Temu Logistik Österreich : Temu-Lager in Wien: Ermittler enthüllen massiven Sozialbetrug bei Subunternehmen

Temu-Verpackung:
- © Mudassar - stock.adobe.comZwischen meterhohen Paketstapeln und flackerndem Neonlicht verrichteten Dutzende Arbeiter stundenlang körperlich schwere Arbeit – oft ohne Pause, ohne Versicherungsschutz und teilweise sogar ohne gültige Aufenthalts- oder Arbeitsdokumente. In einer Lagerhalle im 21. Wiener Gemeindebezirk hat die Finanzpolizei bei einer Kontrolle gravierende Verstöße gegen Arbeits- und Sozialrecht aufgedeckt.
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Große Online-Billigplattformen aus China wie Temu oder Shein greifen in ihren Zielmärkten häufig auf lokale Logistikdienstleister zurück, um ihre Lieferungen abzuwickeln. Dabei kommt es immer wieder zu Verstößen gegen geltende gesetzliche Bestimmungen. Wie das Finanzministerium am Dienstag mitteilte, stießen Kontrolleure der Finanzpolizei bereits im August in einem Lager in Wien-Floridsdorf auf zahlreiche arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Missstände.
Konkret handelt es sich bei dem betroffenen Standort um eine Betriebsstätte der Firma Clevy Ltd., wie die Tageszeitung Der Standard am Montag berichtete. Das Unternehmen mit Sitz im britischen Farnham betreibt laut Recherchen zudem Holdingstrukturen auf den Cayman Islands und in Hongkong und ist in mehreren europäischen Ländern aktiv – unter anderem in Frankreich, der Schweiz und Slowenien.
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Prekäre Jobs für schnellen Versand: Kritik an Logistikmodellen von Temu & Co.
Die Clevy Ltd. ist Teil eines global agierenden Logistiknetzwerks, das insbesondere für chinesische Online-Plattformen wie Temu, Shein oder AliExpress arbeitet. Diese Unternehmen setzen auf extrem günstige Preise und hohe Versandvolumina, was sie auf kosteneffiziente Logistikpartner in Europa angewiesen macht. Dabei geraten zunehmend Anbieter in den Fokus, die mit prekären Arbeitsverhältnissen operieren und gesetzliche Grauzonen ausnutzen. Kritiker bemängeln, dass dieses Geschäftsmodell langfristig lokale Arbeitsmärkte und faire Wettbewerbsbedingungen untergräbt.
Scheinselbstständigkeit vermutet: Nur zwei von elf Arbeitern waren korrekt angemeldet
Laut Finanzministerium treten vergleichbare Firmen in der gesamten EU immer wieder mit ähnlichen Verstößen in Erscheinung. Bei der Kontrolle in Wien wurden insgesamt 14 Personen angetroffen. Von diesen standen lediglich drei in einem direkten Beschäftigungsverhältnis mit dem Unternehmen – allerdings war eine dieser Personen nicht ordnungsgemäß sozialversichert. Als Begründung gab Clevy an, es habe sich um einen Probetag gehandelt.
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Die übrigen elf angetroffenen Personen waren über das Grazer Subunternehmen Wherhouse Eleni beschäftigt, von denen wiederum nur zwei korrekt angemeldet waren. Ein Großteil der befragten Arbeiterinnen und Arbeiter gab an, als „Freelancer“ beschäftigt zu sein – also formal selbstständig. Doch laut Definition setzt diese Beschäftigungsform voraus, dass die Personen ihre Arbeitszeit und ihren Arbeitsort frei wählen können. Nach Einschätzung der Ermittler war das hier nicht der Fall: Die Beschäftigten arbeiteten zu festen Zeiten und wurden mit Stundenlöhnen zwischen neun und zehn Euro entlohnt. Für die Behörden handelt es sich daher eindeutig um Scheinselbstständigkeit.
Zudem hielten sich viele der Anwesenden lediglich mit Aufenthaltstiteln anderer EU-Staaten in Österreich auf – diese berechtigten jedoch nicht zur Aufnahme einer Beschäftigung hierzulande. Neben fremdenpolizeilichen Maßnahmen wurde gegen das Hauptunternehmen sowie das Subunternehmen ein Strafantrag nach dem Sozialversicherungsgesetz eingebracht. Zusätzlich muss sich Wherhouse Eleni wegen Verstößen gegen das Ausländerbeschäftigungsgesetz verantworten. Bereits im Sommer hatte das Arbeitsinspektorat bei einer Überprüfung des Lagers mehrere Verletzungen der Arbeitsschutzvorschriften festgestellt.
Arbeitsrecht versus Billigpreise: Warum heimische Firmen ins Hintertreffen geraten
Bereits im Sommer hatte die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) auf Unregelmäßigkeiten im Betrieb aufmerksam gemacht und Anzeige erstattet. In der Folge führte die Finanzpolizei am 6. August eine unangekündigte Kontrolle in der Lagerhalle in Wien-Floridsdorf durch.
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Für heimische Unternehmen, die sich an alle arbeits- und sozialrechtlichen Vorschriften halten, entstehen durch solche Praktiken klare Wettbewerbsnachteile. Während Billig-Anbieter Personalkosten durch fragwürdige Konstruktionen massiv senken, sehen sich regulär arbeitende Betriebe mit hohen Lohn- und Abgabenlasten konfrontiert. Branchenvertreter fordern daher nicht nur schärfere Kontrollen, sondern auch Maßnahmen gegen Dumpingpreise im Onlinehandel. „Wenn der Preis nur über Ausbeutung zustande kommt, zahlen letztlich alle drauf“, warnt ein Sprecher der Wirtschaftskammer.
Der Pressesprecher von Temu für die DACH-Region erklärte auf Nachfrage: "Betreiber ist das Unternehmen Clevy Ltd, das eigenständig agiert und logistische Dienstleistungen auch für andere Plattformen anbietet. Temu hat keinerlei operative Verantwortung für die dortigen Arbeitsverhältnisse."
Wie Der Standard berichtet, ist Clevy Ltd. nicht nur in Österreich, sondern auch in mehreren anderen europäischen Ländern tätig. In der Schweiz ermittelt die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich wegen des Verdachts auf Schwarzarbeit und Verstöße gegen arbeitsrechtliche Vorschriften – konkret in einem Lager des Unternehmens im zürcherischen Eglisau. Ehemalige Mitarbeitende berichten dort von ähnlich problematischen Bedingungen wie in Österreich: fehlende Schutzkleidung, unbezahlte Sonntagsarbeit und mangelhafte Arbeitsorganisation. Auch in Frankreich steht eine Tochtergesellschaft von Clevy vor Gericht. Der Vorwurf: Bei der Verzollung von Temu-Paketen soll systematisch Mehrwertsteuer hinterzogen worden sein – indem Dienstleistungen fälschlich in Hongkong abgerechnet wurden.
Schärfere Töne gegen Steuerbetrug: Regierung will faire Wettbewerbsbedingungen sichern
Die Aufdeckung der Missstände in Wien verdeutlicht ein strukturelles Problem: Die Zuständigkeiten zwischen verschiedenen Behörden – von der Finanzpolizei über das Arbeitsinspektorat bis hin zur Fremdenpolizei – erschweren koordinierte Kontrollen. Zudem sind viele der betroffenen Firmen über komplexe internationale Firmenkonstrukte organisiert, was die Verfolgung von Verstößen zusätzlich erschwert. „Die Globalisierung darf kein Freibrief für Rechtsbruch sein“, heißt es aus dem Umfeld der Kontrollbehörden. Forderungen nach strengeren EU-weiten Regelungen werden deshalb lauter.
Die aktuelle Kontrolle könnte politische Folgen haben. Im Parlament wird bereits über gesetzliche Nachschärfungen diskutiert, etwa bei der Kontrolle von Subunternehmen oder bei der grenzüberschreitenden Entsendung von Arbeitskräften. Auch ein verstärkter Fokus auf Scheinselbstständigkeit wird angestrebt. Arbeitsministerin Schumann kündigte an, das Thema beim nächsten EU-Arbeitsministertreffen auf die Agenda zu setzen. „Wir brauchen klare, verbindliche Standards für faire Arbeit – auch im Onlinehandel.“
„Toleranz gegenüber Steuerbetrug können wir uns nicht leisten“, erklärte Finanzminister Markus Marterbauer (SPÖ) im Zuge der Veröffentlichung. „Betrug darf sich nicht lohnen, das ist eine Frage der Gerechtigkeit.“ Auch Arbeitsministerin Korinna Schumann (SPÖ) betonte die Bedeutung fairer Bedingungen: Nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieser Unternehmen seien Leidtragende, „sondern auch jene Betriebe, die sich an die Regeln halten“.