Energieversorgung : "Keine politischen Experimente mit Gasversorgung" – wie Wirtschaft und Industrie Gas-Sanktionen sehen
„Die humanitäre Krise in der Ukraine zu beenden, muss das Ziel der westlichen Staatengemeinschaft sein. Es ist daher verständlich, dass man angesichts der schrecklichen Nachrichten und Bilder den Aggressor möglichst rasch und empfindlich treffen will", sagt der Präsident der Industriellenvereinigung (IV) Wien, Christian Pochtler, angesichts jüngster Forderungen im EU-Parlament. "Dennoch ist bei der Eskalation der Sanktionen wichtig, deren Wirksamkeit realistisch einzuschätzen und den Folgen für unsere Gesellschaften gegenüberzustellen. Es ist daher unverständlich, wenn sogar von Seiten mancher österreichischen Experten und Politiker ein Gasembargo gefordert wird, ohne auf die gravierenden Folgen aufmerksam zu machen. Der völlige wirtschaftliche Absturz unseres Landes steht uns bevor."
Hintergrund ist, dass am Donnerstag eine Mehrheit der Abgeordneten im EU-Parlament einen sofortigen Lieferstopp von Öl, Kohle und Gas aus Russland gefordert hat. In einer entsprechenden Resolution vom Donnerstag dringen die Abgeordneten zudem auf ein Embargo von russischem Kernbrennstoff und darauf, dass die Erdgasfernleitungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 vollständig aufgegeben werden.
Zudem sollten die EU-Kommission und die Staaten einen Plan vorlegen, um die Energieversorgungssicherheit der EU auch kurzfristig zu sichern, hieß es in dem am Donnerstag verabschiedeten Text. 513 Abgeordnete stimmten dafür, 22 dagegen und 19 enthielten sich. Bereits im Vorfeld, nachdem sich die EU-Kommission für die Einführung eines Kohle-Embargos ausgesprochen hat, wurde über eine Ausweitung auf Öl und Gas spekuliert.
Pochtler betont die überdurchschnittliche Abhängigkeit Österreichs von russischem Gas – 80 Prozent kommen aus der Russischen Föderation – sowie die Schwierigkeiten, diese Mengen kurz- und mittelfristig zu ersetzen. "Wir reden hier bei einem Embargo nicht von konjunkturellen Schwierigkeiten, Kurzarbeit oder Ähnlichem, wie wir das aus Pandemiezeiten schon kennen. Wir reden hier von geschlossenen Industrien, auf unabsehbare Zeit. Von Massenarbeitslosigkeit sowie plötzlichem, aber heftigem und vor allem nahhaltigem Wohlstandsverlust für ganz Österreich“, so Pochtler.
Wenn Österreich seine wirtschaftlichen Aktivitäten in einem derartigen Ausmaß zurückfahren müsse, wie es ein Aus der Gaslieferungen aus Russland bedeuten würde, dann „löst dies eine ganze Kettenreaktion an Katastrophen aus. Wer in Österreich ein Gasembargo fordert, nimmt in Kauf, unser Land und seine Menschen zu ruinieren“, so der Präsident weiter. „Dabei kann keiner sagen, ob solch eine Maßnahme überhaupt dazu dient, diesen Krieg zu verkürzen. Der russische Präsident scheint wenig besorgt um das Wohlergehen der eigenen Soldaten oder Bürger. Warum sollten ihn weitere Sanktionen beeindrucken? Außerdem haben Analysen zu den Wirkungen von Wirtschafts-Sanktionen bei bewaffneten Konflikten gezeigt, dass sie nicht zu einer beschleunigten Beendigung führen."
Vor allem beim Gas gibt es unter den EU-Regierungen Gegner eines Embargos, darunter auch Österreich und Deutschland. Andere Länder drängen hingegen auf einen schnellen Stopp für russische Gas-Importe.
Sollten sich die Abgeordneten mit ihrer Forderung nach einem Gas-Embargo durchsetzen, rechnet der ehemalige Wifo-Chef und amtierende Fiskalrat-Präsident Christoph Badelt mit schweren wirtschaftlichen Verwerfungen für Österreich: "In diesem Fall könnten wir vor einer Krise stehen, deren Ausmaß wir uns noch gar nicht vorstellen können", sagte Badelt im Podcast der "Presse".
Im Falle eines russischen Gas-Lieferstopps müsse sich die Politik dann darauf konzentrieren, eine durch großflächige Produktionsausfälle entstehende Massenarmut zu verhindern. Es brauche dann gezielte Fördermaßnahmen für bedürftige Personengruppen und Betriebe, so der Ex-Wifo-Chef.
Oberösterreich wäre von einer Unterbrechung der Erdgasversorgung aus Russland mit einem Jahresverbrauch von etwa zwei Milliarden Kubikmeter wohl am meisten von allen Bundesländern betroffen. „Wenn auch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine schärfstens zu verurteilen ist, soll es keine politischen Experimente mit der Erdgasversorgung geben,“ sagt dazu nun die Initiative Wirtschaftsstandort OÖ (IWS).
„Selbst wenn die Haushalte bei einer etwaigen Gas-Krise privilegiert wären, ist die Versorgung der Grundstoffindustrie in den Sparten Papier, Lebens- und Futtermittel, Stahl, Chemie, Pharmazie und Düngerproduktion samt den Lieferketten für Oberösterreich unerlässlich“, betont IWS-Geschäftsführer Gottfried Kneifel. Außerdem sei noch völlig unklar, nach welchen Prioritäten Industriebetriebe mit Gaskontingenten ausgestattet werden und wie dies innerhalb des Gasverteilernetzes operativ einwandfrei umgesetzt werden könnte.
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar habe die EU in Summe 35 Mrd. Euro für Energieimporte aus Russland gezahlt, sagte der Hohe Beauftragte der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, am Mittwoch vor dem Europaparlament in Straßburg.
In Österreich ist der Erdgas-Verbrauch im vergangenen Jahr um 6,4 Prozent oder auf insgesamt 8,5 Milliarden Kubikmeter angestiegen. „Als Industrie-Bundesland Nummer 1 ist Oberösterreich auf eine dauerhafte und wettbewerbsfähige Versorgung mit Energie angewiesen“, so Gottfried Kneifel. Die Förderung aus eigenen Erdgasvorkommen in Nieder- und Oberösterreich könne den Gasverbrauch nur zu 15 Prozent und Erdgasspeicher nur für ein Wintermonat sichern.
Die wichtigste und größte heimische Import- und Übernahmestation für Erdgas liegt in der Gemeinde Baumgarten im Marchfeld (NÖ). Dort wird ein Großteil des Gases aus Russland, Norwegen und anderen Ländern übernommen, gemessen, geprüft und weiter verteilt. Das geschieht über unterirdische Pipelines mit einem Druck von 70 Bar. Damit das Gas nicht zu viel an Druck und somit an Geschwindigkeit von etwa 28 km/h verliert, gibt es in Abständen von 70 bis 200 km Verdichterstationen. Mit dieser Geschwindigkeit ist das Gas von Russland etwa sechs Tage unterwegs, bis es an der österreichischen Staatsgrenze ankommt. Die ersten Gas-Lieferverträge mit Russland wurden schon im Jahre 1968 abgeschlossen. (apa/red)