Energieversorgung : Österreichs Industrie unter Druck – mit oder ohne Gas-Boykott

Chemieindustrie und Stahlindustrie in Linz, Oberösterreich

In Oberösterreich fällt mehr als die Hälfte des importierten Erdgas der produzierenden Industrie zu.

- © Adobe/Wolfgang

Vielerorts wird diskutiert, ob ein Boykott russischer Gasimporte die nächste Sanktionsmaßnahme ist, die Europa setzen sollte – die USA haben dies schon getan. Aber: Die USA seien Exporteur von Gas und Öl, was man für Europa insgesamt nicht sagen könne, betonte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwoch in Berlin in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Kanadas Premierminister Justin Trudeau. "Und deshalb sind die Dinge, die getan werden können, auch unterschiedlich."

Unterschiedlich wären auch die Auswirkungen eines Gasausfalls für Haushalte und die Industrie in Österreich. Denn während Menschen sich dickere Pullover anziehen können – so sagte der frühere deutsche Bundespräsident Joachim Gauck bezüglich Boykott: "Wir können auch einmal frieren für die Freiheit" –, hätte die Industrie großflächig nur eine Möglichkeit: Stillstand.

In Österreich werden derzeit rund 40 Prozent des Erdgases von der Industrie benötigt. In der Produktion etwa von Zement, Papier, Stahl, Glas oder auch Kunstdünger ist es derzeit auch mehr oder weniger alternativlos. Gleichzeitig ist Österreich im internationalen Vergleich besonders stark von Gas-Importen im Allgemeinen und von russischen im Besonderen abhängig.

Lesen Sie hier mehr über die Menge an Gas, die Österreich für Milliardenbeträge aus den GUS bezieht!

Im Bundesländervergleich wird ersichtlich, wie unterschiedlich intensiv Gas für die Industrie benötigt wird. So beziehen Wien und Oberösterreich am meisten Erdgas. In der Bundeshauptstadt entfällt davon mehr als die Hälfte davon für Umwandlung, etwa in Strom. Nur ein winziger Bruchteil wird für den produzierenden Bereich benötigt. In Oberösterreich hingegen braucht der produzierende Bereich mit über 36.000 Terajoule mehr als die Hälfte des Erdgasbezugs.

Der nach der Papierindustrie am energieintensivste Zweig ist die Chemieindustrie. Die beiden Sektoren zusammen verbrauche mehr als ein Zehntel des gesamten österreichischen Gasverbrauchs von rund 90 Terawattstunden jährlich.

Erdgas ist in der Chemie nicht nur ein wichtiger Energieträger, sondern auch Rohstoff. Es wird für eine Vielzahl von Materialien und Stoffen benötigt, die man für die Herstellung von lebenswichtigen Produkten wie Medikamente oder Düngemittel braucht. Ein Lieferstopp russischen Erdgases wegen der Krise in der Ukraine hätte daher drastische Konsequenzen für österreichische Chemieunternehmen.

Auch Industriellenvereinigungs-Präsident Georg Knill hält die "Idee", freiwillig auf russisches Öl und Gas zu verzichten, für "sehr gefährlich" - auch wenn manche Länder mit geringerer Abhängigkeit anders argumentieren würden. Zu glauben, die Menge an russischem Gas, von dem Österreich zu 80 Prozent abhängig ist, "kurzfristig ersetzen" zu können, sei "völlig utopisch", sagte der IV-Präsident im Interview mit der "Presse" (Freitag).

"Wir können die Wirtschaft ohne Gas nicht aufrechterhalten. Wir können nicht so schnell aus dieser Abhängigkeit aussteigen", warnte Knill. 40 Prozent des Erdgases in Österreich brauche der produzierende Sektor, 30 Prozent würden in die Energieversorgung gehen - vor allem in die Stabilisierung des Stromnetzes. Bei den Haushalten lande nur ein Fünftel.

Wenn Österreich seine Unabhängigkeit stärken wolle, müssten selbstverständlich auch der Green Deal und die Taxonomie neu bewertet werden, meinte der IV-Präsident. "Wir werden kurzfristig vielleicht auf Kohle ausweichen müssen - so schlimm es für das Klima ist." An der Zielsetzung, bis 2050 CO2-neutral zu werden, "sollten wir festhalten. Aber es kann sein, dass wir kurzfristig Umwege gehen müssen."

Heute sei Gas der Energieträger der Industrie, morgen werde es Wasserstoff sein. Die Strategien dazu, die Allianzen Europas und Österreichs, um hier die Versorgung zu sichern, würden aber fehlen, gab Knill zu verstehen.

Lesen Sie hier mehr zu Auswirkungen auf die chemische Industrie und Reaktionen aus der Branche!

Preise – auch ohne Boykott ein Problem

Doch schon ohne einen tatsächlichen Gasstopp spürt die Wirtschaft die Situation. Der Preisschock am Energiemarkt wirkt sich empfindlichst auf die Produktionskosten aus. Die Papierfabrik Norske Skog in der Steiermark kann sich den Betrieb derzeit schon nicht mehr leisten.

Die Industriellenvereinigung (IV) drängt auf rasche Hilfe, um die "überschießenden Energiepreise" abzufedern. Die Strompreiskompensation müsse schnell erfolgen. "Wenn die Politik nicht gegensteuert, werden wir unsere Industrie in der heutigen Form nicht aufrechterhalten können", sprach IV-Präsident Georg Knill eine Warnung aus. Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer drängte auf eine Kombination aus Mineralölsteuer und Mehrwertsteuer zur Entlastung sowie auf die noch offene Härtefall-Regelung für jene Unternehmen, die von der CO2-Bepreisung stark betroffen sein werden.

Für die betroffenen Unternehmen in Österreich soll es ab 2023 einen Transformationsfonds geben, um den Ausstieg von fossilen Energieträgern zu schaffen, sagte Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP). Kurzfristig müsse aber auch die energieintensive Industrie von den hohen Öl- und Gaspreisen entlastet werden, so Brunner. Von einer Sondersteuer für Energieunternehmen, die aufgrund der hohen Preise gut verdienen, hält der Finanzminister nichts.

Lesen Sie hier, wie RSI Magnesita, Lafarge und Borealis betroffen sind.

Brunner sagte, das Hilfsinstrument der Kurzarbeit könnte auch in der aktuellen Krise infolge des Ukraine-Kriegs eine Rolle spielen. Andere Hilfen wie der Verlustersatz und der Ausfallsbonus kämen hingegen eher nur in einer Pandemie infrage, wo der Staat in die Erwerbsfreiheit eingreife. Konflikte seien zu einem Teil auch ein betriebswirtschaftliches Risiko. Die geplante Gasbevorratung sei, so Brunner, eine strategische Entscheidung und deshalb auch vom Staat zu finanzieren.

Teurer Stopp

Ein Stopp der Gasimporte würde sich nicht nur auf die Industriebetriebe auswirken, sondern auf die Gesamtwirtschaft. Ökonomen schätzen, dass es Deutschland mehr als 100 Mrd. Euro seiner Wirtschaftsleistung kosten würde, wenn der Gasbezug aus Russland wegfällt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) könne um bis zu 3 Prozent niedriger ausfallen, ergeben die am Montag veröffentlichten Schätzungen des Netzwerkes EconPol Europe auf Basis eines Simulationsmodells.

Doch Österreich ist noch weit mehr auf Gasimporte im Allgemeinen und solche aus Russland im Besonderen angewiesen als Deutschland. Im europäischen Vergleich importieren nur die Niederlande mehr Gas als Österreich. Von den Importen kommen laut Zahlen von Entso-G und Eurostat 80 Prozent aus Russland. Auch hier liegt Österreich im Spitzenfeld der Abhängigkeit. Zum Vergleich: Deutschlands Importe kommen nur zu gut 50 Prozent aus Russland. Ein Boykott würden Länder wie Österreich also viel stärker spüren als andere.

Auch größere wirtschaftliche Einbrüche und Verwerfungen könnten nicht ausgeschlossen werden, da die Stärke des potenziellen Schocks hohe Unsicherheiten mit sich brächten, sagte der Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen, Andreas Peichl, mit Bezug auf Deutschland.

Einige Industriezweige, ebenso wie vor- und nachgelagerte Branchen, könnten noch weitaus stärker betroffen sein, sagte Peichl. Zudem müsse berücksichtigt werden, dass sich weite Teile der Industrie noch nicht von den Auswirkungen der Pandemie erholt hätten.

Boykott von russischem Gas – Ja oder Nein?

Ein Nein zu einem Importstopp bezeichnet etwa der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, "moralisch nicht tragbar". Auch die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, hat eine Einschränkung der russischen Importe von Gas, Öl und Kohle in die EU gefordert. "In diesem Moment der Krise müssen wir uns daran erinnern, dass Energie politisch ist - und es schon immer war. Russland hat das seit Jahren verstanden."

Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen aber hat sich Donnerstagabend skeptisch gegenüber einem Boykott von russischem Gas geäußert. Es wäre "ganz schlecht, eine Maßnahme zu treffen, von der wir wissen, wir halten sie nicht durch", meinte das Staatsoberhaupt in der "Zeit im Bild 2". Van der Bellen verwies darauf, dass nicht nur Privat-Haushalte sondern auch Industrie und Gewerbe betroffen wären.

Aus Sicht des Bundespräsidenten geht es darum, eine Rezession und einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit abzuwenden. Immerhin meint Van der Bellen, dass es Ziel sein müsse, die Lieferanten insbesondere im Gasbereich, aber auch bei Öl und Kohle zu diversifizieren: "Wie sich jetzt herausstellt, war es nicht klug, sich darauf zu verlassen, dass russisches Gas immer geliefert wird."

Ein Öl- und Gasembargo lehnt auch der Finanzminister ab. Dies würde Österreich und Europa stärker treffen als Russland, weil man zu stark abhängig sei von russischem Gas. Diese Abhängigkeit müsse man als Österreich selbstkritisch hinterfragen. Der Ausstieg der teilstaatlichen OMV aus Russland sei aber eine Entscheidung des Managements.

Auch in Deutschland lehnt die Bundesregierung ein solches Boykott derzeit ab. "Wenn wir einen Importstopp hätten, der morgen diesen Krieg beendet, dann würden wir dies tun", sagte die Grüne Außenministerin Annalena Baerbock am Donnerstagabend.

Wenn man über Importstopps in diesem Bereich rede, müsse aber auch gesagt werden, wie man das umsetzen wolle. Wenn man von heute auf morgen jegliche Energieimporte einstellen würde, "würde das bedeuten, dass wir keinen Strom und keine Wärme in ein paar Wochen mehr haben würden", begründete Baerbock ihre Haltung. "Das ist genau doch die Destabilisierung, die sich der russische Präsident nur wünschen würde."

Baerbock ist dafür, schnellstmöglich alles für Energieeffizienz zu tun und für eine massive Reduzierung fossiler Importe aus Russland zu sorgen.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán erteilte dem Boykott von Öl- und Gasimporten aus Russland ebenfalls eine Absage: "Ich habe klargestellt, wir können dem Beispiel der Vereinigten Staaten nicht folgen", so Orbán. "Dies würde für Ungarn eine nicht tragbare Last bedeuten, deshalb kommt es nicht infrage, dass wir uns diesen Sanktionen anschließen, wir benötigen auch weiterhin das Gas und das Öl, das aus Russland kommt."

Und dann gibt es noch die andere Möglichkeit, nämlich dass Russland als Reaktion auf die Sanktionen den Hahn irgendwann zudreht. "Nichts ist ausgeschlossen", sagte dazu der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Dienstagabend. Er halte ein Energie-Embargo von russischer Seite zwar für nicht vernünftig und deshalb auch nicht für realistisch. Im Kreml regiere aber "offensichtlich nicht mehr die Vernunft". Dort würden vielmehr von "Emotionen geleitete Entscheidungen getroffen". (apa/red)