30 Jahre INDUSTRIEMAGAZIN : Klaus Woltron: Von Blüte, Rückzug und Comeback des Staates

Klaus Woltron schreibt über die Industrie Österreichs.
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Als das INDUSTRIEMAGAZIN 20 Jahre alt wurde, bat man Klaus Woltron, eine "ganz persönliche Rückschau" auf Österreichs Industrie zu schreiben.

Jetzt, zum 30. Geburtstag unseres Magazins, holen wir Woltrons unvergleichlichen Rückblick – in dritter Person – aus dem Archiv. Wie er selbst schrieb: "Alsdann."

Klaus Woltron
© Industriemagazin

Phase 1 - Alles Staat!

1964, Österreich war angeblich eine Insel der Seligen, hatte man als Student der Montanistischen Wissenschaften ein Jahr Praxiszeit zu absolvieren. Man tat dies z. B. im (mittlerweile geschleiften) Ternitzer Stahlwerk. Beginnend als 4. Ofenhelfer, avancierte der Autor, zu seinem nicht geringen Stolz, binnen dreier Monate zum 2. der Mannschaft rund um den grollenden riesigen Tiegel.

Zeitgleich zu diesem weltbewegenden Ereignis fand ein erbitterter Machtkampf zwischen dem Innenminister und Machtmenschen Franz Olah und Vizekanzler Pittermann statt, der tief in die Betriebe hineingetragen wurde und in der „Jausenzeit“ Gegenstand hitziger Debatten zwischen den – im Stahlwerk überwiegend Olah–freundlichen–Genossen wurde. Der Student allerdings hatte damals andere Sorgen: Das Stipendium betrug öS 1.300.- (nicht inflationsbereinigt etwa 100 €), die stattlichen Studiengebühren wurden pünktlich pro Trimester eingehoben, für jede Prüfung hatte man eine schmerzliche Taxe in der Höhe einer 5-Tages-Zigarettenration zu bezahlen. Dennoch war man fröhlich und zuversichtlich.

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Es gab auch düstere Momente: Sechs Jahre später kam der junge Ingenieur, von der Wucht einer Knallgasexplosion an die Wand geworfen, blind durch ungeheure aufgewirbelte Staubmassen und geschockt vom Schreien der verbrannten Menschen, in demselben Stahlwerk durch herabstürzende Trümmer fast zu Tode. Die segensreiche Tätigkeit der Errichtung von Atomkraftwerken stand in den Siebziger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in hohem Ansehen. Man versprach sich davon die endgültige Lösung der leidigen Energiefrage und ein weltweit wachsendes Geschäft.

Alles über die Industrie in Österreich

Die Spuren der österreichischen Ingenieurkunst finden sich in allen deutschen AKWs, in den iranischen Öfen in Busheer und besonders eindrücklich im heutigen Schau-Atomkraftwerk Zwentendorf. Das erste neues Auto, einen Opel Kadett, erwarb man z. B. aus Mitteln einer Prämie, welche für ein Patent, ersonnen beim Zähneputzen, für einen wichtigen Reaktorteil für das - heute in Verschiß befindliche - Kernkraftwerk Krümmel ausbezahlt wurde. Der damalige Handelsminister Staribacher, Happy Pepi genannt, ließ sich mit diesem Riesending ein paarmal publikumswirksam ablichten. Die Beherrschung der Techniken zum Bau von Atomreaktoren, insbesondere deren metallurgischer Teil, wurde eine Zeit lang zu einer wichtigen Sparte der österreichischen Maschinenindustrie – bis mit Three Mile Island und, viel schlimmer, Tschernobyl dann das Ende kam, schon vorher auch für Bruno Kreisky in der Atom-Volkabstimmung 1978.

Die Krise der Stahlindustrie.

In der Zeit des Wiederaufbaues verzeichnete man zum Teil zweistellige Wirtschaftswachstums-Raten. Zu Anfang unbeachtet, begann zu Ende der Sechzigerjahre still und leise die Krise der Stahlindustrie. Das Ende des mit dem Wiederaufbau verbundenen Baubooms, das Finale des Vietnamkriegs, der Niedergang des Bergbaus und die Schiffbaukrise waren die Hauptursachen. Mit den beiden Ölpreisschocks war eine enorme Steigerung der Energiekosten verbunden, die der Industrie zusätzliche Probleme bereitete.

All diese Entwicklungen beutelten auch die österreichische Stahlindustrie, welche damals zu 100 Prozent in Staatsbesitz und dementsprechend politisch dominiert war, gehörig durch. „Hinein in die Weiterverarbeitung und den Anlagenbau“, hieß daher die Devise. Dass dies leicht gesagt, aber schwer getan und mir hohen Risiken verbunden war, zeigt sich bald. Das beginnende Zeitalter der Weltraumfahrt führte zu einem Wettlauf zwischen Amerikanern und Russen. Mit der Non-Proliferation und Waffenembargos nahm man es im damaligen „Mir wer´n kann Richter brauchen“-Österreich nicht so genau. Die Folge: Viele Projekte, welche auf westliche Hoch- oder Militärtechnologie angewiesen waren, liefen über österreichische Firmen.

So kam es, dass sich der Verfasser im zarten Alter von 27 Jahren als Projektleiter einer Weltraumsimulationskammer in Moskau fand, welche unter Zuhilfenahme von High-Tech aus der ganzen Welt, fleißig und von keinen Skrupeln geplagt, auch glücklich fertiggestellt wurde. Die Führung des Konsortiums hatte pikanterweise ein gewisser Erwin Tautner inne, jener zu Anfang bejubelte Manager der Klimatechnik GmbH., der vermittels seiner immer waghalsiger strukturierten Projekte im Mittleren Osten einige Jahre später den Zusammenbruch der ELIN und, in der Folge, der Länderbank verursachte und beim damaligen Finanzminister Franz Vranitzky großen Ingrimm auslöste.

In der Folge lernte man noch etliche zu Anfang gerühmte, später abgestürzte, im Selbstmord endende, ins Ausland geflohene oder auch im Gefängnis gelandete Kollegen und Geschäftspartner kennen – und damit auch, wie man es eher nicht machen soll. Nach mehreren vernichtenden und von Gewerkschaft samt Kanzler Kreisky in den Wind geschlagenen Gutachten setzte sich die normative Kraft des Faktischen durch: Die Stahlindustrie musste mit immer mehr staatlichen Mitteln über Wasser gehalten werden.

Die Erzfeinde VÖEST in Linz und Alpine in der Steiermark wurden zu einer Zwangsehe verkuppelt, ebenfalls die Edelstahltöchter Schoeller Bleckmann und Gebr. Böhler. Die damals üblichen „Sanierungs“-Methoden bestanden hauptsächlich im Zeichnen immer neuer Organisationspläne, Errichtung zahlloser Stabsstellen, neuer Funktionsebenen zur Unterbringung aller Würdenträger und endlosen Diskussionen, wo man hoffnungslos unrentable Produktionen denn doch noch ansiedeln könne. (Ähnlichkeiten mit aktuellen Vorgängen in Noch-immer-Staatbetrieben sind rein zufällig).

Es fand eine ungeheure Blähung statt - aber nicht, wie die Natur es eigentlich verordnet, am Ende des Wertschöpfungskanals, sondern am Kopf, in den Verwaltungsbereichen. Die Folgen blieben nicht aus: Das Desaster wurde immer schlimmer, die Verluste stiegen, der Kampf zwischen den zahllosen Standorten ums Überleben nahm zu. Der schon etwas arrivierte Ingenieur floh vor diesem immer ärger werdenden Graus mit seiner ganzen Familie nach Brasilien und widmete sich dort im Rahmen eines Konsortiums aus Siemens, VOEST, GHH und der Nuclebras dem Wissenstransfer im Kernkraftwerksbau und dem Studium eines faszinierenden fernen Landes.

Der Anfang des Endes der Verstaatlichten.

Flughafen Schwechat, November 1985: Zurückkommend aus Zürich, wird man vom grinsenden Chauffeur erwartet, der triumphierend eine Kronen-Zeitung mit der dicken Schlagzeile „Gesamter VÖEST-Vorstand gefeuert“ in die Höhe hält. (Die VÖEST war damals bei ihren Schwestergesellschaften wegen ihrer mittlerweile geschwundenen Arroganz eher nicht sehr beliebt.)

Diese Überreaktion des damaligen Verstaatlichtenministers Lacina, ausgelöst durch ein missglücktes Spekulationsmanöver der VA-Tochter „Intertrading“ läutete das Ende der Verstaatlichten Industrie ein, deren Umwandlung in ein Konglomerat halb und ganz privatisierter Firmen die Wirtschaftsjournalisten in den nächsten zehn Jahren stark beschäftigen sollte. Pikanterweise war der Lerneffekt für Lacina gering: Als Mitglied des Aufsichtsrates der mittlerweile zwangsaufgelösten Bank Medici fand er sich 2009 im Madoff-Skandal wieder: Ein interessantes Déjà-vu.

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Phase 2 - Rückzug des Staates

Das Hauptverdienst an dieser von schweren Rückschlägen unterbrochenen Erfolgsgeschichte gebührt dem Triumvirat Vranitzky (damals Bundeskanzler), Streicher (Verstaatlichtenminister) und Sekyra, dem zu Anfang sehr erfolgreichen Chef der Industrieholding ÖIAG.

Dem Verfasser, damals erfolgsverwöhnter ehrgeiziger Chef einer der wenigen nicht verlustträchtigen Staatbetriebe, schanzte man den undankbaren Nebenjob zu, ein Konzept für die zahlreichen Maschinen- und Anlagenbaubetriebe der Staatsindustrie zu entwerfen. Was er auch, mit dem Mute der Unwissenheit, in seiner Freizeit und um Gotteslohn getreulich erledigte.

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Die darauffolgenden Erdbeben und Aufmärsche in Linz und sonst wo, die unappetitlichen und winkelzügigen Manöver der Regionalpolitiker und die Gefahr einer Verwässerung des Ganzen durch zahllose faule Kompromisse führten letztendlich dazu, dass sich der Vater des Konzepts dazu entschloss, Ehren und Würden in der Staatsindustrie mit neuen Erfahrungen als Chef der Österreich-Tochter eines weltweit agierenden, aggressiven Multis zu vertauschen. Dennoch blieb ihm der Ruf des „Zerschlagers“ der VÖEST.

Die Konzeption wurde dessen ungeachtet im Großen und Ganzen umgesetzt und führte zur Maschinenbau-Holding, später VA Tech, und ihrem Nebenprodukt, der Entsorgungsholding, heute ASA. Währenddessen wurden die von ersten Erfolgen verwöhnten (und verblendeten) Häuptlinge der ÖIAG von neuen Hiobsbotschaften heimgesucht: Die immer wieder beobachtbare Hybris des Drangs zur Größe (ein dem Wirkstoff Testosteron im Organismus des Managers zu verdankendes, unheilbares Übel) hatte dazu geführt, dass die Tochtergesellschaft AMAG Riesenverluste einfuhr.

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Dieser erneute Schock führte sodann zur schnellen, oft kritisierten, aber letztendlich unumgänglichen und den Staatsbürger von drückenden Lasten befreienden Privatisierung fast aller staatlichen Beteiligungen. Jene, die sich diesem Prozess noch widersetzten (z. B. die Fluggesellschaft AUA) wurden Jahre später vom gleichen Geschick ereilt. Lediglich die ÖBB trotzen, noch gestützt vom immer schlapper werdenden Geldbeutel des Bürgers, der Dynamik eherner wirtschaftlicher Gesetze. Eine neue Blüte, Pleiten und Bankenfusionen.

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Um 1990 - das Geburtsjahr des Industriemagazins - begann eine neue Blüte der österreichischen Industrie, teilweise sprießend aus dem Kompost, den viele nicht mehr lebensfähige Gesellschaften als Humus für Neues hinterlassen hatten. Krachend, aber wie durch ein Wunder ohne Gewalt, brach Ende der Achtzigerjahre der reale Sozialismus zusammen. Hunderte österreichische Firmen nutzten daraufhin die Chance, sich in den aufbruchshungrigen neuen Ländern im Osten zu betätigen.

Insbesondere die Banken traten einen Siegeszug an, der uns in den letzten Jahren der Finanzkrise nicht nur Freude bescherte und dessen Folgekosten nach wie vor ungewiss sind. Von 1965 bis 2005 verfünffachte sich die Anzahl der Autos, reduzierte sich die Anzahl der Greißler fast auf null, wuchs das Welt-BIP auf das Doppelte, während sich, getrieben von einem beispiellosen Boom auf den Finanzmärkten, das Volumen der Kapitalströme verdreißigfachte.

1995 wurde die WTO und damit ein wesentlicher Faktor zur Öffnung der Weltmärkte geschaffen, die Luftfahrt entwickelte sich zum Verkehrsmittel für alle, der EU-Beitritt Österreichs und die Einführung des Euro beendeten die Existenz auf der Insel der Seligen und läuteten eine neue kontinentale Epoche ein. Der Computer und später das Internet eroberte alle Lebensbereiche. Eine beispiellose Welle von Fusionen spülte viele Kreditinstitute in den Orkus – Länderbank, Girozentrale, Zentralsparkasse, Creditanstalt. Erst wurde fusioniert, dann, über Nacht, verkauft und ein eher wenig ruhmvolles Kapitel markiert.

Auch der Konsum ging den Weg alles Irdischen, samt einer Reihe von Gesellschaften des Gewerkschaftsbundes. Andererseits vollzogen sich eindrucksvolle Höhenflüge: Magna, Semperit, Strabag, Red Bull, Plasser & Theurer, Engel, Berndorf und viele andere.

Die Innovation in den Firmen schritt eindrucksvoll voran: VA mit Corex, Plansee mit Pulvermetallurgie, List mit Motorenentwicklung, Schoeller Bleckmann auf dem Gebiet der Ölfeldtechnik et. al. Durch den weitestgehenden Abschluss der Privatisierungen verloren Sozialdemokratie und Gewerkschaften einen Teil ihrer Machtbasis, was das politische Gefüge im Lande bis heute prägt. Die Zahl der Firmenneugründungen nahm von etwa 20.000 per anno im Jahre 1995 jährlich um fünf bis zehn Prozent zu, dies führte zu einer starken Zunahme von Mikrofirmen und Startups.

Auch der Verfasser entschloss sich 1994, einen lange gehegten Lebenstraum zu realisieren und sein eigener Herr zu werden. Was ihm, neben den Erfahrungen in der staatlichen Schwerindustrie und in einem weltweit tätigen Multi auch subtile Einblicke in die Sorgen, Nöte und Freuden eines KMU mit einer Reihe in- und ausländischer Beteiligungen verschafft.

IM Kontext #4

Kontext #4

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Phase 3 – Krise und erneuter Ruf nach dem Staat

Die Folgen irrwitziger Spekulationen, eines Rückzugs des Anstands in Wirtschaft und Politik und einer vertrauensseligen Gewöhnung an einen scheinbar immerwährenden Aufschwung durch zweieinhalb Jahrzehnte stetigen Wohlstands mündeten 2008 in einen weltweiten Katzenjammer. Unterschleif und Fehlverhalten mancher hoher Exponenten erschütterten das Vertrauen der Allgemeinheit in die Säulen der Wirtschaft.

Dies alles, bereits erschöpfend beschrieben, läutet eine neue Epoche ein, von der niemand weiß, wie sie sich entwickeln wird. Zusammen mit der weltweiten Bevölkerungsexplosion, den Folgen des Klimawandels, der Verknappung von Rohstoffen und Energie, stellt sie eine gewaltige Herausforderung an die gesamte Menschheit dar, die zweifellos auch die Wirtschaft revolutionieren wird.

Zum guten Schluss.

Seit dem Beginn dieser Geschichte sind immerhin 45 Jahre [mittlerweile 58 Jahre, Anm.], also zweieinhalb Generationen, ins Land gezogen. Die meisten jüngeren Führungskräfte haben die Zeit bis 1990 als Teenager erlebt, dementsprechend selektiv sind ihre Erinnerungen. So kommt es, dass heutzutage, nachdem der einst erfolgreiche Weg der Privatisierung und Internationalisierung wie alles, was man übertreibt (und das Leben und damit der Mensch übertreiben immer, wenn sie nicht auf schmerzliche Hindernisse treffen) groteske und schädliche Auswüchse zeitigt, das Pendel wiederum in Richtung Vergangenheit auszuschlagen scheint. Man ruft nach dem Staat, nachdem man ihn vor 20 Jahren weitgehend aus der Wirtschaft verjagt hat. Man verdammt jene, die noch vor 15 Jahren als Heilsbringer bejubelt wurden: Den ewigen Wechsel von Hosianna! und Crucifige! gibt´s nicht nur in der Bibel. Mehr als ein müdes Lächeln kann man diesem Ringelspiel allerdings nicht mehr abgewinnen.