Erdgas : Chemische Industrie warnt vor Gaslieferstopp: „Komplexität der Lieferketten unterschätzt"

Labor in der Chemieindustrie. Gasverbrauch in der österreichischen Industrie
© Kadmy - stock.adobe.com

Für die Chemische Industrie ist die Gefahr eines russischen Lieferstopps von Erdgas deutlich gestiegen. Der Grund: die reduzierten Erdgaslieferungen nach Deutschland und seit Donnerstag auch nach Österreich.

Es sei nun umso dringlicher, die Vorbereitungen für einen drohenden Gasengpass auszuweiten und aktives Krisenmanagement zu betreiben. Das mahnt der Fachverband der Chemischen Industrie Österreichs (FCIO) nun ein.

Tipp der Redaktion: Wo die Industrie das meiste Gas benötigt

Die energieintensiven Unternehmen der Chemiebranche arbeiten seit Monaten intensiv daran, die Risiken von möglichen Lieferausfällen abzufedern. Was dem FCIO fehlt, sind seitens der Politik konkrete Pläne, wie bei einem Gaslieferstopp innerhalb der Industrie vorgegangen werden soll. Dabei brauche es gerade für den produzierenden Bereich so rasch wie möglich klare Kriterien, nach denen knappe Erdgasressourcen im Krisenfall zugeteilt werden.

Lesen Sie auch hier: Gas-Embargo: Wäre ein Lieferstopp doch nicht so dramatisch?

Zahlreiche EU-Mitgliedstaaten arbeiten bereits an solchen Notfallplänen und auch die Europäische Kommission hat mittlerweile ein Konsultationsverfahren gestartet. Ziel ist die bestmögliche Entscheidungsgrundlage für den Ernstfall.

Die Kriterien, nach denen Gasrationierungen erfolgen sollen, werden bei dem Priorisierungsprozess der Kommission auf Basis umfassender Analysen entwickelt. Neben der sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung von Sektoren oder Unternehmen – Stichwort „kritische Infrastruktur“ – geht es auch um die Relevanz von Versorgungsketten, das Ausmaß der Gasabhängigkeit sowie Reduktions- und Substitutionsmöglichkeiten.

Aus Sicht der chemischen Industrie sollte ein ähnlicher Prozess umgehend auch in Österreich gestartet werden, um auf einen möglichen Gaslieferstopp aus Russland vorbereitet zu sein.

Die Komplexität der Lieferketten wird häufig unterschätzt. Die Strategie „Brot vor Stahl“ ist im Ernstfall viel zu kurz gegriffen.
Hubert Culik, Obmann des FCIO

„Planbarkeit ist für Unternehmen in Krisensituationen überlebenswichtig. Das bisher von der Politik verfolgte Prinzip Hoffnung ist zu wenig", so Hubert Culik, Obmann des FCIO. "Das Konsultationsverfahren der EU-Kommission ist ein guter Ausgangspunkt, um die komplexen Versorgungsprozesse in der Wirtschaft zu abzubilden und fundierte Entscheidungen treffen zu können. Derartige Analysen müssen auch in Österreich rasch durchgeführt werden."

Tipp der Redaktion: Mit diesen Maßnahmen will Chemieindustrie ihre Gasversorgung sichern

Warum ist Erdgas für die chemische Industrie so wichtig? Und warum ist wiederum die Chemieindustrie für weitere industrielle Abläufe so essenziell? Die Antwort liegt in einem gesamtheitlichen Betrachten der Lieferketten. Die chemische Industrie produziert systemrelevante Produkte wie Medikamente, Desinfektionsmittel oder Düngemittel. Zusätzlich ist sie wichtiger Zulieferer für alle anderen Industriesektoren.

96 Prozent der in der EU hergestellten Waren benötigen Vorprodukte aus der Chemie. Von der Landwirtschaft über die Lebensmittel- und Getränkeindustrie, das Gesundheitswesen, die Energiewirtschaft, den Maschinenbau, die Bauwirtschaft, die Textilindustrie, der Umwelttechnik bis zum Verkehrswesen. Auch die Energiewende hängt davon ab, ob Spezialkunststoffe und High-Tech-Beschichtungen für Windräder und Solarpaneele produziert werden können.

„Die Komplexität der Lieferketten wird häufig unterschätzt. Die Strategie „Brot vor Stahl“ ist im Ernstfall viel zu kurz gegriffen", so Culik. "Um der Komplexität von modernen Produktionsstandorten gerecht zu werden, ist ein vertiefter Austausch zwischen Fachleuten aus Politik und Wirtschaft nötig. Die chemische Industrie ist sehr gerne bereit, ihre Expertise einzubringen, damit die Auswirkungen eines Gaslieferstopps auf Österreich möglichst gering halten werden können."

Hubert Culik Obmann FCIO Lackindustrie
Hubert Culik - © Sarah Maria Kölbl