Industriekongress : "Russland ist nicht völlig isoliert" – Experte Mangott über Konsequenzen für Europa

Politikwissenschaftler Gerhard Mangott spricht beim 23. Industriekongress in Wien.

Gerhard Mangott, Politologe der Universität Innsbruck, über Russland beim 23. Industriekongress.

- © Matthias Heschl

Gerhard Mangott, Professor und Politikwissenschafter an der Universität Innsbruck, gibt am Industriekongress 2022 Einblicke in den Krieg in der Ukraine, erklärt Auswirkungen auf beteiligte – und vermeintlich unbeteiligte – Länder und Regionen, und zeichnet ein Bild dessen, was nach dem Krieg sein wird.

Die Führungselite um Präsident Putin hat es sich zum Ziel gesetzt - entgegen wirtschaftlicher Realitäten - ein Russland in historischen Formen wieder herzustellen. Dabei wird ein Wohlstandsverlust des Landes und der Bevölkerung sowie die ökonomische und politische Isolierung des Staates durch Europa und die USA akzeptiert.

Hat Putin den Westen getäuscht?

Aus heutiger Sicht scheint der Krieg unausweichlich und schon seit langer Zeit vorprogrammiert. Dabei gibt es keinen direkten Weg von Putins einstiger Angelobung im Jahr 2000 zur Annexion der Krim 2014 bis hin zum heutigen Krieg in der Ukraine. "Dieser Krieg ist nicht vom Himmel gefallen", so Gerhard Mangold, Politologe und Russland-Experte der Universität Innsbruck. In der Vergangenheit wurden viele Weichen falsch gestellt – und das nicht nur auf Russlands Seite.

Mangott sieht im Grunde zwei falsche Weichenstellungen der letzten Jahre, die schließlich zum russischen Truppenaufmarsch im Oktober 2021 geführt haben. Einerseits war die Aufkündigung des "Minsker Abkommens" - damit sollte ab 2015 eine Lösung für die Separatistengebiete in der Ukraine gefunden werden - durch den ukrainischen Präsidenten Selenskyj ein Bruch der russisch-ukrainischen Beziehungen. Gleichzeitig stellt sich jedoch die Frage, warum ein souveräner Staat wie die Ukraine über eigenes Territorium mit einem Nachbarstaat verhandeln sollte.

Anderseits missfiel Russland die Nähe der Ukraine zur NATO, wenngleich die Ukraine selbst kein Kandidat für die Mitgliedschaft in der NATO war und lediglich eine formelle Zusammenarbeit mit dem Bündnis existierte. Nachdem der Westen Putins Forderungen nach verbindlichen Garantien für Russlands Sicherheit - schließlich sieht Putin in der NATO eine Bedrohung - nicht einging, brachen die Gespräche ab. Der Krieg begann. Nach den Rückschlägen um die Eroberung der Hauptstadt Kiew gilt nun die Eroberung des gesamten Donbass als russisches Minimalziel.

Wie reagiert der Westen?

Zu den westlichen Reaktionen zählen neben Waffenlieferungen an die Ukraine und Aufklärungs- bzw. Informationsarbeit über strategische Kriegsziele (das fällt unter das kollektive Selbstverteidigungsrecht souveräner Staaten und ist in der UN-Charta geregelt) die zahlreichen Sanktionen gegenüber Russland. Diese haben eigentlich den Sinn, das Verhalten des sanktionierten Staats zu ändern bzw. Staat und Wirtschaft zu schwächen. Das hat bisher nicht funktioniert und wird nach deutlicher Meinung Mangotts auch weiter nicht funktionieren. Andere Experten des Industriekongresses - Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Chinaexpertin beispielsweise - sehen hingegen einen mittel- bis langfristigen Nutzen der Sanktionen, die sich insbesondere in der Verfügbarkeit von Bauteilen und Rohstoffen in der Wirtschaft zeigen werden. Humanitäre Hilfe in der Ukraine ergänzt die Handlungen des Westens. Auch China, ein befreundeter Staat der Ukraine, leistet enorme humanitäre Arbeit in der Ukraine.

Politikwissenschaftler Gerhard Mangott spricht beim 23. Industriekongress in Wien.
Politikwissenschaftler Gerhard Mangott über den Krieg in der Ukraine. - © Matthias Heschl
"Sanktionen werden Putins Ziele nicht ändern"
Gerhard Mangott, Politologe und Russland-Experte.

Konsequenzen für Russland und die Ukraine

Was sind nun die Konsequenzen für Russland? Der Staat ist durch den „politischen Westen“ – die Türkei nicht mitgerechnet – isoliert. Diese Isolation wird wohl bis zur Ende der Ära Putins – und diese könnte noch lang dauern – anhalten. "Putin wird in seiner Amtszeit keinen Fuß mehr auf westlichen Boden setzen", so Gerhard Mangott. Die EU-Sanktionen führten zur ökonomischen Entkoppelung Russlands von Europa, vor allem im Energiesektor.

Das Konzept „Wandel durch Handel“ beziehungsweise der Interdependenz ist diskreditiert - "es wird sich als historischer Irrtum herausstellen", so der Experte. Russlands Abhängigkeit von China und Indien wird wachsen. China selbst könnte als Gewinner aus der Krise herausgehen - sollte es das Land schaffen als Mediator zwischen den Kriegsparteien vermitteln zu können. China fürchtet zudem einen zu starken Eingriff in die Kriegshandlungen, vor Sekundärsanktionen fürchtet sich die politische Führung der Volksrepublik, so Mangott. Europa und die USA sind die größten Handelspartner der Volksrepublik, Sanktionen kann und will sich China nicht leisten.

Die zunehmenden Repressionen in Russland führt dazu, dass immer mehr junge und gut gebildete Menschen das Land aufgrund mangelnder Perspektiven verlassen. Insbesondere die IT-Branche wird massiv an Humankapital verlieren.

Die Grenzen der „Restukraine“, die es einmal geben wird, kennen wir heute noch nicht. Mangott hält es für sehr unwahrscheinlich, dass die Ukraine zu einem Binnenstaat wird, doch die wichtigen Häfen am Schwarzen Meer werden womöglich über Jahre blockiert sein. Der Krieg macht, so auch das Ziel Russlands, die Ukraine ebenfalls ärmer. Das BIP wird 2022 zwischen 35 und 45 Prozent schrumpfen. Große Aufbauhilfen durch den Westen werden nötig sein.

Hans Joachim Schellnhuber, Direktor Emeritus des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, ebenfalls am 23. Industrietag auf der Bühne anwesend, plädiert in diesem Zusammenhang, die Ukraine im Sinn eines Leuchtturm-Projektes nachhaltig und ressourcenschonend wieder aufzubauen - statt Stahl und Beton solle auf nachwachsende Ressourcen wie Holz und Bambus gesetzt werden. Gemeinsam mit anderen Klimaforschern und mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wurde dazu das New European Bauhaus gegründet. Dieses setzt es sich zum Ziel, die Art und Weise zu verändern, wie Gebäude und ganze Quartiere unter der Zielsetzung der Klimaneutralität bis 2040 baukulturell sorgsam errichtet und saniert werden können.

Mangott fürchtet zudem eine Spaltung des Landes in einen reichen, der EU nahestehenden Westen sowie einen armen Osten unter russischer Kontrolle, die in eine Teilung der Ukraine führen könnte.

Russland-Experte Mangott: "Der Krieg ist nicht vom Himmel gefallen."

- © Matthias Heschl

Wer gewinnt diesen Krieg?

Die USA sind der geopolitische und ökonomische Gewinner dieses Kriegs. Sie sind auf die dauerhafte Schwächung Russlands ausgerichtet um weitere Kriege in Zukunft zu verhindern - Georgien 2008, die Krim 2014 und nun die Ukraine 2022. Zudem wird die NATO wohl substanzielle Kampftruppen dauerhaft an der Ostukraine stationieren, außerdem wird sie um Schweden und Finnland erweitert. Dennoch: Europa ist in seiner Sicherheitsarchitektur hochgradig abhängig von den USA.

Die Rüstungsausgaben der NATO-Mitglieder, die hohen Energiepreise in Europa und die sich aufbauende Inflation werden, so der Experte, zu einem Wohlstandsverlust in Europa führen. "Europa ist der Verlierer dieses Kriegs".

Der zweite geopolitische Gewinner ist China, denn Russland bindet derzeit sowohl Aufmerksamkeit als auch Ressourcen des Westens. "Wir dürfen uns nicht täuschen,", macht Mangott klar: "Wir haben Russland isoliert, Russland ist aber nicht völlig isoliert. Denn der Nicht-Westen hat eine durchaus ambivalente Haltung zu Russland" - damit sind große Teile Afrikas, Südamerikas sowie Asiens gemeint.

Auch das hat unmittelbare Auswirkungen auf Europa: ein Gaslieferstopp im Herbst ist laut Mangott nämlich durchaus möglich. Noch im Mai hielt der Experte das für unmöglich (lesen Sie mehr dazu hier). Unterschätzt habe er damals die Fähigkeit Russlands, sein Gas anderswo zu verkaufen – zwar mit Rabatt, doch noch mit ausreichendem Gewinn. Nun hat Russland offenbar neue Absatzmärkte in Asien erschlossen.

Der Experte schließt mit klaren Worten: Der Versuch eines Hochstilisierens dieses Kriegs zu einem Kampf "Demokratie versus Autoritarismus" ist in Wahrheit eine Ideologisierung und etwas ganz Banales: "Nämlich ein Kampf der Großmächte."

Zur Person: Gerhard Mangott

Univ.Prof. Mag. Dr. Gerhard Mangott ist Politikwissenschaftler und Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck mit dem Schwerpunkt Osteuropa und Russland. Er studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Slawistik an der Universität Innsbruck sowie an der Universität Salzburg. Er spezialisierte sich auf den Fachbereich „Vergleichende Regierungslehre und die politischen Systeme des östlichen Europa“. Im Jahr 2001 promovierte er zum Doktor der Philosophie im Fach Politikwissenschaft.

Gerhard Mangott wurde im Jahr 2002 habilitiert und ist seit 1. Oktober 2015 Universitätsprofessor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. Sein Hauptforschungsgebiet ist Internationale Politik und vergleichende Regimelehre.

Zum Event: der 23. Industriekongress

Der Krieg in der Ukraine, Lieferengpässe, das Gespenst der Stagflation und die Fragen nach der geopolitischen Macht prägen nicht nur das aktuelle Zeitgeschehen, sondern bedrohen freien Handel und Globalisierung.

Österreichs Industrie bleibt von diesen drastischen Entwicklungen nicht verschont. Die Verteuerungen von Energie und Rohstoffen, nicht enden wollende Pandemie und eine zunehmende Liquiditätsklemme für KMUs bieten genügend Zündstoff.

Gleichzeitig ermöglicht aber gerade der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehenden Energieproblematiken die einmalige Chance, das Thema der Klimakrise und Nachhaltigkeit zügig für den Industrie-Standort Österreich anzugehen.

Am 23. Juni 2022 fand der 23. Industriekongress im Wiener Hotel The Ritz-Carlton statt - und mit dabei waren hochrangige ExpertInnen aus Forschung und Industrie: Hans Joachim Schellnhuber, Gerhard Mangott, Karin Exner-Wöhrer, Gerald Grohmann, Robert Machtlinger und viele andere Speaker diskutierten über die Fragen unserer Zeit.