Krieg und Sanktionen : Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine: So geht es Russland wirtschaftlich

Stadtzentrum von Moskau in Russland

Hochhaus-Cluster in Moskau: Ein Bild aus wirtschaftlich besseren Zeiten

- © R.M. Nunes (stock.adobe.com)

Vor einem Jahr begann Russland seinen Krieg gegen die Ukraine. Der zunächst erwartete heftige Wirtschaftseinbruch als Folge der westlichen Sanktionen ist bislang ausgeblieben. Dennoch hat das einst boomende Schwellenland mit einer Vielzahl von Problemen zu kämpfen. Hier ein Überblick über die aktuelle Lage der russischen Wirtschaft.

>>> Russland möchte wegen Haushaltsdefizit Industrie zur Kasse bitten.

Wirtschaftswachstum

Im ersten Kriegsjahr 2022 ging das Bruttoinlandsprodukt um 2,2 Prozent zurück. Einige Experten hatten wegen der westlichen Sanktionen mit einem Einbruch von mindestens zehn Prozent gerechnet. Nach Angaben der Zentralbank hat sich die russische Wirtschaft, die seit Jahren mit Sanktionen leben muss, jedoch schnell an die neue Situation angepasst. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert für dieses Jahr ein Mini-Wachstum von 0,3 Prozent, dem 2024 ein Plus von 2,1 Prozent folgen soll.

>>> Russischer Ökonom: Warum die Sanktionen Russland schaden.

Die Ratingagentur Scope prognostiziert, dass die russische Wirtschaft erst Ende des Jahrzehnts wieder das Niveau vor dem Einmarsch in die Ukraine erreichen wird. Zwar habe der Kreml mit Hilfe der Zentralbank die zeitweise hohen Exporteinnahmen genutzt, um die unmittelbaren Folgen des Krieges und der westlichen Sanktionen auf die Binnenwirtschaft abzufedern. "Aber die längerfristigen Aussichten haben sich verschlechtert", sagt Scope-Analyst Levon Kameryan. Die russische Wirtschaft werde daher voraussichtlich bis etwa 2030 brauchen, um wieder das Vorkriegsniveau zu erreichen.

Staatshaushalt

Wegen hoher Rüstungsausgaben und sinkender Einnahmen aus dem Energieexport steuert Russland auch in diesem Jahr auf ein Staatsdefizit zu. Es soll maximal zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, sagt Finanzminister Anton Siluanow. Experten sind da skeptischer: Allein im Januar wurde ein Defizit von fast 25 Milliarden Dollar (rund 23 Milliarden Euro) gemeldet, das zum Teil auf sinkende Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft zurückzuführen ist. Analysten rechnen deshalb für das Gesamtjahr mit einem Haushaltsdefizit von bis zu 5,5 Billionen Rubel (69 Milliarden Euro). Das entspräche 3,8 Prozent des BIP - fast doppelt so viel wie geplant. Russland verkauft bereits Devisen im Wert von 8,9 Milliarden Rubel pro Tag, um das Defizit zu decken. Die Regierung denkt auch über eine einmalige freiwillige" Steuer für Großunternehmen nach, die rund 300 Milliarden Rubel in die Staatskasse spülen könnte.

Inflation

Die Inflationsrate lag im vergangenen Jahr bei durchschnittlich 11,9 Prozent und damit fast dreimal so hoch wie das von der Zentralbank angestrebte Ziel von 4 Prozent. Für dieses Jahr rechnet sie mit einer Inflationsrate von 5 bis 7 Prozent, bevor im kommenden Jahr die Zielmarke von 4 Prozent wieder erreicht werden soll. Mitte Februar lag die Teuerungsrate bei 11,6 Prozent. Die russischen Verbraucher nennen die Inflation regelmäßig als ihre größte Sorge. Die Mehrheit verfügt über keinerlei Ersparnisse, nachdem ein Jahrzehnt der Wirtschaftskrise und steigender Preise den Lebensstandard im ganzen Land nach unten gedrückt hat.

Arbeitslosigkeit

Die offizielle Arbeitslosenquote lag im Dezember bei 3,7 Prozent - ein Rekordtief. Hochrangige Vertreter der Regierung und der Zentralbank haben sich wiederholt besorgt über die Lage auf dem Arbeitsmarkt geäußert, nachdem Präsident Wladimir Putin Ende September eine "Teilmobilmachung" von Männern im überwiegend arbeitsfähigen Alter für den Krieg gegen die Ukraine angeordnet hatte. Hunderttausende Russen sind seitdem aus dem Land geflohen, während rund 300.000 in die Armee eingezogen wurden. Damit beschleunigten sich die negativen demografischen Trends, "insbesondere der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter", so die Ratingagentur Scope.

Auswirkungen auf die Weltwirtschaft

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Weltwirtschaft nach Einschätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) im vergangenen Jahr stark belastet: Die Wirtschaftsleistung dürfte 2022 um "deutlich über" 1,6 Billionen Dollar (1,5 Billionen Euro) niedriger ausfallen, "als es hauptsächlich ohne die russische Invasion in der Ukraine der Fall gewesen wäre", heißt es in einer am Dienstag veröffentlichten Studie. Auch für 2023 wird mit hohen Verlusten gerechnet.

>>> Russische Zentralbankchefin: "Sanktionen sind sehr mächtig".

Der Krieg habe "zusätzliche Produktionsschocks für viele Unternehmen rund um den Globus" verursacht, denn zu den Beeinträchtigungen durch die Pandemie sei die Energiekrise hinzugekommen, teilte das IW mit. Zudem habe es Engpässe etwa bei der Getreideversorgung gegeben, und die Probleme bei der Energie- und Rohstoffversorgung hätten zu "hohen Kostenschocks" in der Produktion geführt.

Dies wiederum habe die Inflation in die Höhe getrieben und damit die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger geschwächt. Unternehmen hielten sich aufgrund der unsicheren Lage und der hohen Kosten mit Investitionen zurück.

>>> Zwei Drittel der heimischen Unternehmen noch in Russland aktiv.

Ausgehend von dieser Entwicklung hat das IW in einer Modellrechnung das Ausmaß der Produktionseinbußen abgeschätzt - auch wenn diese zum Teil auf die binnenwirtschaftliche Entwicklung in den USA und das Infektionsgeschehen in China zurückzuführen sind. Grundlage waren die jeweiligen Herbstprognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Anschließend wurden die Erwartungen mit der tatsächlichen Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verglichen.

Das Ergebnis: Ohne den Krieg wäre die Wirtschaftsleistung um 1,6 Billionen Dollar höher ausgefallen. In diesem Jahr könnten die weltweiten Produktionsausfälle noch einmal rund eine Billion Dollar betragen - alles unter der Annahme, dass der Krieg in der Ukraine auch in diesem Jahr weitergeht.

>>> Henkel verkauft sein Russland-Geschäft an Investoren.

Der Grund für die erwarteten geringeren Ausfälle im Jahr 2023 sei, dass "von einer Entspannung an den globalen Rohstoff- und Energiemärkten ausgegangen wird", heißt es in der Studie. Damit würde sich auch die kriegsbedingte Inflation zumindest wieder abschwächen.

Rund zwei Drittel der Produktionseinbußen im vergangenen Jahr entfielen auf die so genannten fortgeschrittenen Volkswirtschaften, ein Drittel auf die aufstrebenden Volkswirtschaften, zu denen auch die Entwicklungsländer zählen.

Moskau verliert "Jahrhundert-Deal" mit Europa

Die Zeiten des florierenden Gashandels zwischen Russland und Europa scheinen endgültig vorbei zu sein. Das Milliardengeschäft und die wichtigste Einnahmequelle des Kremls ist ein Jahr nach Beginn des Krieges mit der Ukraine drastisch eingebrochen - westliche Sanktionen, Drosselung der Gaslieferungen durch Russland und schließlich die Beschädigung der Nord-Stream-Pipelines. Der Gashandel mit Europa wird sich so schnell nicht erholen.

Russland sucht daher nach neuen Absatzmärkten und ist im Fernen Osten fündig geworden: Mehr Gas soll nach China geliefert werden, sogar der Bau einer neuen Pipeline ist geplant. Ob das Reich der Mitte Europa als wichtigsten Gasmarkt ablösen kann - und ob der Handel ebenso lukrativ sein wird - bleibt abzuwarten.

"Natürlich ist der Verlust des europäischen Marktes eine sehr ernste Prüfung für Russland in Bezug auf Gas", räumt Juri Schafranik, russischer Brennstoff- und Energieminister von 1993 bis 1996, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters ein. Ein früherer leitender Manager des russischen Energieriesen Gazprom, der anonym bleiben will, formuliert es drastischer: "Die Arbeit von Hunderten von Menschen, die jahrzehntelang das Exportsystem aufgebaut haben, wird jetzt die Toilette hinuntergespült."

Juri Schafranik, russischer Brennstoff- und Energieminister von 1993 bis 1996

Überseeverkäufe halbiert

Daten über den russischen Gashandel sind seit dem Ausbruch des Krieges am 24. Februar letzten Jahres schwer zu bekommen, da der Staatskonzern Gazprom und viele andere russische Unternehmen die Veröffentlichung ihrer Finanzergebnisse eingestellt haben. Nach Schätzungen von Reuters, die sich auf Daten zu Exportpreisen und -mengen stützen, beliefen sich die Einnahmen von Gazprom aus Überseeverkäufen im Januar 2023 auf rund 3,4 Milliarden Dollar, fast eine Halbierung gegenüber den 6,3 Milliarden Dollar im Vorjahresmonat.

Bereits im vergangenen Jahr hatten sich die Gasexporte fast halbiert und den niedrigsten Stand seit der Sowjetzeit erreicht. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schätzt, dass Russland in den ersten acht Monaten nach Kriegsbeginn 80 Prozent seiner Gaslieferungen in die EU eingestellt hat. In der Folge deckte Russland Ende des Jahres nur noch rund 7,5 Prozent des europäischen Gasbedarfs, 2021 waren es noch rund 40 Prozent. Vor Kriegsbeginn war Russland noch zuversichtlich, mehr und nicht weniger Gas nach Europa verkaufen zu können.

Sie schätzen unsere Arbeit?

Nie mehr eine wichtige News aus der Industrie verpassen? Abonnieren Sie unser Daily Briefing: Was in der Industrie wichtig wird. Täglich um 7 Uhr in ihrer Inbox. Hier geht’s zur Anmeldung!

Komplizierter Gas-Deal mit China

Der russische Präsident Wladimir Putin strebt seit langem eine Diversifizierung der Gaslieferungen an. Nun gewinnen diese Bemühungen an Dynamik. Im Oktober schlug Putin vor, in der Türkei einen internationalen Gashub einzurichten, um Gasströme aus der Ostsee und Nordwesteuropa umzuleiten. Außerdem sollen die Verkäufe nach China, dem weltweit größten Energieverbraucher und wichtigsten Abnehmer von Rohöl, Flüssiggas (LNG) und Kohle, erhöht werden. Die Lieferungen nach China über die "Power of Siberia", eine der längsten Gaspipelines der Welt, sollen ab 2025 auf rund 38 Milliarden Kubikmeter steigen. Darüber hinaus wurde vereinbart, weitere 10 Milliarden Kubikmeter pro Jahr über eine noch zu bauende Pipeline von der Pazifikinsel Sachalin zu liefern, wo sich die wichtigsten Öl- und Gasvorkommen Russlands befinden. Außerdem verfolgt Russland Pläne für den Bau der Pipeline "Power of Siberia 2", die theoretisch weitere 50 Milliarden Kubikmeter pro Jahr nach China liefern könnte. Ob die Geschäfte mit China für Russland ebenso lukrativ sein werden wie die jahrzehntelangen Gaslieferungen nach Europa, bleibt abzuwarten.

Die Verhandlungen mit China über neue Gaslieferungen dürften sich als kompliziert erweisen, nicht zuletzt, weil China nach Einschätzung von Branchenanalysten erst nach 2030 zusätzlichen Gasbedarf haben wird. Darüber hinaus sieht sich Russland im Zuge der weltweiten Bemühungen, die Auswirkungen des Klimawandels zu begrenzen, einer zunehmenden Konkurrenz durch erneuerbare Energien ausgesetzt. Auch aus Turkmenistan wird Gas nach China geliefert. Auch hat verflüssigtes Erdgas (LNG), das weltweit verschifft werden kann, den Bedarf an Pipelinegas reduziert.

Zu billig für Gazprom?

Gazprom und China haben den vereinbarten Gaspreis geheim gehalten. Ron Smith, Analyst bei der Moskauer Brokerfirma BCS, schätzt den Preis für 2022 auf durchschnittlich 270 Dollar pro 1.000 Kubikmeter, was deutlich unter den Preisen in Europa liegt. Er liegt auch unter dem Exportpreis von Gazprom von 700 Dollar pro 1.000 Kubikmeter, den das russische Wirtschaftsministerium für dieses Jahr erwartet. Für 2022 gibt es noch keine offiziellen Schätzungen.

In Europa haben die Gaspreise Rekordhöhen erreicht, und die Ölpreise sind kurz nach dem Ausbruch des Krieges in die Nähe ihres historischen Höchststandes von fast 150 Dollar pro Barrel (159 Liter) im Sommer 2008 geklettert; seitdem sind die Preise für Öl und Gas wieder gesunken. Die im Dezember und Anfang dieses Jahres eingeführten westlichen Preisobergrenzen dürften die Einnahmen Russlands weiter schmälern. Unterdessen hat der Kreml Gazprom die Mammutaufgabe gestellt, 24.000 Kilometer neue Pipelines zu bauen, um bis 2025 538.000 Haushalte und Wohnungen in Russland mit Gas zu versorgen.

In der Gasförderstadt Nowy Urengoi, wo die Temperaturen im Winter auf fast minus 50 Grad Celsius fallen, bleibt man gelassen. "Für uns hat sich nichts geändert. Wir hatten letztes Jahr zweimal eine Gehaltserhöhung", erzählt ein Gazprom-Mitarbeiter. "Wir werden einfach mehr Gas für unsere heimischen Haushalte verwenden müssen, anstatt es nach Europa zu exportieren. Auch China braucht Gas."