EU-Sicherheitspolitik : Top-Politologe alarmiert: Neue Weltordnung trifft Österreich mit voller Wucht

Herfried Münkler analysiert die Erosion der alten Weltordnung und den Übergang zu einem multipolaren System.
- © Matthias HeschlLange Zeit schien es, als sei das Zeitalter militärischer Machtpolitik endgültig vorbei. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Globalisierung der Märkte trat eine Phase ein, die stark auf Regeln, Multilateralismus und wirtschaftliche Integration setzte. Die Vorstellung einer regelbasierten Weltordnung dominierte politische Debatten, Sicherheitsstrategien und ökonomische Planung. Doch diese Ordnung ist ins Wanken geraten.
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Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler diagnostiziert in seinem Vortrag am Industriekongress 2025 in Pichlarn „Die neue Weltordnung. Zwischen Deglobalisierung und neuen Allianzen“ eine tektonische Verschiebung der globalen Machtverhältnisse – mit weitreichenden Folgen auch für Österreichs Industrie.
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Der Irrtum der Regelgläubigkeit
Die regelbasierte Ordnung war geprägt durch zwei zentrale Annahmen: Erstens sollte militärische Macht an Bedeutung verlieren, während wirtschaftliche Macht an strategischem Gewicht gewinnt. Und zweitens sollten Konflikte nicht mehr militärisch, sondern durch internationale Gerichte und Organisationen geklärt werden – eine „Juridifizierung“ der Weltpolitik. Diese Ordnung basierte letztlich auf einem ökonomischen Imperativ: Was ist kostengünstiger? Wirtschaftliche Macht schien effizienter als militärische Rüstung und dauerhafte Truppenpräsenz. Sanktionen, Handelsrestriktionen und Lieferkettenkontrolle traten an die Stelle von Panzern und Truppen. Ökonomischer Druck wurde zum bevorzugten Mittel, um politischen Einfluss auszuüben.
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Doch Münkler mahnt: Diese Form der „friedenserzwingenden Wirtschaftspolitik“ funktioniert nicht in derselben Dynamik wie militärische Aktionen. Während militärische Interventionen sofort wirken, entfalten Sanktionen ihre Wirkung mitunter erst Monate oder Jahre später – ein gefährlicher Zeitverzug, wie etwa im Fall des Ukraine-Kriegs deutlich wurde. Russland konnte binnen Wochen Fakten schaffen, während westliche Sanktionen lange Anlaufzeiten benötigten. Für Unternehmen bedeutet das: Risiken entstehen schneller, als politische und wirtschaftliche Gegenmaßnahmen greifen können.
Der Mythos vom rationalen Akteur
Ein weiterer Trugschluss der regelbasierten Ordnung lag in der Annahme, dass politische Akteure ausschließlich als rationale Nutzenmaximierer agieren – als „homines oeconomici“. Diese Vorstellung dominierte nicht nur wirtschaftswissenschaftliche Modelle, sondern auch politische Entscheidungsprozesse in Europa. Doch sie erwies sich als unzutreffend. Nationale Kränkungen, historische Demütigungen und Ressentiments prägen vielfach die geopolitische Agenda – besonders in Ländern wie Russland, der Türkei oder Serbien.
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Münkler verweist auf den russischen Angriff auf die Ukraine als Beispiel für eine Politik, die nicht auf Kosten-Nutzen-Kalkül, sondern auf tief sitzenden Ressentiments basiert. Wut, historischer Groll und das Gefühl der Erniedrigung nach dem Zerfall der Sowjetunion prägen Russlands geopolitisches Handeln weit stärker als wirtschaftliche Rationalität. Auch in der Türkei oder Serbien lassen sich ähnliche Muster beobachten: geopolitische Ambitionen, gespeist aus historischen Narrativen, die jenseits ökonomischer Logik liegen.
Diese Entwicklung birgt Risiken für österreichische Industriebetriebe, die stark in Osteuropa oder auf dem Balkan engagiert sind. Politische Volatilität, nationalistische Strömungen und potenzielle Gewaltausbrüche bedrohen Investitionen und Lieferketten. Angesichts dieser Unsicherheiten braucht es neue Strategien der Risikobewertung und Marktdiversifizierung.
Österreichische Unternehmen müssen sich auf eine Welt einstellen, in der politische Risiken wieder zum entscheidenden Faktor wirtschaftlicher Entscheidungen werden. Strategische Resilienz, Diversifizierung von Zulieferern, regionale Redundanzen und geopolitisches Risikomanagement gewinnen an Bedeutung – nicht nur als Teil von ESG-Kriterien, sondern als Voraussetzung wirtschaftlichen Überlebens.
Wer die Regeln bricht, gewinnt das Spiel.Herfried Münkler am Industriekongress 2025
Das Ende des Hüters der Ordnung
Münkler macht deutlich: Eine regelbasierte Ordnung benötigt einen Hüter – jemanden, der die Einhaltung der Regeln durchsetzt. In der Vergangenheit waren dies de facto die Vereinigten Staaten, auch wenn sie selbst nicht immer regeltreu agierten. Doch die Autorität der USA ist geschwunden. Der Rückzug aus internationalen Verpflichtungen, wie unter der Präsidentschaft Donald Trumps, hat das Vertrauen vieler Partnerstaaten erschüttert.
Gleichzeitig wollen andere Akteure – etwa China – diese Rolle bewusst nicht übernehmen. „Auf das amerikanische Zeitalter wird kein chinesisches Zeitalter folgen", so Münkler. Statt globaler Verantwortung verfolgt Peking imperiale Strategien: Kontrolle von Räumen durch wirtschaftliche Abhängigkeiten, insbesondere über Infrastrukturprojekte wie die Neue Seidenstraße. Die daraus entstehenden Bindungen schaffen keine regelbasierte Ordnung, sondern bilaterale Machtsphären – zum Nachteil kleinerer und mittlerer Staaten.
Wirtschaftliche Macht funktioniert nicht im selben Zeitrhythmus wie militärische Macht.
Europa zwischen Regelwerk und Realität
Münkler konstatiert ein zunehmendes Autoritätsvakuum in der Weltpolitik. Die USA haben, insbesondere unter Donald Trump, viele ihrer traditionellen Führungsrollen aufgegeben. Europa – insbesondere die EU – steht nun vor der Herausforderung, sich nicht nur als Hüterin von Regeln, sondern als handlungsfähiger Machtakteur zu positionieren. Die bestehende Regelgläubigkeit, die sich in Konsensmechanismen und bürokratischen Verfahren ausdrückt, reicht in einer Welt machtbasierter Ordnung nicht mehr aus.
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Für Österreichs Industrie bedeutet das auch: Politische Stabilität innerhalb Europas ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Sollte es zu einem teilweisen Rückzug der USA aus Europa kommen – wie es für November 2025 im Raum steht – wird die sicherheitspolitische Verantwortung stärker auf europäische Schultern fallen. Auch neutrale Staaten wie Österreich könnten dadurch indirekt sicherheitspolitisch stärker eingebunden werden.
Europas strategisches Defizit
Europa steht damit vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen verliert das alte Modell des „Friedens durch Handel“ zunehmend an Glaubwürdigkeit. Zum anderen fehlt es der EU an der Fähigkeit, geopolitisch wirksam zu agieren. Das starre Einstimmigkeitsprinzip, institutionelle Trägheit und das Fehlen gemeinsamer militärischer Strukturen verhindern eine kohärente Antwort auf die neue Weltlage.
Zwar formiert sich mit dem Format der „E3“ – Deutschland, Frankreich, Großbritannien – ein handlungsfähigeres sicherheitspolitisches Zentrum. Doch das schließt zentrale Akteure wie Polen oder Italien aus und wirft Fragen der Legitimität auf. Wenn zudem die USA – wie angekündigt – 50 Prozent ihrer Truppen aus Europa abziehen, wird Europa gezwungen sein, sicherheitspolitisch eigenständig zu agieren. Der Aufbau gemeinsamer militärischer Kapazitäten ist dann keine Option mehr, sondern Notwendigkeit.
Militärische Macht ist teuer, aber wirtschaftliche Macht allein reicht nicht mehr.
Der Imperativ der Eigenverantwortung
Für Unternehmen, insbesondere im industriellen Sektor, ist dieser geopolitische Wandel mehr als ein abstrakter Diskurs. Strategische Entscheidungen – sei es zu Standortwahl, Rohstoffbezug oder Kooperationspartnern – müssen künftig stärker im Licht globalpolitischer Entwicklungen getroffen werden. Wer heute in Infrastrukturprojekte etwa entlang der neuen Seidenstraße investiert, sollte nicht nur ökonomische, sondern auch geopolitische Abhängigkeiten bedenken.
Gleichzeitig eröffnet die Transformation Chancen: Wer frühzeitig robuste, resiliente und diversifizierte Wertschöpfungsketten aufbaut, kann sich Wettbewerbsvorteile sichern. Eine stärkere europäische sicherheitspolitische Eigenständigkeit könnte zudem industrielle Nachfrage im Bereich Verteidigung, Cybersecurity und kritischer Infrastruktur stimulieren – auch für österreichische Anbieter.
Die Tragödie der Allmende
Münkler beschreibt das Dilemma der internationalen Sicherheitspolitik mit einem Begriff aus der Ökonomie: der „Tragödie der Allmende“. Wenn öffentliche Güter – wie globale Sicherheit – allen nutzen, aber ihre Bereitstellung nur von wenigen getragen wird, entsteht ein Ungleichgewicht. Die USA investierten jahrzehntelang in globale Stabilität, während viele europäische Staaten die Früchte dieser Ordnung ernteten – ohne selbst substanziell zur Sicherung beizutragen. Dieses Modell ist nicht mehr tragfähig. „Die Tragödie der Allmende ist das Problem der Trittbrettfahrer", so Münkler in seinem Vortrag.
Eine neue Realität für Politik und Wirtschaft
Die neue Weltordnung ist nicht nur eine Herausforderung für Staaten und Diplomatie – sie stellt auch Unternehmen vor eine epochale Umstellung. Strategien, die sich auf Stabilität und Berechenbarkeit stützen, müssen durch Modelle ersetzt werden, die mit Unsicherheit, Machtkonkurrenz und politischen Bruchlinien umgehen können. Wer heute international wirtschaftlich bestehen will, braucht ein tiefes Verständnis geopolitischer Dynamiken – und muss bereit sein, sich auf eine Ära einzustellen, in der wirtschaftliche Stärke allein nicht mehr ausreicht.
Die Zeit der regelbasierten Ordnung ist vorbei. Was folgt, ist eine Ära des politischen Realismus – mit allen Chancen und Risiken, die sie mit sich bringt.
Wer ist Herfried Münkler?
Akademische Laufbahn:
- Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie in Frankfurt
- Promotion 1981 mit einer Arbeit über Niccolò Machiavelli
- ab 1992 bis 2018 ordentlicher Professor für Politische Theorie an der Humboldt-Universität zu Berlin
Forschungsschwerpunkte:
- Politische Theorie und Ideengeschichte
- Theorie und Geschichte des Krieges
- Staat und Sicherheit sowie Großreichsbildung
Bekannte Werke:
- Die neuen Kriege (2002)
- Imperien. Die Logik der Weltherrschaft (2005)
- Die Deutschen und ihre Mythen (2009, ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis)
- Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918 (2013)
- Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert (2023)
Auszeichnungen:
- Leipziger Buchpreis für Sachbuch (2009)
- Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch (2023)
Positionierung:
Einer der einflussreichsten deutschen Politikwissenschaftler, bekannt für seine fundierten Analysen geopolitischer Machtstrukturen und ideengeschichtlicher Entwicklungen
Seit Oktober 2018 im Ruhestand – emeritierter Professor – weiterhin publizistisch aktiv und gefragter Gesprächspartner in Medien und öffentlichen Debatten