Krise Autoindustrie : Nexperia-Vorfall: Alarmstufe Rot bei VW, BMW und Mercedes
Vergangene Woche ergriff die niederländische Regierung eine Maßnahme, wie sie Europa in dieser Form noch nicht gesehen hat: Sie entzog dem chinesischen Eigentümer des Chipkonzerns Nexperia die Kontrolle über das Unternehmen – und übertrug sie einem gerichtlich eingesetzten Treuhänder. Die Begründung: wirtschaftliche Sicherheitsrisiken für Europa und massive Mängel in der Unternehmensführung.
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Für Volkswagen, BMW und Mercedes kommt dieser Eingriff zur Unzeit. Denn was bislang wie ein juristischer Konflikt zwischen Amsterdam und Peking wirkte, hat das Potenzial, die Produktionslinien in Wolfsburg, München und Stuttgart in wenigen Wochen zum Stillstand zu bringen.
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Nexperia-Werk in Hamburg: Herzstück der Chipproduktion gerät unter Druck
Im Zentrum des Konflikts steht das Hamburger Werk von Nexperia. Hier werden jährlich rund 100 Milliarden sogenannte Standardchips gefertigt – winzige Halbleiter, die in modernen Autos alles steuern: Airbags, LED-Scheinwerfer, Fensterheber, Motorsteuerung.
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Doch das Werk produziert nur einen Teil des Gesamtprozesses. Für das sogenannte „Packaging“ – also das Einsetzen der Chips in Gehäuse – ist Nexperia auf seine Fabriken in China angewiesen. Und genau dort brennt jetzt die Sicherung durch.
Laut übereinstimmenden Berichten von Bloomberg und der South China Morning Post hat der abgesetzte CEO Zhang Xuezheng seinen Mitarbeitenden im chinesischen Werk mitgeteilt, Anweisungen der neuen Konzernführung aus Europa zu ignorieren. Wenige Tage später warnte der neue CEO Stefan Tilger in einem Schreiben an Kunden: Man könne derzeit nicht mehr garantieren, dass Chips aus chinesischer Produktion noch den ursprünglichen Qualitätsstandards entsprechen.
In der deutschen Industrie schrillen die Alarmglocken. Bosch, Continental und andere Zulieferer melden, dass ihre Vorräte an Bauteilen nur noch für etwa zwei Wochen reichen. Danach drohen Stillstände – und ein Szenario wie zu Hochzeiten der Corona-Lieferkettenkrise.
Nexperia unter Druck: Wie geopolitische Spannungen das Unternehmen bedrohen
Nexperia – ein ursprünglich niederländisches Unternehmen, entstanden aus dem Philips-Konzern – wurde 2018 vom chinesischen Elektronikkonzern Wingtech übernommen. Seitdem ist es ein strategischer Brückenkopf Chinas in Europa – und geriet zunehmend in den Fokus der internationalen Politik.
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Die USA haben Wingtech bereits auf eine Export-Sanktionsliste gesetzt. Im Sommer 2025 drohten sie, diese Sanktionen auf Nexperia auszudehnen – mit dramatischen Konsequenzen: Nexperia wäre dann von US-Vorprodukten und Wartungsdienstleistungen abgeschnitten.
Ein internes Schreiben des US-Handelsministeriums an die Niederlande machte deutlich: Eine Ausnahme von der Sanktionsliste gebe es nur, wenn CEO Zhang abgesetzt werde. Doch das passierte erst Anfang Oktober – für Washington möglicherweise zu spät.
Selten genutztes Gesetz aktiviert: Wie die Niederlande in Nexperia eingreifen
Die rechtliche Grundlage für die Zwangsübernahme ist ein Relikt aus der Nachkriegszeit: Das niederländische Gesetz zur Sicherstellung der Warenverfügbarkeit von 1952. Noch nie zuvor angewendet, erlaubt es dem Staat, in Firmenstrukturen einzugreifen, wenn die wirtschaftliche Sicherheit in Gefahr ist.
Der Anlass: Interne Vorwürfe gegen CEO Zhang, er habe in großem Umfang Chips bei einem chinesischen Schwesterunternehmen bestellt – offenbar zu überhöhten Preisen und entgegen dem Rat der europäischen Manager. Als diese versuchten, ihn zu entmachten, eskalierte der Machtkampf – bis das Gericht eingriff.
Technologischer Machtkampf: Nexperia wird zur Schlüsselfigur im globalen Konflikt
Doch hinter dem Vorgang steht ein viel größerer Konflikt: Der globale Kampf um technologische Souveränität. Die USA drängen ihre Partner, Technologieflüsse nach China zu begrenzen. China wiederum antwortet mit eigenen Exportkontrollen – wie jüngst bei Chipkomponenten aus einem Nexperia-Werk.
Europa sitzt derweil zwischen den Stühlen. Einerseits will es die wirtschaftliche Partnerschaft mit China nicht gefährden, andererseits wächst das Bewusstsein für strategische Abhängigkeiten. Nexperia ist das Symbol dieses Dilemmas: ein europäisches Werk unter chinesischer Kontrolle, das zentral für Deutschlands Schlüsselindustrie ist – und jetzt zur geopolitischen Schachfigur geworden ist.
Nexperia unter Zeitdruck: Der neue CEO kämpft gegen die Uhr
Die Zeit drängt. Stefan Tilger, der neue Nexperia-Chef, hat nur wenige Wochen, um die US-Regierung zu überzeugen, Nexperia von der Sanktionsliste zu streichen. Zugleich muss die Produktion in Hamburg stabil bleiben – trotz interner Querelen und internationaler Spannungen.
In den Chefetagen der deutschen Autobauer herrscht unterdessen Krisenstimmung. Der „Nexperia-Vorfall“ könnte zum Wendepunkt werden: für die Lieferketten, für Europas Industriepolitik – und für die Frage, wie viel Kontrolle Europa über seine technologische Infrastruktur künftig noch behalten kann.