Tesla, Pepsi und Co. : Stanford-Professor warnt: Ohne Superagilität droht ein Lieferketten-Chaos

Hau Lee, Professor für Operations, Information und Technologie an der Stanford Universität
- © Stanford UniversitätHau Lee ist dieser Tage ein viel beschäftigter Mann. Gerade ist er aus den Niederlanden nach Stanford zurückgekehrt, vorher war er in South Carolina, als nächstes stehen Reisen nach Mexico und Hong Kong auf seinem Kalender. Ein dichter Programm für einen Pensionisten. Vor einem Jahr ist Lee als Professor für Operations, Information und Technologie auf der Stanford University in den Ruhestand gegangen, doch die Nachfrage nach seiner Expertise als einer der besten Kenner globaler Lieferketten ist ungebrochen.
>>> Warum Europa es nicht schafft, seine Handelsbeziehungen verlässlich zu stärken.
„Die globale Lieferkette steht kopf“, diagnostizierte Lee kürzlich bei einem Vortrag auf der Hong Kong University, wo er vor mehr als vierzig Jahren sein Studium begann. Die Gründe dafür seien vielfältig, einer, so Lee, hebe sich aber besonders hervor: die Unvollständigkeit der Lehren, die aus der Covid-19-Pandemie gezogen wurden und die sich auf die Formel „China plus eins“ verdichten ließen. Darin käme der Glaube zum Ausdruck, um in Zukunft gegen Lieferkettenverwerfungen gerüstet zu sein, würde es im Großen und Ganzen reichen, Ersatzlieferanten außerhalb des geopolitisch exponierten China zu finden.
Bleiben Sie informiert über die neuesten Entwicklungen in Österreichs Industrie! Abonnieren Sie jetzt unser Daily Briefing – kompakt, relevant und pünktlich um 7 Uhr morgens in Ihrem Posteingang. Hier geht’s zur Anmeldung!
Sie mögen diesen Artikel?
Dieser Artikel ist zuerst in Re:Think (01/2025) erschienen, einem Magazin des Verein Netzwerk Logistik (VNL).
Re:Think ist das Mitgliedermagazin des VNL und unterstützt mit seinen Inhalten das Wissen um wirtschaftliche und politische Hintergründe des modernen Supply-Chain-Management.

Das Beispiel Tesla: Wenn die Lieferkettenstrategie im Ernstfall versagt
Beispiele dafür, dass diese Strategie im Ernstfall nicht unbedingt aufgeht, bieten aktuell viele US-Unternehmen, darunter auch Elon Musks Tesla. Tesla bemühte sich seit geraumer Zeit darum, seine Zulieferer dazu zu bringen, dass sie ihre Produktion aus China wegverlagern – was sie auch zum Teil taten. Als der Handelskrieg zwischen China und den USA eskalierte, waren die aufgebauten Reservekapazitäten aber bei Weitem nicht ausreichend, auch der erschwerte Zugang zu Seltenen Erden wirkte hemmend. Tesla kündigte in der Folge an, die Produktion des neuen Cybercab- und Semi-Elektro-LKWs wegen fehlender Teile nicht hochfahren zu können.
>>> HPW aus Linz bremst Pläne für Standort in den USA
Zudem kommt: Selbst dort, wo ein Ausweichen auf mehrere, voneinander unabhängige Zulieferer tatsächlich machbar ist, garantiert das nicht zwingend eine bessere Lieferkette, sagt Lee. Denn jeder Versuch, die Lieferkette durch Diversifizierung abzusichern, ziehe auch eine Reihe von Herausforderungen nach sich. Wohl erhöhen diversifizierte Lieferketten die Resilienz gegen Ausfälle, zugleich wächst aber mit der steigenden Ausdifferenzierung und Komplexität die Gefahr, dass sich schon kleine Störungen über einen Dominoeffekt zu Katastrophen auswachsen. Der Einsatz von Echtzeit-Daten sei, findet Lee, daher unverzichtbar, um das zu verhindern.
PepsiCo unter Indra Nooyi: Wie eine durchdachte Lieferkette zum Erfolgsfaktor wurde
Ein frühes Beispiel, wie ein solches Modell funktionieren kann, lieferte in ihrer Funktion als PepsiCo-Chefin zwischen 2006 und 2018 Indra Nooyi. Sie verfolgte eine konsequente Optimierung und Diversifizierung der gigantischen Lieferketten des Unternehmens. In der Folge setzte PepsiCo darauf, nur noch Kernzutaten zentral zu sourcen, aber bei möglichst vielen anderen Komponenten, darunter der Verpackung, auf lokale Lieferanten zu vertrauen. Das komplexe Geflecht, das dabei entstand, wurde durch eine Echtzeit-Überwachung der Lagerbestände, der Transportrouten und der Produktionspläne optimiert.
„In den meisten produzierenden Unternehmen bilden die Kosten, die von der Lieferkette verursacht werden, den größten Einzelposten in der Kostenstruktur. Von der Lieferkette hängt auch ab, ob ein Unternehmen sein Versprechen an die Kunden hält und seine Zahlen liefert“, erklärt Nooyi, warum sie in ihrer Zeit bei PepsiCo der Lieferkettenstruktur so große Aufmerksamkeit widmete. Doch, so ihr aktuelles Fazit, auch nach den Erfahrungen der Pandemie sei die Supply Chain in vielen Unternehmen immer noch ein unterschätzter Bereich.
Digitale Rückständigkeit: Warum viele Lieferketten an veralteten Systemen scheitern
Die Einschätzung kling hart, ist aber bloß ehrlich. Denn zwischen dem Anspruch auf Agilität, Resilienz, Digitalisierung und der gelebten Realität klafft bei den meisten Unternehmen ein riesiger Unterschied. In einer 2024 in 13 Ländern von Vitreous World durchgeführten Studie, gaben 68 Prozent der befragten Unternehmen an, dass ein Echtzeitzugriff auf Daten aus allen verfügbaren internen und externen Quellen der entscheidende Faktor für eine erfolgreiche Supply-Chain-Steuerung sei. Doch nur 12 Prozent von Ihnen hatten zu dieser Zeit in ihrer Lieferkette Systeme laufen, die Daten verwenden, die jünger als eine Stunde sind. Mit der Datenintegration ist es ebenfalls nicht weit her: In 81 Prozent der Unternehmen werden Lieferkettendaten immer noch manuell oder mit Hilfe von Altsystemen zusammengeführt.
>>> So denken Sie die Supply Chain neu
Agilität, wie sie der Stanford-Professor Hau Lee als eine wichtige Voraussetzung für verlässliche Lieferketten definiert, sieht anders aus. Während viele Unternehmen noch in der Lieferkettenfrühzeit verharren, fordert der Professor inzwischen ein noch radikaleres Vorgehen, als er in seinem berühmten, vor mehr als 20 Jahren publizierten Agilitäts-Modell formulierte. Superschnelle Datenverarbeitung steht dabei im Zentrum seiner Überlegungen.
Neue Zeiten, neue Rollen: Der Aufstieg des Lieferkettenarchitekten
„Früher bedeutete Agilität, auf tägliche Schwankungen reagieren zu können, heute sprechen wir von Stunden“, sagt Lee. Die Lieferketten werden sich daher bald in einem atemberaubenden Tempo anpassen müssen: „In einer Welt, in der Informationen innerhalb von Nanosekunden übermittelt werden können, brauchen wir statt Agilität Superagilität. Die gestiegenen Anforderungen haben auch eine neue Rolle entstehen lassen, die des Lieferkettenarchitekten.“
Unternehmen müssen, sagt Lee, in Zukunft neben klassischen, primär operativ tätigen Lieferkettenmanagern auch verstärkt Lieferkettenarchitekten einsetzen, die dafür sorgen, dass die Lieferketten reaktionsfähig bleiben und sich auf die ständig verändernden geopolitischen und umweltbedingten Rahmenbedingungen einstellen können.