Chemieunternehmen : Chemische Industrie fordert Repriorisierung beim Green Deal
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Die chemische Industrie ist derzeit von rund 80 geplanten Green Deal Regularien betroffen: Neben dem Klima & Energie-Paket etwa die Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit, die mittelfristig massive Verwendungsbeschränkungen und Verbote für gewisse Chemikalien mit sich bringen. Einige dieser Chemikalien seien aber dringend notwendig für die Produktion von Zukunftstechnologien - wie etwa Lithium.
"Ich bin nicht sicher, ob wir den vollen Umfang dessen was gerade passiert, schon voll durchdrungen haben" sagt Ulrich Wieltsch Head of Technics bei Patheon Austria anlässlich einer Pressekonferenz des Fachverbandes der Chemischen Industrie am Freitag.
"Seit Beschluss des Green Deals haben sich die wirtschaftlichen aber auch die geostrategischen Rahmenbedingungen massiv verändert." So würde CO2 Neutralität noch wichtiger – Stichwort: Abhängigkeit von russischen Energielieferungen. Und auch die Themen Resilienz und Unabhängigkeit, wie Wieltsch sagt. Die Umsetzung der Pläne in der Chemikalienverordnung würden diesen Zielen jedoch diametral entgegenlaufen. Zudem hätten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die chemische Industrie seit dem Beschluss des Green Deals verändert. „Um diese Mehrfachbelastung stemmen zu können, braucht es künftig eine bessere zeitliche Abstimmung der Maßnahmen“, sagt Wieltsch. Wieltsch weiter: "Uns geht es nicht um eine Aufweichung des Green Deals sondern um die Reihenfolge der Umsetzung der Maßnahmen."
Kunststoffverpackung: Weniger abhängig von russischer Energie?
In der Reihenfolge der Maßnahmen vorzuziehen wäre jedenfalls der Aufbau einer Recyclingstrategie: Mit einem umfassenden Ausbau von Kunststoffrecycling können die benötigten fossilen Ressourcen für Kunststoffprodukte noch einmal deutlich gesenkt und gleichzeitig jedes Jahr bis zu 2,4 Millionen Tonnen CO2 in Österreich eingespart werden. Neue Technologien wie chemisches Recycling und Carbon Capture and Usage (CCU) könnten auch von Österreich aus den Umgang mit CO2 revolutionieren. „Das Potential der Kreislaufwirtschaft ist enorm. Mit einer umfassenden Etablierung könnten wir die für die Dekarbonisierung benötigte Energiemenge in der chemischen Industrie von 60 auf 30 TWh halbieren. Wenn die Politik hier einen Förder- und Ausbau-Schwerpunkt setzt, können wir im internationalen Wettbewerb um die effizientesten Klimaschutztechnologien vorne dabei sein“, sagt Helmut Schwarzl, stellvertretender Obmann das FCIO und Geschäftsführer bei Geberit.
Als Verpackungsmaterial könne Kunststoff jedenfalls etwas zur Resilienz und Unabhängigkeit von Energie beitragen, wie Schwarzl sagt: "In der Herstellung brauchen wir verhältnismässig wenig Gas. Wir erzeugen Kunststoff in großen Teilen aus Abwärme aus anderen Prozessen und unsere Produkte werden mit Stom hergestellt." so Schwarzl. Die Kunststoffverpackung sei dieser Krisensitzation ein Vorteil im Gegensatz zu Papier und Kartonverpackung, die in Trocknungsprozessen vorwiegend gasgetrieben sei.
Lesen Sie hier: Welche Industriebranchen das meiste Gas in der Produktion benötigen
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Mineralölprodukte nicht nur Energieträger sondern auch Rohstoff
Gas und Mineralölprodukte seien für die chemische Industrie nicht nur Energieträger sondern auch Rohstoff. Ein Totalausfall würde "Massenarbeitslosigkeit und leere Regale" bedeuten sagt Hubert Culik, Obmann des Fachverbands der Chemischen Industrie Österreichs (FCIO) und Geschäftsführer bei Rembrandtin Coatings. Bei einem Totalausfall von russischem Gas stünde nicht nur die Chemieindustrie still. "Ohne Erdgas kein Dampf, ohne Dampf keine Medikamente", sagte Culik. Ohne die Erzeugnisse der chemischen Industrie gebe es auch keine Matratzen, Dämmstoffe, Kühlschränke, Autositze oder Textilfasern. Auch die Landwirtschaft wäre betroffen, da sich Kunstdünger nicht ohne Erdgas erzeugen lässt.
"Ein Auffüllen unserer Speicher muss deshalb jetzt oberste Priorität haben. Auch über Ersatzlieferungen muss nachgedacht werden. Dass der Gasspeicher im Haidach in Oberösterreich an Gazprom verkauft wurde, sei in der jetzigen Situation nicht hilfreich. Dass Österreich bei Gas seine Abhängigkeit gegenüber Russland über die Jahre auf zuletzt 80 Prozent ausgeweitet habe, sei mit dem heutigen Wissen ebenfalls ein Fehler gewesen.
Auch das geplante Ölembargo treffe die Chemieindustrie, allerdings sei russisches Erdöl leichter durch Öl aus anderen Ländern ersetzbar. Problematisch für Österreich sei beim Öl noch, dass die OMV in der Raffinerie Schwechat vor allem Rohöl aus Kasachstan verarbeitet, dass über Pipelines durch Russland nach Österreich fließt, verwies Fachverbandsgeschäftsführerin Sylvia Hofinger auf mögliche praktische Probleme beim Ölembargo.
Zudem sei eine Umsetzung des Green Deal, der trotz Krieg in der Ukraine die größte Herausforderung für die Branche sei, ohne die Branche unmöglich. "Von der E-Mobilität bis zu Idolierungen und Dämmstoffe, wir produzieren Produkte, die umittelbar in den Green Deal hineinwirken" sagt Culik.
Mittel- und langfristig werden neue Technologien aus der chemischen Industrie etwa aus dem Bereich Kreislaufwirtschaft entscheidend für die Unabhängigkeit von Russland und anderen Exporteuren fossiler Rohstoffe sein. Culik weiter: „Vor uns liegt eine Herkules-Aufgabe, die wir bereit sind anzugehen. Gemeinsam mit der Politik muss es gelingen, hin zu konkreten Umsetzungsschritten zu kommen.“ Der Obmann der chemischen Industrie fordert einen beschleunigten Ausbau von erneuerbaren Energien sowie Verfahrensbeschleunigungen bei bestehenden Projekten oder die gezielte Förderung von Schlüsseltechnologien wie Wasserstoff, Carbon Capture and Utilization (CCU), durch die CO2-Emissionen für die Produktion verwertet werden können, und der Kreislaufwirtschaft. Politische Zeitpläne und Zielsetzungen lassen da nach wie vor auf sich warten.
Mit knapp 47 tausend direkten Beschäftigten und einem Produktionswert von über 15 Milliarden Euro im Jahr 2020 ist die chemische Industrie eine wichtige Branche für die Wertschöpfung in Österreich. Die Chemische Industrie sowie der Branche zuordenbare Teile der Gummi und Kunststoffindustrie erwirtschaften rund 3,4 Prozent des Bruttosozialprodukts, sind jedoch für eine große Anzahl von Vormaterialien am Anfang der Wertschöpfungskette der Industrie in weitaus höherem Ausmaß bedeutsam, wie eine Studie der Wirtschaftsforschungsinstitutes WIFO zum Stand der Umsetzungsmaßnahmen des Green Deals in Österreich feststellt. Die Branche sieht sich als "Motor der Transformation, schon weil wir viel von dem was wir wollen gar nicht erreichen können, wenn wir nicht innovative Unternehmen haben die jene Produkte produzieren" sagt Sylvia Hofinger, Geschäftsführerin des Fachverbandes der Chemischen Industrie.
WIFO-Studie: Klimaschutz hängt von chemischen Innovationen ab
Wissenschaftlich untermauert wurden Hofingers Aussagen durch eine WIFO Studie die im Rahmen der Pressekonferenz vorgestellt wurde. Erstmals nach Vorstellung des EU-Green Deals weist eine wissenschaftliche Studie die Bedeutung der chemischenIndustrie für den Klimaschutz in einzelnen Sektoren nach. Erstellt hat diese gesamthafte Analyse das WIFO im Auftrag des Fachverbands der Chemischen Industrie Österreichs (FCIO). Sukkus: Im Kampf gegen den Klimawandel spielt die chemische Industrie eine besondere Rolle. Einerseits benötigen alle Green Deal Technologien Stoffe und Vorprodukte aus der Branche. Andererseits müssen die Unternehmen ihre eigene Produktion künftig ebenfalls klimaneutral gestalten. Der Ukraine-Krieg verstärkt noch die Notwendigkeit, die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen zu verringern. Studienautor Franz Sinabell, Forschungsbereichskoordinator für Umwelt, Energie und Landwirtschaft im WIFO, zu seinen Erkenntnissen: „Die chemische Industrie ist einer der wesentlichen Motoren der Transformation. Eine klimaneutrale Wirtschaft braucht Produkte, Technologien und Lösungen der Chemiebranche.“
Zudem haben die Unternehmen der Branche bereits viel in Richtung Klimaneutralität umgesetzt. Seit 1990 konnte die Chemieindustrieihre prozessbedingten Emissionen bereits um über 50 Prozent senken. Die größten Herausforderungen liegen aber noch vor uns. Dafür muss die Politik den geeigneten Rahmen schaffen. Neben der Förderung von Investitionen und F&E für Zukunftstechnologien geht es vor allem um den Aufbau der notwendigen Infrastruktur – gerade im Energiebereich. „Klimaneutralität in Österreich ist nur mit einer wettbewerbsfähigen Chemiebranche möglich. Dafür braucht es ausreichende Mengen erneuerbarer Energie zu konkurrenzfähigen Bedingungen, die vor Produktionsverlagerungen schützen, ebenso wie gut aufeinander abgestimmte rechtliche Rahmenbedingungen und den Investitionszyklen angepasste Zeit für die Transformation“, so der WIFO-Ökonom.