INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Hameseder, im Kriegsmonat Drei: Ist Putin Ihrer Einschätzung nach nun der geniale Stratege der hybriden Kriegsführung? Einer, der Flüchtlingsströme lenkt und Hunger steuert? Oder passieren militärtaktisch doch grobe Schnitzer?
Erwin Hameseder: Es steckt schon eine Menge Strategie in seiner Handlungsweise. Was nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Russland mit dem enormen Verteidigungswiderstand der ukrainischen Bevölkerung eine Negativüberraschung erlebt hat. Da war die Lagebeurteilung gewiss keine optimale. Was ja auch einige russische Generäle aus ihrem Amt befördert hat.
Als zum Jahreswechsel die massiven Truppenzusammenziehungen an der Grenze zur Ukraine und in Belarus erfolgten: Was ging Ihnen durch den Kopf?
Hameseder: Ich habe wie viele damit spekuliert, dass es bei diesem starken Drohen bleibt, um in für Russland günstige territoriale Verhandlungen hineinzukommen. Wir wurden eines Besseren belehrt. Glücklicherweise sind wir in Europa geeint und haben die starke Brücke zur USA.
Die Frage nach Waffenlieferungen des Westens stellt Regierungen vor Entscheidungen, die ungern getroffen werden.
Hameseder: Das ist eine schwierige Gratwanderung. Eine Ausweitung der kriegerischen Auseinandersetzung ist zu vermeiden. Zugleich darf ein Angriffskrieg nicht zugelassen werden. Es ist wichtig, eine Stopptafel gegenüber Russland aufzustellen: Bis hierher, und nicht weiter.
Veranstaltungstipp: Industriekongress 2022 - das Jahrestreffen der Industrie am 23. Juni
Im Kalten Krieg regelten das stetig wachsende Wehretats.
Hameseder: Woraufhin eine Zeit der sukzessiven Entspannung folgte. Das Sicherheitsempfinden wuchs. Wir alle waren der guten Hoffnung, dass sich die Entspannungspolitik von Ost und West fortsetzt. Und sie hat uns in diese lange währende, wirtschaftlich prosperierende Phase geführt.
Wie digital wird Krieg heute geführt?
Hameseder: Ich bin nach wie vor überrascht, wie konventionell dieser Krieg abläuft. Überspitzt formuliert: So haben wir das vor 40 Jahren als Offiziere auch gelernt. Es ist offenkundig, dass Kriegsführung, wie sie seitens Russland praktiziert wird, einer modernen, dynamisch beweglichen Kriegsführung nicht leicht Paroli bieten kann. Die Gefährlichkeit, die von ABC-Waffensystemen ausgeht, dürfen wir dabei leider nicht vergessen. Daher müssen alle diplomatischen Kanäle genutzt werden, um das unendliche humanitäre Leid zu beenden und den Friedensschluss herbeizuführen. In letzter Konsequenz muss die Diplomatie siegen. Denn ein Europa, dass Russland vollständig ausgrenzt, sehe ich als schwierig - vielleicht sogar unmöglich - umsetzbar.
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Sie mahnen zu Vorsicht bei Sanktionen, diese seien, abhängig vom Ausmaß, eine Gratwanderung für Europas Volkswirtschaften. Wo ziehen Sie die Linie?
Hameseder: Die bisher verhängten Sanktionen sollen Russland treffen, denn Sanktionen sollen dem, der sie verhängt, nie mehr schaden, als dem sie gelten sollen. Wir haben es als Europäer jedoch mitzuverantworten, uns vor gegenteiligen Effekten vorzusehen. Nullwirtschaftswachstum feuert die Inflation an und führt allfällig zu großer Arbeitslosigkeit. Davor müssen wir uns hüten, auch wenn wir die Sanktionen natürlich mittragen.