Industriemanager : Markus Comploj: Der letzte Textilfabrikant

Getzner-Holdingchef Markus Comploj: "Unter den Mitgesellschaftern sind nicht wenige, die sagen, 'mach du das bitte'."
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Getzner-Holdingchef Markus Comploj: "Unter den Mitgesellschaftern sind nicht wenige, die sagen, 'mach du das bitte'."
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Es gibt schon Tage, an denen sich Markus Comploj abends denkt, das dürfe jetzt bitte nicht wahr sein. Wenn die nächsten Lockdowns im Großraum Shanghai das Produzieren von schwingungsisolierenden Komponenten im Getzner-Werkstoff-Werk Kunshan zum Erliegen bringen. Oder – schmerzhaft für den Textilbereich der Gruppe – die Baumwollpreise wieder einen ordentlichen Sprung nach oben vollziehen.
Als im Frühjahr 2020 die Viruspandemie Europa erfasst, war Comploj auch nicht der erste, der lauthals ausrief: "Ich mag das Jahr jetzt schon". Und dennoch ist der 44-jährige, der nach einer Reihe sehr selektiver Auswahlverfahren im Kreis seiner Blutsverwandten 2020 als Holdingchef der Getzner-Gruppe installiert wurde, ein Vertreter jener Managerspezies, die nicht so schnell das Handtuch werfen. "Eine Nacht darüber schlafen, und schon ist die Energie zurück", schmunzelt Comploj, wie sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Roland, Chef der erfolgreichen Textilsparte, Vertreter der siebten Generation.
Jeremiaden über die Härten im Job des Holdingvorstands würden die heute sage und schreibe 72 Mitgesellschafter aus den drei Stammlinien der Gründerfamilien Getzner, Gasser und Mutter sowieso ungehört verhallen lassen. Denn das war schließlich der Deal: Nicht mehr – wie jahrzehntelang praktiziert – sollten frühere Vorstände der Textil AG im pensionsreifen Alter die ehrwürdige Holdingfunktion übernehmen. Vielmehr soll ein junger Quereinsteiger die auch strategisch aufgewertete Dachorganisation in eine aktivere Rolle hineinführen.
"Der Eintritt ins Unternehmen war für mich keine Option. Nur von einer Krise in die andere, immerzu Sparpakete schnüren - das war, überspitzt, kein Leben."Markus Comploj, CEO Getzner, Mutter & Cie
Comploj: von der Seilbahn zum Faden
Und das mit jenem unumstößlichen Willen, mit dem das Unternehmen schon dereinst seinen Weg machte: Durch Ölkrisen, Baumwollkrisen und sogar die Textilkrise der neunziger Jahre schafften es die Bludenzer. Mit einem Überlebensdrang, den andere in der Region nicht aufbrachten. Getzner veräußerte Vermögen, "um den Kernbetrieb mitsamt der Produktion zu sichern", sagt man im Unternehmen nicht ohne Stolz. Zugleich bewies man all die Jahre Wandlungsfähigkeit. Im 1969 gegründeten Werkstoffbereich, heute für 150 Millionen Euro Jahresumsatz gut, spurte man vom glücklosen Fokus Kunstleder – laut renommiertem Beratungshaus der Renner – auf eine echte Marktnische, die Schwingungsdämpfung, um.
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Darauf will er aufbauen: Markus Comploj, ein Betriebswirt und leidenschaftlicher "Bergmensch" (O-Ton Comploj), der zuvor sechs Jahre beim Bludenzer Seilbahn- und Liftanlagenbetreiber Bergbahnen Brandnertal die Geschäfte leitete und nun die Chance ergriff, die "sich nur einmal im Leben bietet". In der Organisation werde man, auch in Abtausch mit den Eigentümern, schneller, direkter und persönlicher. Zukäufe der Vergangenheit wurden hinterfragt. Den 2016 erworbenen deutschen Textilveredeler Blaha stieß man wieder ab, der ebenfalls in Bayreuth domizilierte Systemanbieter für technische Textillösungen SR Webatex, ebenfalls 2016 übernommen, wurde geschlossen. Statt sich vorwiegend mit Holdingaufgaben wie Abtretungsverträgen oder Änderungen im Stand der Gesellschafter zu befassen, ist Comploj also ziemlich aktiv: Im Ausbau der Energieautonomie, dem Immobilienbereich für Mitarbeiterwohnhäuser und zukünftigen Betriebsansiedelungen sowie der Unterstützung der Töchter – ganz nach dem Willen der Mitgesellschafter, die schon aufgrund ihrer Anteile im einstelligen Prozentbereich zu größtmöglicher Nichteinmischung verpflichtet sind.
Rückenwind inmitten der Krise erhält Comploj, der lediglich 0,6263 Prozent der Anteile am Unternehmen hält, durch drei objektive Faktoren: Den anhaltenden Boom der Bekleidungsdamaste in Westafrika, dem anziehenden Geschäft von Corporate Fashion und funktionaler Bekleidung – von bügelleicht bis stichfest – sowie dem ungebremsten Wachstum im Werkstoffbereich. Ist die Verdoppelung des Umsatzes (2020: 502 Millionen Euro) auf eine Milliarde also als Eigentümerziel schon schriftlich festgesetzt? Nein, sagt Comploj. Aber ebensowenig wolle er behaupten, dass es nicht eben doch ein Ziel sei.
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"Solange nur kein Tag gestempelt wird."
Warum das väterliche Erziehungsmodell fast nur Freiheiten bot, Markus Comploj einer Laufbahn im 200 Jahre alten Familienbetrieb dennoch nicht entrann.
INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Comploj, Getzner betreibt vier Kraftwerksanlagen in Bludenz und Bürs. Sie handeln mit Strom aus Wasserkraft, müssen zugleich aber Gas für kritische Prozesse zukaufen. Wie oft greifen Ihre 72 Mitgesellschafter denn aktuell zum Hörer und fordern von Ihnen die Loslösung von russischem Gas?
Markus Comploj: (lacht) Noch rufen die Gesellschafter nicht an. Seit vielen Jahren verkaufen wir die eigenproduzierten Mengen in Bausch und Bogen an die illwerke vkw. Wir erzeugen Strom, verkaufen Strom und kaufen Strom zu. Das ist das Geschäftsmodell. Vor der Harmonisierung der Stromnetze nutzten wir Teile der eigenproduzierten Mengen selber. Das verfolgten Gesellschafter, die im Großraum Bludenz privat an unser Netz angebunden waren, natürlich sehr aufmerksam. Unser Strom versorgte selbst die Pfarre in Bürs. Diesem göttlichen Segen mussten wir im Wechsel von kleinteiliger Energieversorgung zum Großerzeuger ein Ende bereiten.
Höhere Preise beim Energieeinkauf treffen Sie ja jetzt weniger, da Sie als Erzeuger ebensolche durchsetzen können. Dennoch: Mit Putins Angriffskrieg und den Teuerungen auf den Energiemärkten werden auch Sie sich die Frage stellen: Wie autark kann das Unternehmen eigentlich sein?
Comploj: Wir wären in der Lage, uns entsprechend anzupassen. Natürlich bräuchte es den Ausgleich, da wir im Winter zu wenig und im Sommer zu viel für unsere Bedarfe produzieren. Stromseitig wären wir abgesichert, auch wenn die Textilindustrie sehr energieintensiv ist. Wir brauchen gut 40 Gigawattstunden Elektrizität und 100 Gigawattstunden Energie in Form von Gas. Zum Strom: Wir prüfen die Errichtung von zwei weiteren Kleinkraftwerken, so dass jeder letzte Tropfen Wasser genutzt wird. Auch Photovoltaik auf Hallendächern ist eine Option. Beim Gas sind die Alternativen noch wenig überzeugend.
Sie sind Jahrgang 77, haben Teuerungswellen und Kalten Krieg erlebt. Wie erleben Sie diese Phase des globalen Hochrüstens?
Comploj: Ich erlebe diese Zeit als äußerst besorgniserregend. Der Beitritt zur EU war ein Meilenstein bezüglich Sicherheit und Wirtschaftsentwicklung. Speziell für das kleine, exportorientierte Vorarlberg. Grenzkontrollen, die Anwesenheit von Uniformierten und diese unterschwellige Bedrohungslage waren Situationen, die ich eigentlich nicht mehr in Europa erleben wollte.
Die Wehretats werden hochgefahren. Getzner produziert unter anderem persönliche Schutzausrüstung, etwa für Polizei und Militär. Wo ziehen Sie die Grenzen?
Comploj: Es gibt einen Gesellschafterbeschluss, auf Basis dessen ganz klar geregelt ist, dass wir nicht im Rüstungsbereich tätig werden. Anfragen zu Schwingungsschutzlösungen für gewisse Waffengattungen erreichen unseren Werkstoffbereich immer wieder. Doch es gibt hier keinerlei Interpretationsspielraum.
Die siebte Generation bei Getzner
Ein imperialer Aggressor ist offenbar nicht mit Deeskalation zu befrieden. Die USA choreografieren die westliche Anti-Russland-Politik. Sehen Sie das kritisch?
Comploj: Der Umbruch des interkontinentalen Handels, wie wir ihn jetzt erleben, ist sicher auch die Folge zu stark eingeschränkter europäischer Handlungsfähigkeit. Europa ist gefordert, als Einheit aufzutreten. Es ist zu wenig, immer nur Macron oder Scholz vorzuschicken.
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Sie sind – wie Ihr Bruder Roland Comploj, der Getzner Textil vorsteht – Vertreter der siebten Generation der Gründerfamilien Getzner, Mutter und Gassner. Man hört, dass man eine solche Position nicht geschenkt bekommt.
Comploj: Es waren Assessments und Hearings zu durchlaufen, bis hin zum schriftpsychologischen Gutachten. Danach wurde ich vom Beirat der Generalversammlung vorgeschlagen.
Bei 72 Mitgesellschaftern würde ich mutmaßen, dass es einiges an Konkurrenz um den Posten gab?
Comploj: Weniger, als Sie glauben. In der Schlussrunde waren wir drei Bewerber – zwei aus der Familie, ein externer. Unsere Gesellschafterstruktur widerspiegelt einen Querschnitt der Österreichische Bevölkerung. Engagiertere und weniger engagierte. Die Vertrauenskultur ist hoch.
Nach Ihrer betriebswirtschaftlichen Ausbildung und beruflicher Tätigkeit in der Schweiz managten Sie zuletzt sechs Jahre den Seilbahn- und Liftanlagenbetreiber Bergbahnen Brandnertal bei Bludenz. Damals sagten Sie: "Ich war und bin ein Bergmensch. Doch manchmal tun sich Chancen auf, die man nur einmal im Leben bekommt.” Was bewog Sie zum Quereinstieg ins Unternehmen der Familie?
Comploj: Es war ein Prozess. Die Holdingchefs vor mir waren - einschließlich meines Vaters – alle Vorstände in der Textil AG und sind im pensionsreifen Alter dann in die Holding eingetreten. Ich war schon einige Jahre im Beirat tätig. Das starke Wachstum der vergangenen Jahre sprachen für eine Aufwertung der Holding, eine aktivere Rolle derselben. Das reizte mich.
Wieweit wirkte Ihr Vater auf Ihre Karriere ein?
Comploj: Mein Vater war fast 45 Jahre im Textilbereich engagiert. Ich traue mich zu behaupten, dass er maßgeblich verantwortlich dafür ist, dass wir nun als kerngesundes, solides Unternehmen dastehen. Sein Einstieg in die Firma war vorgegeben. Anders war es bei meinem Bruder und mir: Unser Vater bezahlte uns jede Ausbildung, die wir uns wünschten. Wir hatten unsere Freiheiten bei der Berufswahl.
Wesentlich für das Überleben des Familienunternehmens sei eine über die Jahrhunderte gepflegte Strategie: "Kein Streit unter den Eigentümern und rechtzeitige Regelung der Nachfolge." Geht alles so friktionsfrei zu?
Comploj: Es gab natürlich Diskussionen, als mein Bruder und ich in führender Position im Unternehmen antraten. Das war auch gut so. Ein transparenter Auswahlprozess und die externe Begleitung räumten jedoch Bedenken aus. Die Stimmung beim Familienforum im November war entspannt, sicher auch, weil es bei beiden Unternehmenszweigen, Textil und Werkstoffe, sehr gut läuft. Im Übrigen war es in der Vergangenheit schon des Öfteren der Fall, dass Geschwister in Leitenden Funktionen tätig waren.
Erfordert das ein Sonderkonstrukt in den Kontrollgremien?
Comploj: Traditionell läge der Aufsichtsratsvorsitz der Getzner Textil AG beim Holdingchef als Eigentümervertreter, also in meiner Verantwortung. Dieses Amt hat Nikolaus Gassner inne, ich bin sein Stellvertreter. Im Personalausschuss von Getzner Textil ist es ähnlich: Dort arbeiten Nikolaus Gassner und der frühere Rondo-Ganahl-Vorstand Dieter Gruber, um die Bruderthematik zu entkoppeln. Das war auch mein und Rolands Wunsch.
Technische Textilien und das Familienunternehmen
Jetzt könnte man mutmaßen, der Lohn der ganzen Arbeit ist ein größerer Kuchen am Unternehmen. Aber Sie müssen die Holding zusammenhalten, sich gegenüber 72 Miteigentümern, die schöne Zugewinne erwarten, erklären – und haben mit 0,6263 % Anteile am Unternehmen weniger als nicht operativ tätige Familienmitglieder. Diese Form der Anreizgebung hat Erklärungsbedarf, finden wir.
Comploj: (lacht) Mein Bruder und ich wären eigentlich noch nicht Gesellschafter, weil unser Vater seine Anteile noch selber vollumfänglich besitzt. Aber die Schwester meines Vaters ist ohne Nachkommen, sie hat die Anteile geviertelt an ihre Nichte und ihre drei Neffen übergeben. Der größte Gesellschafter hält übrigens um die vier Prozent, das ist alles sehr kleinteilig. So haben wir keine Familienlinie, die sich größere Durchgriffsrechte zu eigen machen kann. Viel fehlt nicht auf eine Demokratie, in der jede Stimme gleich viel zählt. Ein Grund, warum wir Frieden unter den Gesellschaftern haben.
Wie erlebten Sie Getzner in Ihrer Jugend? Lasteten die Verwerfungen auf dem Textilsektor der 90er nicht gewaltig auf Ihrer Familie?
Comploj: Mein Vater arbeitete sehr viel, unter der Woche war er praktisch nicht zu sehen. In der Früh gab es ein 'guten Morgen' und irgendwann spätabends kam er heim. An Wochenenden und Ferien hatten wir viele schöne gemeinsame Stunden. Aber die Anspannung vor allem in den Neunzigern lastete auf dem Familienleben. Ein Eintritt in das Unternehmen war für mich damals auch niemals eine Option. Das war ja, überspitzt, kein Leben. Nur von einer Krise in die andere, von einer schwierigen Entscheidung zur nächsten, Mitarbeiter zu entlassen und immerzu Sparpakete zu schnüren. Aber der unbedingte Wille, das über neue innovative Produkte und Prozesse, etwa funktionale Textilien ins Positive zu drehen, gab uns recht.
Für die "Strategie 2021" ersannen Sie 2018 folgende Ziele: Die Umsatzausweitung bei Afrika-Damasten, die Umsatz-Konsolidierung des Hemden- und Modestoffbereichs sowie die Schaffung neuer, zukunftsträchtiger Geschäftsbereiche mit Technischen Textilien. Was davon ist erreicht?
Comploj: Erfreulicherweise alles – in unterschiedlichen Ausprägungen. Bei Afrika Damasten sind wir uneingeschränkt Marktführer in Westafrika, trotz der Lieferkettenprobleme und lokalen Krisen wie dem Militärputsch in Mali läuft das Geschäft sehr gut. Gewisse Akquisen der Vergangenheit, die aus welchem Grund auch immer getätigt wurden, hinterfragen wir stärker. So liegt im technischen Textilbereich eine Phase der Konsolidierung am Standort Bayreuth hinter uns. Der Textilveredeler Blaha wurde veräußert, der Systemanbieter für technische Textillösungen SR Webatex liquidiert. Die für uns werthaltigen Produkte holten wir nach Bludenz. Wir produzieren ein breites Spektrum, von Hüllen für Heißluftballone über Schlafsäcke bis Sonnenschutz. Das Geschäft mit guten Deckungsbeiträgen bauen wir aus, anderes werden wir weglassen.
"Nach über zwei Jahren Pandemie Luft nach oben"
Markus Comploj stellt alles auf den Prüfstein?
Comploj: Es braucht weiterhin Kontinuität, sonst wären wir mittlerweile nicht das älteste Industrieunternehmen Vorarlbergs. Ansonsten wollen wir persönlicher, schneller, direkter werden. Auch im Interessensausgleich innerhalb der Gesellschafter und mit dem operativen Management. Unser Antrieb ist schon: Ein deutliches Umsatzwachstum mit Getzner Werkstoffe, deutlicher Ausbau des technischen Textilbereichs.
Wie geht es mit dem Hemdenbereich weiter?
Comploj: Dort gibt es nach über zwei Jahren Pandemie Luft nach oben. Aber die Signale großer Kunden wie Hugo Boss sind positiv: Rahmenverträge werden wieder massiv abgerufen. Auch Corporate Fashion entwickelt sich gut. Qualität, Regionalität beim Sourcing und Nachhaltigkeit sind Anforderungen großer Kunden, die unser Geschäft begünstigen.
2010 stiegen die Preise für Baumwolle in einem Jahr um bis zu 80 Prozent - eine Ausnahmesituation. Erleben Sie heute wieder ähnliches?
Comploj: Heute ist Baumwolle wieder deutlich verknappt, auch infolge der Dürren in den USA. Aber wir haben die Situation dank angepasster Sourcingstrategien im Griff.
Am US-Standort Charlotte unterhalten Sie einen Produktionsstandort im Werkstoffbereich. Wie läuft es dort?
Comploj: Nach anfänglichen Schwierigkeiten sehr gut - vor allem im Baubereich. Im Bahnbereich ist der Markt nach wie vor hart. Schwingungsisolierung, wie wir sie bei der New Yorker U-Bahn einsetzen, finden auf den überalterten Schwerlaststrecken nach wie vor schwer Budgetfreigaben.
Wie schlagen Pandemie und Krieg auf Ihr China-Geschäft durch - sie produzieren dort seit 2008 in der Nähe von Shanghai.
Comploj: In Shanghai und der Pekinger Vertriebszentrale wirkt die strikte Coronapolitik trotz voller Auftragsbücher bremsend.
Zuletzt wurde um 53 Millionen Euro im Werkstoffbereich in Bürs erweitert. 2017 meinte die Geschäftsführung, "ein Ende des Unternehmenswachstums sei nicht in Sicht". Können Sie das heute guten Gewissens auch behaupten?
Comploj: Wir erreichten hier zuletzt ein jährliches Umsatzwachstum zwischen zwölf und fünfzehn Prozent. Heuer werden wir die 150-Millionen-Euro-Umsatzgrenze knacken. Die Stimmung ist abgesehen der derzeitigen bekannten Herausforderungen hervorragend. Wir werden in China ausbauen, uns in den USA verstärken. Regionalität, nahe am Markt und bei den Kunden ist sicher das Gebot der Stunde.
Ist die Umsatzmilliarde als Ziel schon wo festgeschrieben?
Comploj: Nein, aber ich will nicht sagen, dass das nicht eines unserer Ziele wäre.
Sie wirken seit 30 Jahren beim Verein Sonnenberger Harmoniemusik Nüziders mit und spielen die Tuba. Sie gehen dort als Obmann gerade in die nächste Amtsperiode. Dagegen blieb ein Spitzenkandidat Comploj bei Wirtschaftsbund und der Vorarlberger Wirtschaftskammer immer nur Spekulation. Würden Sie sich das antun?
Comploj: Ich bin über die Vorgänge enttäuscht und bedaure das Bild, welches unsere Interessenvertretung derzeit abgibt. Fehler sind passiert, die muss man schonungslos aufarbeiten. Meine Arbeit als Spartenobmann der Industrie in der WKV bereitet mir viel Freude. Und zu Ihrer Frage: Ich stehe weder als Obmann des Wirtschaftsbunds noch als Kammerpräsident in Vorarlberg zur Verfügung.
Sie könnten jetzt, wo mit den eingeleiteten Ermittlungen wegen Abgabenhinterziehung eine stärkere Trennung von Kammer und Wirtschaftsbund erzielt werden soll – einen Kurs vorgeben, in dem die Grenzen zwischen Partei und öffentlichen Institutionen nicht mehr verschwimmen.
Comploj: Ich sehe mich in der Vorarlberger Wirtschaftskammer, Sparte Industrie, sehr gut aufgehoben.
2019 waren die Problemfelder noch relativ überschaubar: Ausbildung, Digitalisierung waren darunter. Jetzt sind die Herausforderungen vielfältig. Wie kann das der Souverän, der Staat, schaffen? Weckt die x-te Regierungsumbildung Vertrauen?
Comploj: Ich wünschte schon eher Kontinuität. Aber ich schätze Kocher, der jetzt „Superminister“ mit wichtigen Resorts geworden ist. Ein echter Profi, der passt gut. Wichtig wäre, dass sich die Politik mit den wichtigen Zukunftsfragen beschäftigt und nicht mit sich selber streitet.
2017 bezeichneten Sie die sehr aufwendigen und langen Behördenverfahren als größte Herausforderungen für die Seilbahnwirtschaft, diese würden ein ganzes Buch füllen. Erwarten Sie Besserung?
Comploj: Die Welt lebenswert zu machen, ist ein gutes. Doch bei vielen Schlagworten wie Klimaneutralität, Green Deal, Dekarbonisierung, etc. fehlt der Weg. Und wenn man sich anschaut, wie lange es dauert bis zur Erteilung einer Bewilligung für Wasserkraftwerke oder Hochspannungsleitungen, verlässt einen der Mut. Da wünschte ich mir hierzulande schon ein grünes Regierungsmitglied, das wie Habeck in Deutschland über seinen Schatten springt und Lösungen für die kurzfristige Energieversorgung liefert, die die Versorgungssicherheit und damit den Wohlstand garantiert, ohne das langfristige Ziel der Klimaneutralität aus den Augen zu verlieren.
Markus Comploj: ZUR PERSON
Markus Comploj, 44,
leitet seit Jänner 2020 in siebter Generation – und in direkter Nachfolge seines Vaters Georg Comploj – die familieneigene Beteiligungsholding Getzner, Mutter & Cie. Der ausgebildete Wirtschaftsingenieur und Betriebswirt strebte zunächst keine Karriere im eigenen Familienunternehmen an. Bis 2012 leitete er die Geschäfte des Schweizer Tourismusstandorts Savognin, anschließend, bis 2018, die Geschäfte der Brandnertal Bergbahnen in Bludenz. Im Gesellschafterbeirat sowie als Aufsichtsrat sammelte er erste Erfahrung, danach galt er als möglicher Aufbaukandidat für die Holdingleitung. Comploj ist Obmann der Sparte Industrie der Wirtschaftskammer Vorarlberg und stellvertretender Obmann des Wirtschaftsbundes Vorarlberg. Zu seinen Steckenpferden zählt das Musizieren, einer Leidenschaft, der er beim Musikverein Sonnenberger Harmoniemusik Nüziders als Tubaspieler nachgeht. Comploj ist Vater zweier Söhne.
ZUM UNTERNEHMEN
Die Beteiligungsholding Getzner, Mutter & Cie. Gesellschaft m.b.H. & Co. KG ist Dachorganisation des 1818 von Christian Getzner, Andreas Gassner und Franz Xaver Mutter gegründeten Bludenzer Textilunternehmens Getzner Textil AG sowie ihrer 1969 gegründeten Werkstoffschwester Getzner Werkstoffe Holding GmbH und somit das älteste noch aktive Industrieunternehmen VorarlbergsIhre Beteiligungen stehen im Eigentum von 71 Familienmitgliedern bis zur nunmehr siebten Generation. Die in Bludenz sesshafte Getzner Textil Gruppe ist führender Hersteller für afrikanische Bekleidungsdamaste des gehobenen Genres sowie von Modestoffen für Hemden. Weitere der vier Businessunits sind „Technics“ für technische Gewebe und „Mobility“ als Zulieferer der Fahrzeugindustrie. Das Unternehmen überwand als eines von wenigen Firmen Vorarlbergs die Textilkrise der Neunziger und produziert mit 800 Webmaschinen, vier Aufrüst- und zwei Färbereibetrieben jährlich rund 77 Millionen Laufmeter Gewebe.
2020 wurden mit über 1500 Mitarbeitern 400 Millionen Euro Umsatz erzielt. Getzner Werkstoffe mit Sitz in der Nachbargemeinde Bürs, ursprünglich noch auf die Produktion von Kunstleder spezialisiert, gelang mit Polyurethan-Schäumen der Durchbruch bei Schwingungsschutzlösungen, die in Bahnanlagen, Gebäuden und Maschinen zum Einsatz kommen. Für 2022 wird mit 500 Mitarbeitern ein Umsatz von 150 Millionen Euro angepeilt. Getzner, Mutter & Cie ist mit vier Wasserkraftwerken einer der größten Energieerzeuger Vorarlbergs.