Russland Stahlindustrie : Industrie am Abgrund: Russlands Stahlkrise erzwingt Putins Eingreifen

Die russische Stahlindustrie ist im freien Fall. Nach einem Produktionssturz um sieben Prozent im Jahr 2024 sank die Rohstahlproduktion auf nur noch 70,7 Millionen Tonnen – der niedrigste Wert seit über einem Jahrzehnt. Während Severstal-Chef Alexander Scheweljow bereits vor einer Krise „wie in den 1990ern“ warnt, plant der Kreml ein Insolvenz-Moratorium für die Schwerindustrie. Präsident Wladimir Putin will so die Pleitewelle von Branchengrößen wie Severstal, Mechel oder der Industrial Metallurgical Holding verhindern.

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Doch die Liste der Belastungen ist lang: westliche Sanktionen, die klassische Exportmärkte wie Europa blockieren. Leitzinsen von bis zu 21 Prozent, die Investitionen abwürgen. Ein Rubel, der 2025 um bis zu 45 Prozent gegenüber dem Dollar aufwertete und Exporte unrentabel macht. Und schließlich ein Binnenmarkt, in dem die Bauwirtschaft – verantwortlich für über 60 Prozent des Stahlverbrauchs – ihre Investitionen zusammenstreicht.

Die Krise ist nicht nur ein vorübergehender Abschwung, sondern eine existenzielle Bedrohung für Russlands Stahlriesen. Nun will Putin das Schlimmste verhindern – Insolvenzen sollen schlicht ausgesetzt werden.

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Wenn Märkte nicht das gewünschte Ergebnis liefern, greift der Staat zur Notbremse. Genau das plant der Kreml für die Stahlbranche: Ein Insolvenz-Moratorium, das angeschlagene Unternehmen vor dem sofortigen Kollaps schützen soll. Geplant ist, dass Stahlproduzenten für eine befristete Zeit keine Insolvenzverfahren mehr fürchten müssen – selbst wenn sie überschuldet sind oder laufende Kredite nicht bedienen können. Auch Gläubiger dürften in diesem Zeitraum keine Verfahren eröffnen.

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Offiziell verkauft Moskau das Moratorium als Stabilitätsgarantie für eine Schlüsselindustrie. Tatsächlich ist es ein Eingeständnis: Der russische Stahlsektor steht so unter Druck, dass die Regierung selbst einen Dominoeffekt von Pleiten nicht mehr ausschließt. Doch die Zweifel sind groß. Dmitry Orekhov von der Moskauer Ratingagentur NKR (National Credit Ratings) – einer der führenden russischen Bonitätsprüfer seit dem Rückzug westlicher Agenturen – warnt, dass ein Moratorium nur dann helfe, wenn es tatsächlich Produktion und Arbeitsplätze sichere. Sonst bestehe die Gefahr, dass lediglich ineffiziente Strukturen künstlich am Leben erhalten würden. Denn die Maßnahme wird weder die Absatzprobleme durch Sanktionen noch die hohen Finanzierungskosten oder den Margendruck durch Billigimporte aus China lösen. Das Moratorium ist weniger Rettung als ein politisches Signal: Stahl ist für Putin zu wichtig, als dass man die Branche dem Markt überlassen würde. Doch während Moskau versucht, die Branche mit juristischen Tricks über Wasser zu halten, bestimmt längst ein anderer Faktor den Markt: China baut seine Dominanz aus – und Russlands Stahlproduzenten geraten ins Hintertreffen.

Russlands Stahlindustrie leidet nicht nur unter Sanktionen und Binnenflaute – sie steht auch mitten in den strukturellen Problemen des Weltmarkts. Die Nachfrage stagniert, während billige Importe die Preise nach unten drücken. Besonders China baut seine Präsenz deutlich aus: In den ersten fünf Monaten 2025 stiegen die Exporte von Eisen, Stahl und Stahlprodukten nach Russland wertmäßig um rund 16 Prozent, nachdem sie 2024 nur um 1,3 Prozent zulegten. Im Mai 2025 allein lieferte China für umgerechnet rund 326 Millionen Euro Stahlprodukte nach Russland. Dabei handelt es sich vor allem um spezialisierte und rostfreie Stähle, die in Russland nicht in ausreichender Menge oder Qualität produziert werden.

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Parallel droht die globale Überkapazität den Druck noch zu verschärfen: Laut OECD wächst die weltweite Produktionskapazität bis 2027 um weitere 165 Millionen Tonnen – ein Überangebot, das die Preise weiter senkt. Und während europäische Wettbewerber Milliarden in die Dekarbonisierung investieren, fehlt russischen Produzenten dafür das Kapital und der Zugang zu westlicher Technologie. Das Risiko: Kurzfristig drückt China mit Billigimporten die Margen, langfristig droht Russland auch technologisch ins Hintertreffen zu geraten.

Mechel ist das Sorgenkind Nummer eins. Der Konzern, tief in Kohle und Metallurgie verwurzelt, beschäftigt rund 70.000 Mitarbeiter. Neben Stahlwerken in Tscheljabinsk und Belorezk betreibt Mechel große Kohleminen in Sibirien – ein Geschäft, das den Stahlbereich lange querfinanzierte. Hauptabnehmer sind der Bau und die Eisenbahnindustrie. Die Stahlproduktion lag zuletzt bei nur etwa 3 bis 4 Millionen Tonnen jährlich. Im ersten Halbjahr 2025 schrieb Mechel einen Nettoverlust von umgerechnet rund 445 Millionen Euro, bei einer Schuldenlast von mehr als 2,9 Milliarden Euro – das schlechteste Ergebnis seit 2015.

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Auch die Industrial Metallurgical Holding (IMH) steckt tief in der Krise. Rund 20.000 Beschäftigte arbeiten in Werken wie Tulachermet und Koks in Nowokusnezk. Das Unternehmen ist auf Koks und Langprodukte spezialisiert und beliefert vor allem Maschinenbau und Bauwirtschaft. Die Jahresproduktion liegt bei 2 bis 3 Millionen Tonnen. Der Nettoverlust stieg im ersten Halbjahr 2025 auf etwa 108 Millionen Euro, die Schulden summieren sich auf rund 900 Millionen Euro.

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Severstal, mit einem Marktanteil von etwa 14 Prozent, produziert rund 11 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr und betreibt mit dem riesigen Werk in Tscherepowez eines der größten integrierten Werke Europas. Der Konzern hat rund 50.000 Beschäftigte und beliefert in erster Linie die Bau- und Automobilindustrie, war aber auch lange stark im Export nach Europa. Konzernchef Alexander Scheweljow warnte ungewohnt offen vor einer großen Wirtschaftskrise, wie sie Russland zuletzt in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt habe.

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MMK (Magnitogorsk Iron and Steel Works), mit Sitz in Magnitogorsk am Ural, ist Russlands zweitgrößter Stahlproduzent mit einer Jahresproduktion von knapp 13 Millionen Tonnen. Das integrierte Werk mit über 50.000 Mitarbeitern beliefert vor allem Bau, Maschinenbau und die Rüstungsindustrie. Auch ein Werk in der Türkei (MMK Metalurji) gehört zum Konzern. Doch die Zahlen kippen: Die Produktion im ersten Quartal 2025 schrumpfte um fast 18 Prozent auf nur noch rund 5,2 Millionen Tonnen Stahl. Absatz und Preise fielen in allen Segmenten – Walzstahl, Langprodukte, Edelstahl. Unter dem Strich stand für das Quartal ein Verlust von etwa 13 Millionen Euro. In späteren Quartalen meldete MMK weitere Rückgänge, konkrete Verlustzahlen sind aber nicht öffentlich bestätigt.

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Und selbst NLMK (Novolipetsk Steel), die Nummer eins in Russland mit einem Anteil von gut 20 Prozent am Stahlmarkt, produziert jährlich rund 15 bis 16 Millionen Tonnen Rohstahl. Der Konzern musste 2024 erstmals seit einem Jahrzehnt einen Nettoverlust ausweisen. Laut Quartalsberichten fiel das Minus im Gesamtjahr vergleichsweise klein aus – nur wenige Millionen Euro, deutlich geringer als bei den Rivalen. Exakte Zahlen für das Gesamtjahr 2024 sind nicht öffentlich. NLMK beschäftigt mehr als 50.000 Menschen, das Stammwerk liegt in Lipetsk südlich von Moskau. Hauptabnehmer sind Flachstahlkunden wie die Automobil- und Maschinenbauindustrie sowie der Bau. Dass selbst dieser Branchenprimus 2024 ins Minus rutschte, gilt Beobachtern als Menetekel: Wenn selbst der Marktführer nicht mehr profitabel arbeiten kann, ist die Krise in Russlands Stahlwirtschaft auf einem neuen Höhepunkt angekommen.

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Doch selbst wenn Russlands Stahlriesen überleben – ihr wichtigster Absatzmarkt ist längst verloren. Denn ausgerechnet Europa, einst Abnehmer von Millionen Tonnen, hat die Türen zugeschlagen. 

Für Russlands Stahlkonzerne war Europa lange der Premium-Kunde: Automobilbauer, Maschinenbauer, die Bauindustrie – sie zahlten gute Preise für hochwertigen Flachstahl oder Halbzeuge aus Russland. Doch damit ist seit dem Angriff auf die Ukraine Schluss. Die EU hat mit Artikel 3g der Sanktionsverordnung ein klares Verbot verhängt: Kein russischer Stahl darf mehr in die Union importiert werden.

Das Problem: Stahl ist kein Produkt, das sich einfach aus dem Markt nehmen lässt. Die russischen Mengen verschwinden nicht – sie fließen jetzt in andere Regionen. Besonders beliebt sind die Türkei, China oder Vietnam, wo russische Produzenten nur noch mit hohen Rabatten von 15 bis 30 Prozent Käufer finden. Dort werden die Rohstoffe weiterverarbeitet – und am Ende landet ein Teil dieser Waren wieder in Europa.

Für europäische Einkäufer ist das ein Compliance-Minenfeld. Auf dem Papier ist russischer Stahl verboten. In der Praxis aber ist oft kaum nachvollziehbar, ob das Blechteil oder die Schraube aus türkischer Produktion tatsächlich völlig frei von russischem Stahl ist. Je länger die Lieferkette, desto schwieriger wird die Herkunftskontrolle. Wer hier Fehler macht, riskiert nicht nur Imageschäden, sondern auch Strafen.

Und es kommt noch eine zweite Hürde: Ab 2026 greift der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) der EU – eine Art Klimazoll. Stahlimporte werden dann nach ihrem CO₂-Fußabdruck besteuert. Russische Produzenten setzen fast ausschließlich auf klassische Hochöfen – mit einem Emissionswert, der weit über modernen europäischen Anlagen liegt. Selbst wenn es morgen keine Sanktionen mehr gäbe: Russischer Stahl wäre durch den Klimazoll kaum noch konkurrenzfähig in der EU.

Die Botschaft ist klar: Europa fällt als Absatzmarkt auf lange Sicht aus. Für die russische Stahlindustrie bedeutet das nicht nur Umsatzeinbußen, sondern auch den Verlust eines technologisch anspruchsvollen Kunden, der bisher gute Preise zahlte. Zurück bleibt ein Geschäft, das sich auf Preisrabatte und Abnehmer in Schwellenländern stützt – weit weg von den goldenen Zeiten, als russischer Stahl in den VW- oder Siemens-Lieferketten steckte.