sagt Langeder.

Harald Langeder, CTO Fronius
"Die Trefferquote ist hoch." Harald Langeder, CTO Fronius - © Andreas Balon

Der Rationale: Manuel Krammer, Flex

Ersten Tests mit ChatGPT bescheinigt der Elektronikfertiger große Potenziale. Etwa im Identifizieren von Elektronikbauteilesubstituten.

Selbst die klassische Kärntner Mundart zwingt ChatGPT nicht in die Knie. Und so, erzählt Manuel Krammer lachend, habe man die Transformer-Methodik bei Flex in Althofen testweise - die Freigabe der Nutzung der AI im Unternehmen steht noch aus - bereits in unterschiedlichen Bereichen ausprobiert. Etwa - nicht überraschend - dem Ghostwriting. Oder in kleineren Softwareprojekten, in denen, wie man schon sehe, die AI eine "initiale Arbeitserleichterung" bringe. Aber auch am Ende des Produktlebenszyklus - dort, wo man vielleicht nach Eletronikbauteilesubstituten suche, könne die AI unterstützen. "Nach Eingabe der Spezifikationen identifizierte die AI in einem Testlauf erfolgreich eine Nachfolgetechnologie", sagt Krammer.

Optische Prüfung

Er ist davon überzeugt, dass sich die AI-Technologien in den kommenden fünf Jahren radikal weiterentwicklen werden. Schon heute setzen die Kärntner in einem Nischengeschäft - dem Reparaturprozess von produzierten Elektronikkomponenten - auf AI-gestützte Verfahren. Diese vollziehen eine optische Prüfung unter Berücksichtigung historischer Daten. Krammer glaubt daran, dass die foranschreitende Industrialisierung von AI nicht aufzuhalten sei. "Es wird zu einer Verschmelzung kommen", glaubt er. Über Clouddienste werden AI-Funktionlitäten an den Shopfloor gelangen - und Unternehmen werden noch viel stärker als bisher zu AI-Entwicklern werden. Denn: Ein funktionstüchtiges Modell sei heute nicht mehr nach Monaten oder Jahren fertig gestellt. "Es ist viemehr eine Aufgabe von ein paar Tagen", so der Flex-Experte.

Krammer Manuela Flex, Harald Langeder, CTO Fronius
"Programmiert ist ein AI-Modell heute in Tagen." Manuel Krammer, c - © Flex

Der Investitionsfreudige: Gerald Mayer, Amag

Der Aluminiumkonzern will mit AI das weitere Unternehmenswachstum beschleunigen. Dazu wurde kräftig investiert.

ChatGPT? Findet Gerald Mayer, der die AI auf seinem Rechner aufgespielt hat, durchaus beeindruckend. Der Amag-CEO kann sich vorstellen, dass die Technologie in den kommenden drei Jahren mit Rasanz an Potenzial gewinnt. Selbst setzen die Ranshofener auch schon auf AI. Und zwar "evolutionär" als weitere Stufe der Prozessautomatisierung. Die Prüfung von jährlich schon rund 230.000 Materialproben bei der Herstellung von Walzprodukten vor allem für die Luftfahrt- und Automobilindustrie führt das Unternehmen KI-gestützt durch. Zehn Millionen Euro investierten die Oberösterreicher in die vollautomatisierte Probenfertigung und -prüfung, die am Ende einer bis zu 16-wöchigen Durchlaufzeit des Walzprodukts steht. Praktisch im Alleingang - und 24/7 - planen und optimieren die Prüfanlagen mithilfe von Machine-learning-Modell ihre Prozesse zur Probenherstellung für Zugprüfungen oder Korrosionstests. Für den CEO Gerald Mayer ist das aus mehreren Gründen ein wichtiger Schritt.

100-Prozent-Prüfungen

Einerseits braucht es in der Luftfahrt - der Königsdiziplin - nachweislich eine annähernd 100-prozentige Güte in der Lieferqualität. Anderseits weiß der CEO um die Schwierigkeit, Mitarbeiter für die Schichtarbeit am Wochenende zu motivieren - auch ist der Jobmarkt ziemlich leergefischt. Zugleich haben sich die Oberösterreicher auch für die kommenden Jahre einen stolzen Wachstumkurs verordnet - und dafür die Vorkehrungen in der Prüftechnik getroffen. Auf 500.000 Materialproben pro Jahr ist dieser AI-gestützte Bereich ausgelegt, in dem in wenigen Stunden Datenmengen entstehen, die es mit den Datenmengen der Stiftsbibliothek Admont "aufnehmen können", wie Mayer pointiert sagt.

Amag CEO Gerald Mayer
"Datenmengen, die es mit der Stiftsbibliothek Admont aufnehmen." Gerald Mayer, CEO Amag - © Amag