Industriekongress 2024 : Velina Tchakarova über Europas Sicherheit und Deglobalisierung: "Kann Europa wirklich sterben?"
Die Politologin und geopolitische Expertin Velina Tchakarova ist sich sicher: Bereits mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 hat sich die Welt in eine Phase eines neuen Kalten Krieges begeben. Der Kalte Krieg 2.0, wie Tchakarova es nennt, ist eine Zäsur für die heutige Weltordnung. Schon zu Beginn dieses neuen Kalten Krieges hat sich Russland ganz klar in Richtung China positioniert - und China duldet, was Russland in der Ukraine macht. Als "Drachenbär" bezeichnet die gebürtige Bulgarin und "glühende Europäerin" die neue Allianz.
Tatsächlich finden diese Prozesse und die Verschiebung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse schon seit geraumer Zeit statt, jedoch meist unbemerkt von uns. Schon Jahrzehnte vor dem "Drachenbär" ist Wettbewerb zum strukturierenden Faktor für internationale Beziehungen geworden. Tchakarova verwendet dafür den physikalischen Begriff der Bifurkation: eine Aufspaltung des globalen Systems. Sobald ein System ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreicht, beginnt es sich in zwei Teile zu teilen, die dann eigenständig weiter agieren. Dieses Phänomen lässt sich derzeit in allen bedeutenden globalen Systemen beobachten - in der Weltwirtschaft, der Geopolitik, dem internationalen Handel, dem Energiesektor und der Ressourcenverteilung. Wir erleben derzeit eine umfassende gegenseitige Entkopplung zwischen den USA und China, die maßgebliche Auswirkungen auf die sich neu formierende Weltordnung haben wird, so die Expertin am mittlerweile 13. Industriekongress des INDUSTRIEMAGAZIN.
Aufstieg der Mittelmächte
Gleichzeitig, so ist sich Tchakarova sicher, steigen die Mittelmächte, die Swing States, Länder die zwischen den Systemen pendeln, auf und gewinnen weltweit in Zukunft an Bedeutung. Insbesondere die Länder des Indopazifik sowie des globalen Südens gewinnen an Einfluss und Macht. Ein hohes Wirtschaftswachstum und eine dynamische Bevölkerungsentwicklung stärken den eigenen Machtanspruch. Handelsverhältnisse werden sich dadurch ändern, Bindungen der Länder austauschbarer. Erst kürzlich bekräftige Indien so seinen Anspruch auf eine zukünftige Weltmacht. Dies wird zweifellos erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft sowie auf das globale politische und wirtschaftliche System haben. Ebenso wird es Indiens regionale und globale Rolle beeinflussen. Derzeit bestimmen jedoch immer noch die beiden Machtzentren USA und China die weltweiten Regeln.
>>> Hier finden Sie am Nachmittag weitere spannende Inhalte des Industriekongress
Nun gilt es abzuwarten, welche Zentrifugalkräfte durch diese Bifurkation entstehen. Internationale Akteure werden zwangsläufig irgendwann Stellung beziehen und eine klare Position einnehmen müssen. Gegenwärtig ist dies jedoch noch nicht geschehen. Dies zeigt sich besonders deutlich in der EU: Die meisten Mitgliedsstaaten fungieren einerseits als strategische Partner der USA, pflegen jedoch gleichzeitig enge wirtschaftliche Beziehungen zu China. Es ist wichtig, dass die EU auch militärisch zu einem starken und wehrhaften Partner wird. Bisher liegt der Schwerpunkt der EU jedoch vor allem auf ihrer wirtschaftlichen Stärke, nicht auf militärischer Macht. Europa muss gewährleisten, wirtschaftlich mit China und den USA auf gleicher Augenhöhe zu bleiben. Noch, so die Politologin, sei dies der Fall. Sollte sich Europa allerdings zu stark in innere Konflikte vertiefen und zu stark mit sich selbst beschäftigt sein, drohe ein struktureller Abstieg Europas in den nächsten 10 bis 15 Jahren.
Wir können den Wind nicht kontrollieren aber wir müssen die Windrichtung kennen.Velina Tchakarova, Politologin und Geopolitik-Expertin
In der Politik bezeichnet der Begriff "Bifurkation" eine bedeutende, oft plötzliche Aufspaltung oder Divergenz innerhalb eines politischen Systems, einer Partei oder einer Bewegung. Diese Verzweigung kann durch ideologische Differenzen, strategische Entscheidungen oder externe Einflüsse ausgelöst werden und führt zu einer Veränderung der politischen Landschaft.
Auf globaler Ebene kann Bifurkation bedeuten, dass sich internationale Allianzen oder Blöcke aufspalten und neue geopolitische Konstellationen entstehen. Ein historisches Beispiel ist die Aufspaltung der kommunistischen Weltbewegung in einen sowjetischen und einen chinesischen Block während des Kalten Krieges. Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, dass sich die Welt möglicherweise erneut in verschiedene ideologische und strategische Lager aufspaltet, ähnlich wie es während des Kalten Krieges der Fall war.
Die Beziehungen zwischen den USA und China haben sich in den letzten Jahren erheblich verschlechtert. Handelskriege, technologischer Wettbewerb und militärische Spannungen im Südchinesischen Meer sind nur einige Beispiele für die wachsenden Konflikte. Gleichzeitig haben sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen weiter verschlechtert, insbesondere nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und den darauffolgenden Sanktionen. In vielen Ländern sind autoritäre Tendenzen auf dem Vormarsch. Staaten wie China und Russland propagieren ein Regierungsmodell, das im Gegensatz zu den liberal-demokratischen Werten des Westens steht. Dies führt zu einer verstärkten ideologischen Spaltung, da sich immer mehr Länder zwischen diesen konkurrierenden Systemen positionieren müssen.
Auch wirtschaftlich könnten sich neue Blöcke herausbilden. Handelsabkommen und wirtschaftliche Partnerschaften werden zunehmend entlang geopolitischer Linien geschlossen. Die Bildung von Wirtschaftsallianzen wie der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) in Asien und der verstärkte Fokus der USA und der EU auf eigene Handelszonen deuten auf eine Fragmentierung der globalen Wirtschaft hin.
Was bedeutet das für Europa?
Es muss der EU noch mehr gelingen, der Bevölkerung zu verdeutlichen, dass dieser vor mehr als zwei Jahren begonnene Krieg nicht nur gegen die Ukraine gerichtet ist, sondern gegen alle Europäer und Europäerinnen, gegen die Prinzipien, für die die EU steht. Ziel ist es, das erfolgreiche Modell der EU-Integration, des wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands zu untergraben. Russland wollte der Welt zeigen, dass Europa schwach und energieabhängig ist und sein Wohlstand allein von Russland abhängt, und dass wir unsere Energiesysteme nicht diversifizieren können. Doch das ist fehlgeschlagen. Auf EU-Ebene ist es uns gelungen, uns im Energiebereich von Russland unabhängig zu machen. Die aktuellen Verwerfungen am Weltmarkt und die Wirtschaftskrise haben tatsächlich schon während der Pandemie begonnen, der Krieg hat diese jedoch verschärft. Trotz dieser Herausforderungen verfügen die 27 EU-Staaten über mehr Handlungsspielraum und finanzielle Ressourcen zur Krisenbewältigung und können schneller als Russland aus der Krise herauskommen. Russlands wirtschaftliches Fortkommen ist wesentlich stärker von seinen Verbündeten abhängig als das der EU.
Für die Zukunft der EU hat die Expertin vier Szenarien an der Hand:
- Duale Ordnung und vereintes Europa:
- USA und China bilden zwei konkurrierende Systeme
- ein starkes und vereintes Europa, das als autonomer und stabiler Akteur agiert
- Ukraine-Krieg als eingefrorener Konflikt
- Wahrscheinlichkeit: Durchschnittlich bis niedrig
- Implikationen: Erhöhe Spannungen zwischen den USA, China und Russland, die Europa in strategische Dilemmas verwickeln; Sicherstellung der Energie- und Rohstoffversorgung angesichts möglicher Blockbildungen und Handelsbarrieren; Europa muss seine technologische Souveränität stärken um nicht von einer der beiden Supermächte abhängig zu sein - Kalter Krieg 2.0 - gespaltenes Europa:
- zwei konkurrierende Systeme zwischen USA, China und Russland
- Europa geschwächt und intern gespalten, USA bleiben aber in Europa engagiert
- Europa kann nicht genug Hilfe für die Ukraine leisten
- eine neuer Eiserner Vorhang in Osteuropa
- Wahrscheinlichkeit: Hoch bis durchschnittlich
- Implikationen: innerhalb Europas können nationalistische Tendenzen und innere Konflikte zunehmen; Europas schwache Position führt zu Verlust auf globale Entscheidungen - Fluide Machtallianzen - Festung Europa
- mehrere Großmächte konkurrieren in einer multipolaren Welt ohne beste Blockbildungen
- Europa ein starker, vereinter Akteur
- USA ziehen sich aus Europa zurück, europäische Mächte müssen sich selbst um NATO kümmern
- Wahrscheinlichkeit: Durchschnittlich bis niedrig
- Implikationen: Wettlauf um Ressourcen, Technologien und Einfluss führt zu geopolitischen Spannungen und Konflikten; Geopolitische Festung Europas und "Balkanisierung" der Ukraine - Fragmentierte Welt - Europa im Abstieg:
- Welt ist von zahlreichen konkurrierenden Mächten fragmentiert
- Europa politisch und wirtschaftlich geschwächt
- Russland gewinnt Krieg und zerstört europäische Sicherheitsordnung
- Europa wird zum geopolitischen "Hinterhof" der Weltgeschehnisse
- Wahrscheinlichkeit: Hoch bis durchschnittlich
- Implikationen: struktureller Abstieg in den nächsten 10 bis 15 Jahren mit demographischen, sozio-ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen; "Europa ist sterblich, Europa kann sterben." - Macron
Wie kommt Österreichs Industrie durch die "globalen Stürme"?
Für Österreichs Industrie bringen die geopolitischen Implikationen nicht nur Herausforderungen sondern auch zahlreiche Chancen, ist sich Velina Tchakarova sicher.
Szenario 1:
Die geopolitischen Entwicklungen bieten vielfältige Chancen für die österreichische Wirtschaft. Ein zentraler Aspekt ist der Marktzugang. Österreich profitiert von einem starken Binnenmarkt und Freihandelsabkommen der EU. Diese Abkommen ermöglichen es österreichischen Unternehmen, ihre Produkte und Dienstleistungen effizienter zu exportieren und neue Märkte zu erschließen. Die politische Stabilität innerhalb der EU bietet zudem einen Schutzschirm für die österreichische Wirtschaft. Stabilität und rechtliche Sicherheit sind grundlegende Voraussetzungen für nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum und Investitionssicherheit.
In Bezug auf das Wirtschaftswachstum kann Österreich auf stabile Exporte und Investitionen setzen. Besonders der Wiederaufbau und die Integration der Ukraine und des Westbalkans bieten langfristige Wachstumsperspektiven. Diese Regionen bieten neue Absatzmärkte und Kooperationsmöglichkeiten, die für die österreichische Wirtschaft von großem Vorteil sein können. Österreich kann von gemeinsamen europäischen Forschungsprojekten und Innovationen profitieren. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Technologie und Forschung stärkt die Wettbewerbsfähigkeit und fördert den technologischen Fortschritt innerhalb des Landes.
Nicht zuletzt bietet der Tourismusbereich erhebliche Chancen. Als sicherer und stabiler Standort kann Österreich im Tourismussektor signifikant profitieren. Die politische und wirtschaftliche Stabilität macht Österreich zu einem attraktiven Ziel für Touristen aus aller Welt, was wiederum positive Effekte auf die gesamte Wirtschaft hat.
Szenario 2:
Österreich könnte durch wirtschaftliche Instabilität in benachbarten EU-Ländern betroffen sein. Diese Instabilität könnte negative Auswirkungen auf Handelsbeziehungen und Investitionen haben und somit die Stabilität der österreichischen Wirtschaft gefährden. Ein stagnierender oder rückläufiger Binnenmarkt könnte den Export österreichischer Produkte und Dienstleistungen beeinträchtigen, da die Nachfrage in den Nachbarländern sinken könnte. Dies könnte insbesondere für exportorientierte Branchen eine bedeutende Bedrohung darstellen.
Eine mögliche Strategie zur Bewältigung dieser Herausforderungen könnte die Fokussierung auf spezialisierte Nischenmärkte sein. Österreich könnte sich auf bestimmte Sektoren und Märkte konzentrieren, in denen es eine hohe Wettbewerbsfähigkeit besitzt. Durch die Spezialisierung und gezielte Investitionen in innovative Technologien und Dienstleistungen könnte Österreich seine Position auf dem globalen Markt stärken. Schließlich ist die Förderung von Innovation und Bildung von entscheidender Bedeutung. Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie die Schaffung eines unterstützenden Umfelds für Start-ups und technologische Innovationen könnten die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft langfristig sichern. Eine starke Bildungsinfrastruktur, die auf die Bedürfnisse der modernen Wirtschaft ausgerichtet ist, kann ebenfalls dazu beitragen, dass Österreich im internationalen Vergleich konkurrenzfähig bleibt.
Szenario 3:
Durch die dynamischen Verschiebungen in der globalen Machtbalance ergeben sich potenziell neue Exportmärkte und Partnerschaften. Diese Veränderungen können es österreichischen Unternehmen ermöglichen, ihre Reichweite zu erweitern und ihre Präsenz auf internationaler Ebene zu stärken. Die Notwendigkeit zur Innovation und Anpassung an globale Markttrends steigt. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen österreichische Unternehmen verstärkt in Forschung und Entwicklung investieren und innovative Lösungen entwickeln.
Technologische Innovation und Spezialisierung sind entscheidende Faktoren, um Österreichs Position im internationalen Wettbewerb zu sichern. Durch gezielte Förderung dieser Bereiche kann die heimische Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken. Österreichs Attraktivität als stabiler Standort für internationale Investitionen und Kooperationen ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Ein verlässliches politisches und wirtschaftliches Umfeld schafft Vertrauen und zieht Investoren an, was langfristig zu einem positiven Wirtschaftswachstum beiträgt.
Szenario 4:
Österreich steht vor der Herausforderung, sich in einem Umfeld zunehmender Unsicherheit und Instabilität zu behaupten. Diese Situation erfordert flexible Strategien und eine schnelle Anpassungsfähigkeit, um auf unvorhersehbare Entwicklungen reagieren zu können. Die erhöhte Volatilität auf den internationalen Märkten verstärkt das Bedürfnis nach effektivem Risikomanagement und wirtschaftlicher Vorsorge. Unternehmen müssen präventive Maßnahmen ergreifen, um potenzielle Risiken zu minimieren und ihre Widerstandsfähigkeit zu erhöhen.
Ein verstärkter Fokus auf regionale Märkte und lokale Wertschöpfungsketten kann dazu beitragen, Risiken zu minimieren und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Durch die Förderung regionaler Wirtschaftskreisläufe kann die Abhängigkeit von globalen Lieferketten reduziert werden. Die Förderung von Innovation und Technologie ist essenziell, um die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der österreichischen Wirtschaft zu verbessern. Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie die Implementierung neuer Technologien können entscheidende Vorteile in einem volatilen globalen Markt bieten.