Deep Dive: Transformation der Produktion : Nikolaus Franke, WU Executive Academy: "Erfolg macht groß, aber auch träge"

Prof. Dr. Nikolaus Franke über eine verschwundene Industrie und die Rolle von Innovation

Prof. Dr. Nikolaus Franke über eine verschwundene Industrie und die Rolle von Innovation

- © Matthias Heschl
Der Norden der USA hat eine geografische Besonderheit: kaum Gebirge versperren den Weg in den hohen Norden. Kalte Luftmassen können in den Wintermonaten bis weit in das Landesinnere vordringen und ließen vor über 150 Jahren eine Industrie entstehen, von der heute nur noch wenig Industrieruinen zeugen - und die fast vollständig in Vergessenheit geraten ist. Warum aber? Prof. Dr. Nikolaus Franke der WU Executive Academy über eine verlorengegangene Industrie und die Notwendigkeit von Transformation und Innovation.

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in Neuengland eine neue Industrie, die sich zunächst in der Gegend um Boston ansiedelte und im Laufe der Jahre das größte Exportgut der noch jungen Industrienation hervorbrachte. Ihr Produkt - Eis - sollte in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle in der Landwirtschaft, in der Lebensmittelindustrie und für Millionen Haushalte spielen. Das Eis wurde von der Oberfläche der Teiche, Seen und Flüsse geerntet, dann in Eishäusern gelagert und per Schiff, Lastkahn oder Eisenbahn an die Bestimmungsorte geliefert.

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"Nach der Innovation kommt die Imitation", so Prof. Dr. Franke.

- © Matthias Heschl

Vom Markt verdrängt

Der bedeutendste "Eisbaron" und Industriepionier Frederic Tudor erkannte früh die großen Potentiale der Eis-Industrie und konzentrierte sich zunächst auf Eistransporte in die Karibik und die Südstaaten. Ein erstes Eisschiff machte sich bereits 1806 auf den Weg zur Insel Martinique. Regelmäßige Transporte nach England, Indien, Südamerika, China und Australien folgten zwischen 1830 und 1850. Um 1886 wurden jährlich über 25 Mio. Tonnen Eis in die Welt verschifft. Mehr als 100.000 Menschen waren direkt vom US-Eishandel abhängig.

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"Nach der Innovation kommt die Imitation", so Prof. Dr. Franke. Nach dem großen Erfolg des Eis-Handels dauerte es nicht lange, bis die Eisbarone Neuenglands einer technischen Revolution zum Opfer fielen - der maschinellen Eiserzeugung. Um 1880 gab es - vor allem in den Südstaaten - etwa 30 Hersteller, die mit Maschinen Eis herstellten. Überall dort, wo lange Transportwege und hohe Temperaturen herrschten, entstanden nach und nach Produktionsstätten, so dass 1920 in den USA etwa 5.000 Eishersteller tätig waren. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges dominierte zum ersten Mal die maschinelle Eisherstellung gegenüber der natürlichen Eisherstellung. Kleine Start-Ups ohne Brand, ohne Reputation und ohne Kontakte verdrängten nach und nach die großen Platzhirsche am Markt.

Treiber von Innovationen sind vor allem "Teenager-Unternehmen" die nicht belastet sind von Investitionen der Vergangenheit.
Prof. Dr. Nikolaus Franke, Akademischer Leiter des MBA Entrepreneurship & Innovation

Arroganz und inkrementelle Innovation

Auf die technischen Durchbrüche bei der maschinellen Herstellung von Eis reagierten die Eisbarone Nordamerikas mit einer Mischung aus Arroganz und inkrementeller Innovation. Keinem der etablierten Hersteller gelang es, die neuen Produktionsverfahren auch für sich selbst mit wirtschaftlichem Erfolg zu nutzen. Dies, so Franke, zeugt von einem generellen Muster im Umgang mit Innovationen - auch heute noch: Etablierte, große Unternehmen sind "chronisch schwach, wenn es um radikale Innovationen" geht.

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Die Welt änderte sich, Eis konnte maschinell hergestellt werden. Die Eisbarone ignorierten dies jedoch. Als man das günstigere Eis nicht mehr ignorieren konnte, wurde die Gefahr durch die neue Technik unterschätzt. Es folgte interner Widerstand: Man begann die neue Technik, das günstige Eis und das neue Geschäftsmodell zu verunglimpfen - beispielsweise mit Hinweisen auf die mangelnde Hygiene bei der künstlichen Herstellung von Eis.

RIP: Unternehmen, die es nicht geschafft haben

- © Matthias Heschl

"Innovation als schöpferische Zerstörung"

Es kam, wie es kommen musste: Die Eisbarone verloren Marktanteile, Kunden und schließlich auch ein ganzes Geschäftsmodell. "Innovation verdrängt immer auch überflüssige Dinge; wenn diese überwunden sind", so Franke. Trägheit, langsame Prozesse, eingefahrene Arbeitsweisen, festgefahrene Meinungen oder eine ineffiziente Produktion führen häufig zur Ablehnung von Innovationen. "Was es braucht, sind Führungskräfte, die Innovation wollen und diese auch vor Kosten und Qualität setzen", so Franke. Es braucht Mut und Visionen und in einigen Fällen auch eine Abkehr des bisherigen Geschäftsmodells. AEG, Kodak, Hertie - Marken, die es heute nicht mehr gibt, weil auf Veränderungen im Markt nicht oder zu spät reagiert wurde.

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Was also tun? Führungskräfte sollen ihre Unternehmen auf Innovationen trimmen, eine Innovations-Kultur implementieren, ein entsprechendes Klima mit Anreizen schaffen, Widerstand managen, Fehlerkultur zulassen und leben, die Suche nach neuen Ideen belohnen. Kooperationen mit Start-Ups, mit Universitäten oder Forschungseinrichtungen können helfen, Strukturen im Unternehmen zu dezentralisieren.

Sang- und klanglos gingen die Unternehmen der Eisbarone unter. Ihre Geschichte erscheint heute skurril. Doch die Saga vom Aufstieg und Fall einer Industrie und ihrer Pioniere enthält eine wichtige Lektion für Unternehmen und für die Wirtschafts- und Innovationspolitik.

Nikolaus Franke ist Akademischer Leiter des MBA Entrepreneurship & Innovation, Leiter des Instituts für Entrepreneurship & Innovation, des WU Gründungszentrums, und der User Innovation Research Initiative an der WU Wien.

Prof. Nikolaus Franke
Prof. Nikolaus Franke - © WU Wien