Lieferketten : Globalisierung am Ende? Unternehmen entdecken das Konzept der "strategischen Autonomie"
Das Volumen des Welthandels könnte sich nach Einschätzung der Welthandelsorganisation WTO wegen des Krieges in der Ukraine in diesem Jahr halbieren. Der russische Einmarsch habe nicht nur eine humanitäre Krise "immensen Ausmaßes" ausgelöst, sondern auch der Weltwirtschaft einen "schweren Schlag" versetzt, hieß es in einem Montag veröffentlichten Bericht der Organisation. Langfristig bestehe wegen des Konflikts das Risiko, dass die Weltwirtschaft in Blöcke zerfalle.
Die WTO mit Sitz in Genf veröffentlichte ihre erste Analyse der Folgen des Krieges im Vorlauf ihrer jährlichen Welthandelsprognosen, die am Dienstag vorgestellt werden sollen. Die Experten verweisen darauf, dass Europa der größte Importeur von Waren sowohl aus Russland als auch der Ukraine ist. Dementsprechend werde auch Europa wirtschaftlich am stärksten getroffen.
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Besonders die großen Volkswirtschaften könnten sich aus geopolitischen Erwägungen heraus abkoppeln. Und auch wenn sich keine formellen Blöcke im Welthandel bilden, könnten private Akteure ihre Lieferketten entsprechend anpassen. Die Einkommensverluste, die sich aus einer solchen Entwicklung ergeben würden, "wären schwerwiegend", heißt es weiter.
Das Ende der Globalisierung, so wie wir sie kennen?
In einem Punkt sind sich Kritiker und Befürworter der Globalisierung wohl einig: Die Verflechtung von Wirtschaftsströmen hat das Leben nahezu aller Menschen auf der Welt beeinflusst. Doch die Corona-Pandemie und nun der Ukraine-Krieg haben der Globalisierung schwer zugesetzt, als klar wurde, dass zwar Handelsbarrieren ab-, aber auch immer mehr Abhängigkeiten aufgebaut wurden. Die immer komplexeren Lieferketten brachten mehr Effizienz – und mehr Risiko.
Schon während der Pandemie hatten Firmen weltweit mit Lieferengpässen zu kämpfen. Der Ukraine-Krieg verschärft diese Probleme weiter: steigende Energiepreise und fehlende Vorprodukte.
Der Vorstandsvorsitzende der Investmentgesellschaft BlackRock, Larry Fink, fand in einem Brief an Anleger klare Worte: "Die russische Invasion in der Ukraine hat der Globalisierung, wie wir sie in den letzten drei Jahrzehnten erlebt haben, ein Ende bereitet". Schon in der Pandemie seien die Verbindungen zwischen Ländern, Unternehmen und Menschen unter Druck geraten.
Auch der Weltwirtschaftsexperte Gabriel Felbermayr hat die Idee eines weltweiten Marktes schon beerdigt. "Schon seit der Finanzmarktkrise der Jahre 2008 und 2009 steht fest, dass die Hyper-Globalisierung vorbei ist", sagte der frühere Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Nun sei das Ende von 30 "glorreichen Jahren" der Globalisierung gekommen.
"Eine Vielzahl von Verwundbarkeiten" seien sichtbar geworden, sagt der ehemalige Generaldirektor der Welthandelsorganisation, Pascal Lamy. Lieferketten seien immer komplexer geworden und der Welthandel immer verflochtener.
Die EU und die USA haben bereits reagiert: Das Stichwort lautet strategische Autonomie und betrifft beispielsweise die Herstellung von Halbleitern. Sie sind nötig für unzählige Technologieprodukte-sowohl die USA als auch die EU wollen nun eigene Chipproduktionen auf ihrem Gebiet haben.
Die Pandemie habe noch keinen "radikalen Wandel" bei der Verlagerung von Produktionsstätten ausgelöst, sagt Ferdi De Ville vom Ghent Institut für Internationale und Europäische Studien in Belgien. Der Ukraine-Krieg verändere jedoch, "wie Unternehmen über ihre Investitionsentscheidungen und Lieferketten nachdenken".
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Unabhängigeres China
Sanktionen, die noch vor wenigen Monaten als unvorstellbar galten, seien nun realistisch. Ziel sei es nun, wirtschaftliche Abhängigkeiten auf Verbündete zu verlagern. Felbermayr sieht bereits die Weltwirtschaft bereits wieder zerfallen - in einzelne Blöcke des Westens, einen von China dominierten Einflussbereich, das sich zunehmend emanzipierende Indien und ein sich isolierendes Russland.
China, zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, wird die Zukunft der Globalisierung entscheidend beeinflussen. Seitdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump im Jahr 2018 einen offenen Handelskrieg mit der Volksrepublik begann, erhob auch sein Nachfolger Joe Biden "Buy American" zum Prinzip seiner Politik. Die unklare Rolle Chinas im Ukraine-Krieg und ein möglicher Angriff auf Taiwan könnten zu weiteren wirtschaftlichen Verwerfungen führen.
"Noch liegt es nicht im chinesischen Interesse, mit dem Westen in einen Wettbewerb zu treten", sagt der Portfoliomanager der Investmentgesellschaft Edmond de Rothschild, Xiaodong Bao. Der Ukraine-Krieg biete aber eine Chance für China, seine Abhängigkeit vom Dollar zu verringern.
Laut "Wall Street Journal" spricht Peking etwa schon mit Saudi-Arabien, um künftig Öl in chinesischen Yuan anstatt in Dollar zu bezahlen. "China wird sich weiter ein Fundament für die Zukunft aufbauen", sagt Bao. "Die finanzielle Entkopplung gewinnt an Geschwindigkeit". (apa/red)