Österreichischer Gewerkschaftsbund : Koloss in der Krise

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Zu Mittag hat es noch ganz nach Betriebsausflug ausgesehen. Fröhlich schnatternd strömten die Vorarlberger in der Frühlingssonne zwischen den gläsernen Bürotürmen von StRABAG, Sanofi Aventis und tech Gate in Richtung Austria Center. Die lautstark diskutierten Themen – von den Eigenheiten lokaler Taxilenker bis zu den hohen Schnitzelpreisen – könnten genauso gut jene schwäbischer Touristen sein. Drinnen im herunter gekühlten vieleckigen Saal A des Austria Center war dann Schluss mit lustig. „Wir sind in der Krise“, donnerte der scheidende Metaller-Chef Rudolf Nürnberger den rund 1000 Delegierten entgegen.

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„Es ist keine Zeit mehr, den Kopf in den Sand zu stecken. Strukturen, die wir seit Jahrzehnten gewohnt sind, wird es nicht mehr geben.“ Für gestandene Gewerkschafter waren die Wochen zuvor wie ein Albtraum abgelaufen. Erst kamen riesige Spekulationsgeschäfte der eigenen Bank ans tageslicht, die die Jobs von Management, Aufsichtsräten und schließlich des lang gedienten ÖGB-Präsidenten Fritz Verzetnitsch kosteten. Aber es kam noch schlimmer: Die gewaltigen Verluste der BAWAG zwangen den neuen Interimspräsidenten Rudolf Hundstorfer zum Canossa-Gang beim konservativen Bundeskanzler und zum demütigenden „Danke“ an Wolfgang Schüssel vor laufender Kamera – ausgerechnet am höchsten Feiertag der Arbeiterbewegung. Die öffentliche Demütigung war aber noch nicht alles.

Offenlegung des geheimen Streikfonds

Der hohe Preis für die Rettung von Bank und Gewerkschaft: Offenlegung des geheimen Streikfonds, Abgabe der Anteile an der Nationalbank. Doch die mitreißende Rede Nürnbergers ließ für die Delegierten viele Fragen unbeantwortet. Ist der mächtige ÖGB angezählt? Hat Bundeskanzler Schüssel mit seiner tödlichen Umarmung das erreicht, was Margaret Thatcher einst in wochenlangen harten Auseinandersetzungen mit den britischen Kohlenkumpeln gelang? Und: Könnte sich die Niederlage des Gewerkschaftsbundes als Pyrrhussieg für die Unternehmerseite entpuppen, die in ihren Betrieben das ausbaden müssen, was die ÖVP auf der politischen Ebene gewonnen hat? Droht eine Radikalisierung der heimischen Gewerkschaften?

„Der Sonderzug nach Lenzing war schon vorreserviert – und wir hätten ihn voll gekriegt“, erzählt Reinhard Prinz, Betriebsrat bei Henkel in Wien, von den geplanten Maßnahmen. Zwölf Stunden waren einander Arbeitgeber und Gewerkschafter der Chemischen Industrie an jenem 9. Mai bei den Kollektivvertragsverhandlungen Gegenüber gesessen. Keine Seite bewegte sich auch nur einen Millimeter. „Es ist am Ende noch einmal an einem seidenen Faden gehangen“, erzählt der bullige Arbeitervertreter. Nach Lenzing, vor die Werkstore des oberösterreichischen Faserproduzenten, wären einige hundert Betriebsräte gefahren und hätten wohl medienwirksam die Zufahrt blockiert, weil ein Vorstand des Unternehmens, Peter Untersperger, als Verhandler der Unternehmerseite harte Positionen aufgebaut hatte.

Harte Runden und Betriebsversammlungen ohne Einigung

Es war schon die vierte Runde gewesen, dazwischen hatte es Betriebsversammlungen gegeben – teils mit stehenden Maschinen. In früheren Jahren hatte man sich stets schon nach zwei, drei terminen geeinigt. Manche Gewerkschafter mutmaßten, die Unternehmer wollten die Schwächephase des ÖGB nutzen, um nun eine schärfere Gangart zu fahren. Die Arbeitgeberseite machte sich ähnliche Gedanken – mit umgekehrten Vorzeichen. In den tagen nach dem 1. Mai schien alles möglich. „Bloß Zuckerl.“ „Es mag schon sein“, sagt Reinhard Iro, CEO der Kärntner treibacher Industrie AG, „dass die Gewerkschaft ein besonderes Bedürfnis hatte, ihren Mitgliedern zu zeigen, dass sie etwas herausholen können.“

Iro führte selbst jahrelang auf Arbeitgeberseite ähnliche Verhandlungen, und er blieb diesmal auch kühl, als es nach weiteren Konfrontationen aussah: „Das ist kein Grund, den Notstand auszurufen, gibt es halt noch eine Runde.“ Mehr Verhandlungszeit als üblich brauchte es in diesem Frühjahr auch in anderen Branchen, etwa bei den Bauarbeitern oder in der Elektro- und Elektronik- Industrie. „Es hat sich an allen Ecken und Enden gespießt“, erzählt Eva Scherz, GPASekretärin, die die Angestellten der Elektroindustrie in den Verhandlungen beriet. „In der Elektroindustrie war das schon etwas Besonderes, denn für gewöhnlich hat es in diesem Bereich immer nach zwei Runden einen Abschluss gegeben.“

Auf dem Bau: Machtspiel und Deeskalation bei Arbeitsverhandlungen

Auch die Baugewerkschafter machten ähnliche Erfahrungen. „Ich weiß nicht, woran es liegt“, sagt Porr-Betriebsrat Albert Stranzl, „ich habe den Eindruck, dass man ein Machtspiel ausprobieren will.“ Die Bauwirtschaft laufe gut, den Arbeitern, die sich in schlechteren Jahren stets zurückgehalten hätten, wolle man bloß Zuckerl zugestehen. Keine Eskalation. Ganz so heiß gegessen wurde dann doch nicht – in keiner der strittigen Verhandlungen. Überall einigte man sich auf gar nicht so niedrigen Niveaus, die Konjunktur erlaubte jeweils Abschlüsse deutlich über der Inflationsrate. Überall war man um Deeskalation bemüht.

Eine Reihe von politischen Vertretern der Wirtschaftsseite sprach sich so laut für einen starken ÖGB aus, dass AK-Direktor Werner Muhm an ein altes Kreisky-Sprichwort erinnerte: „Man kann einen Fisch auch töten, indem man ihn zu tode streichelt.“ Aber selbst am Metaller-Gewerkschaftstag gab man sich freundlich. Zwar warnte der scheidende Nürnberger davor, zu glauben, der ÖGB sei „reif für den Sturm“, man werde im Fall des Falles „die Entschlossenheit spüren“. Aber das war Rhetorik pro domo. Mit ausgesuchter Höflichkeit und Dank für die gute Zusammenarbeit hatte er zuvor eine Reihe von Unternehmensvertretern begrüßt, und die Delegierten im dicht gefüllten Wiener Austria Center spendeten ihnen braven Applaus. Klaus Armingeon, Berner Politologe und Spezialist für europäische Arbeitsbeziehungen, kennt für den ÖGB einen gewichtigen Grund, trotz Krise weiter fest zur Sozialpartnerschaft zu stehen: „Die Gewerkschaften haben keine Chance zur Radikalisierung. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Arbeitnehmer nicht für eine radikale Politik zu gewinnen wären.“

Vorhersehbare Unwägbarkeiten: Die Aussichten für heimische Betriebe

Da sind sich nicht alle Praktiker ganz sicher. Wohl rechnet niemand gleich mit wilden Streiks und Maschinenstürmerei. Aber ganz so stabil wie bisher schätzen auch manche Unternehmer und Spitzenmanager die Zukunft in den heimischen Betrieben nicht ein. Norbert Zimmermann, Hauptaktionär und Vorstand der Berndorf AG: „Wer nicht mehr viel zu verlieren hat, ist bereit, ein hohes Risiko einzugehen.“ Auch Poloplast-Geschäftsführer Guntram Bock sieht eine ähnliche Gefahr: „Das sind nachvollziehbare Mechanismen: Wenn man in die Enge getrieben wird, greift man auf bewährte Muster zurück.“ Manfred Fischer, Hirtenberger-Vorstandsvorsitzender, gibt sich noch offen: „Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Aber ich glaube, der ÖGB weiß es auch noch nicht.“ Fischer schließt allerdings aus der Vergangenheit: „Die Betriebsräte sind ja gesprächsbereit, weil sie das Unternehmen nicht gefährden wollen.“ Ähnlich denkt Cornelius Geislinger, CEO von Geislinger Couplings and Dampers: „Die Betriebsräte sind näher am Unternehmen als am ÖGB.“

Clemens Malina-Altzinger, Mitbesitzer und Geschäftsführer der Welser Reform- Werke, selbst viele Jahre Verhandler für die Arbeitgeberseite, bemüht einen etwas gewagten Vergleich aus seinem Bundesland: „Wer hätte 1985 geglaubt, was aus der Voest einmal werden würde, und wie steht sie heute da?“ Er, der kaum mit dem ÖGB, sondern stets mit Vertretern der Einzelgewerkschaften zu tun hat, meint, dass „sich schrecken“ nichts bringe und vertraut auf die Professionalität der Gegenseite: „Da sind gestandene Leute darunter, die werden das wieder auf die Füße stellen.“ Strukturen statt Prozente. Freilich, gemütlicher wird es kaum werden bei den KV-Verhandlungen der nächsten Jahre. Denn abgesehen von einem vollen oder leeren Streikfonds an der Spitze der gewerkschaftlichen Pyramide, der internationale Konkurrenzdruck und die Gefahr betrieblicher Verlagerungen steht selbst in Jahren guter Konjunktur weiter ins Haus.

Poloplast-Chef Bock: „Zwei, drei Jahre hat man beim Abschluss überzogen.“ Das dürfe wegen der Wettbewerbsfähigkeit nicht so weitergehen. Hirtenberger-Manager Fischer: „Natürlich bedeutet ein zu hoher Abschluss nicht, dass ein Unternehmen gleich aufhört. Aber der Rationalisierungsdruck nimmt zu, es kommt leichter zu Auslagerungen.“

Wettbewerbsdruck im Maschinenbau: Herausforderungen und Lösungsansätze

Ähnlich spricht Walter Häder, Geschäftsführer des Wiener Maschinenbauers Cincinnati Extrusion. „Wir haben in den letzten Jahren gegenüber Deutschland an Konkurrenzfähigkeit verloren. Dort gibt es laufende Zeitkonten im Umfang von 200 Stunden, so dass kaum teure Überstunden anfallen.“ Die Gewerkschaft in Österreich sei darüber nicht gesprächsbereit. „Gesetz und Kollektivvertrag in Österreich sind zu starr“, so Häder. „Wenn man bei der Beschäftigung etwas erreichen will, muss sich da etwas tun.“ Und auch Lenzing-Vorstand Untersperger argumentiert in diese Richtung.

Er schockte als neuer KV-Verhandlungsführer Chemie die Gewerkschafter gleich zweimal: Erstens durch einen umfangreichen Forderungskatalog der Unternehmerseite, bis dahin noch nie praktiziert. Und zweitens durch einen volkswirtschaftlichen Vortrag am Beginn der Verhandlungen, in dem er auf die Gefahr großflächiger Abwanderung der chemischen Unternehmen aus Europa aufmerksam machte. Dieser Forderungskatalog der Unternehmer schlug sich dann zwar nicht wesentlich im aktuellen KV-Abschluss nieder. Laut Untersperger sei das aber auch nicht geplant gewesen: „Es geht nicht um ein Zehntelprozent, es geht um strategische, strukturelle Überlegungen. Wir werden gewisse Themen einfach längerfristig diskutieren müssen.“

Arbeitszeitflexibilisierung in der chemischen Industrie

Arbeitszeitflexibilisierungsei ein ganz wesentlicher Bestandteil dieser Diskussion. Dazu wurde eine Arbeitsgruppe zwischen Unternehmern und Gewerkschaftern eingesetzt, die Möglichkeiten in der chemischen Industrie auslotet. Untersperger rechnet mit treffen alle zwei, drei Monate. Eine weitere Arbeitsgruppe soll sich mit der Entrümpelung der allzu kompliziert gewordenen Kollektivverträge beschäftigen. Zu Ähnlichem haben sich auch die Sozialpartner in der Elektro- und Elektronikindustrie durchgerungen. „In einigen wenigen Betrieben werden konkrete Arbeitszeitmodelle getestet“, berichtet Eva Scherz von der GPA. Dies findet vor dem Hintergrund statt, dass sich in zahlreichen Unternehmen Betriebsräte und Management auf Lösungen einigen, die knapp an den Grenzen des KV entlangschlittern oder überhaupt darüber hinausgehen und quasi einen rechtsfreien Raum schaffen.

Dass sich die Gewerkschaft dabei auf dünnes Eis begibt, sprach der neue Metaller- Obmann Erich Foglar vor dem Kongress an: „Wir sind für faire Modelle. Aber wenn die Tür zur Flexibilisierung zum Nulltarif einen Spalt offen ist, ist sie bald sperrangelweit offen.“ Auslaufmodell. „Das Jahr 2000 war eine Zäsur für die Sozialpartnerschaft.“ Richard Leutner, leitender Sekretär für Grundsatzfragen im ÖGB und sozialdemokratischer Parlamentarier, erinnert sich an die Zeit des konservativen „Speed Kills“. Damals flogen der Opposition die Regierungsvorlagen nur so um die Ohren, und in schnellen Schritten peitschten die Mehrheitsparteien Gesetze durchs Parlament, die früher meist in mühsamen breiten Verhandlungen erarbeitet worden waren. „Wir sind oft mit fertigen Lösungen konfrontiert worden“, erzählt Leutner. „Man hat die Sozialpartner nicht gesucht.“ Über die „handwerklichen Schwächen“ mancher Gesetze, die dann vor dem Verfassungsgerichtshof endeten, verbirgt er seine Schadenfreude nur unwesentlich. Aber Leutner sieht auch bei der gegnerischen konservativen Koalition „eine zweite Phase“, nämlich jene nach dem großen Streik gegen die Pensionsreform 2003. Zu Fragen der Pensionsharmonisierung habe die Regierung die Sozialpartner wieder eingebunden, man konnte etliches an Abänderungen durchsetzen.

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„Das ist freilich keine Garantie für die Zukunft“, schränkt der langjährige Sozialpartner-Profi gleich wieder ein, ehe er zu freundlich zur Regierung wird. Der Wiener Politologe Emmerich Tálos kann nach seinen Untersuchungen weder die Zäsur 2000 noch jene 2003 bestätigen: „2003 hat gezeigt, dass der ÖGB in der Lage ist, eine konfliktorische Strategie zu fahren – aber nur wenn man ihn sehr reizt.“ Tálos bezeichnet die Sozialpartnerschaft insgesamt als „Auslaufmodell“, und er kann das Lachen nicht zurückhalten, wenn er von seinen Recherchen für ein Buch erzählt. Dabei konnte er unter den Wiener Spitzenbeamten niemanden finden, der wusste, wo das frühere Herzstück der Sozialpartnerschaft, die Paritätische Kommission, heute überhaupt ressortmäßig hingehört. „Das Flaggschiff gibt es nicht mehr“, so Tálos, „und es ist keinem aufgefallen.“

Sozialpartnerschaft bietet neue Chancen für ÖGB

Dass es mit der Liberalisierung der Märkte keinen Bedarf an Preiskommissionen mehr gibt, ist offensichtlich. Aber kaum jemand weiß, wie wenige Gesetze noch nach „alter“ Sozialpartner-Tradition ausgehandelt werden, nämlich im Dreieck zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und der Regierung. „Das waren in den letzten sechs Jahren gerade fünf, sechs“, so Tálos, „von einer Gesamtzahl von etwa 850 Gesetzen.“ Bis in die 90er Jahre galt das für die Mehrzahl der wirtschaftsrelevanten Materien, aber schon die großen Koalitionen unter Franz Vranitzky und Viktor Klima drängten die Sozialpartner sukzessive zurück. Dieser Prozess verschärfte sich noch unter Kanzler Schüssel, nun nominierte die Regierung auch ihre eigenen Experten und ließ jene von AK und WKO vor der tür. „Die Sozialpartnerschaft ist von der Regel zur Ausnahme geworden.“ (Tálos) Ein geschwächter ÖGB kann diese Entwicklung wohl kaum umdrehen, im Gegenteil. Die Chance auf große politische Streiks wie jenen gegen die Pensionsreform dürfte ohne umfangreichen Streikfonds deutlich kleiner geworden sein. „Man soll die Gewerkschaften nicht unterschätzen“, warnt AK-Direktor Muhm.

„Natürlich ist es besser, wenn Konflikte anstehen, dass man Geld hat – für Werbekampagnen oder Inserate. Aber man kann auch wenig Geld haben und effektiv sein, das sieht man in anderen Ländern.“ Der Schweizer Politikwissenschafter Armingeon glaubt, dass die Sozialpartnerschaft nach außen weiter bestehen wird, auch wenn immer weniger Inhalte drin sind: „Den Gewerkschaften bleibt die Sozialpartnerschaft oder nichts“, ist er überzeugt. Unter kritischeren Beobachtern auf Seite der Arbeitgeber spricht man von einer „Just-in-time-Sozialpartnerschaft“, die von der Regierung immer nur dann ins Spiel gebracht werde, wenn es ihr beliebt, und die keine eigenen Konzepte mehr erarbeiten könne. Brandherde. Der ÖGB selbst steht bis zum Bundeskongress im Januar 2007 unter enormem Druck. Denn es brennt an allen Ecken und Enden: Nach der Erstellung der Bilanz 2005 muss ein Konzept für die weitere Finanzierung des ÖGB her. Woher kann frisches Geld kommen? An der Basis des ÖGB rumort es. Soll der ÖGB als schlanke Holding starker Einzelgewerkschaftsblöcke oder doch als starke Zentrale in die Zukunft gehen? Wie kann rasch die jahrelang verschlafene Anpassung an die gesellschaftlichen Realitäten erfolgen? Im Bereich Finanzierung steht derzeit alles zur Disposition.

ÖGB im Wandel

Von den Immobilien – Stichwort Sale & Lease Back von Gebäuden – über harte Personalschnitte, die wohl über das Streichen der üppigen Zusatzpensionen hinausgehen werden, bis hin zur Zusammenlegung von Gewerkschaften, Abteilungen und Außenstellen. Letzten Endes wird sich die Frage um die Entscheidung zwischen zwei alternativen Modellen zuspitzen: Soll der ÖGB als starke Zentrale mit branchenorientierten „töchtern“ darunter konstruiert werden, oder soll der ÖGB eine schwache, schlanke Holding sein, unter der mehrere große Blöcke von fusionierten, eigenständigen Einzelgewerkschaften das Sagen haben? Ersteres will GPA-Chef Wolfgang Katzian, vor allem mit Hinblick auf die internationalen Aufgaben in der Zukunft. Letzteres wollen etwa die Metaller unter Foglar oder auch die schwarzen Beamtengewerkschafter. Arbeitsgruppen.

Der Start der Strukturreform erfolgte am 23. Mai. Unter Leitung des interimistischen Präsidenten Hundstorfer, der auch schon angekündigt hat, für die dauerhafte ÖGB-Führung zu kandidieren, sitzen alle Obmänner der Teilgewerkschaften in einer Reformgruppe. Bei kritischeren Geistern im ÖGB herrscht Zweifel, ob die handelnden Personen die Reformer für die nächsten Jahre sein können. „Es wird dann darunter weitere Arbeitsgruppen geben“, deutet die ÖGB-Sprecherin Annemarie Kramser eine Einbindung innergewerkschaftlicher Oppositioneller an. „Ich denke, das muss ein strukturierter, begleiteter Prozess sein“, empfiehlt AK-Präsident Muhm, in dessen Haus etwa die Beratergruppe Neuwaldegg bereits mehrmals Mandate zur Veränderung erhielt. Entscheidend für die Zukunft des ÖGB wird, dass er sich den gesellschaftlichen Veränderungen anpasst – teilweise ohnehin reichlich spät. „Vor vier Jahren haben wir noch kaum etwas gemacht für die atypisch Beschäftigten“, übt Sandra Stern Selbstkritik. Sie ist in der GPA in der Interessengemeinschaft für atypisch Beschäftigte work@flex bemüht, diesen zumindest grundlegende Informationen über ihre Rechte zu verschaffen.

Ähnliches gilt für Frauen. Sie machen ein Drittel der Mitglieder aus, sind aber kaum in den höheren Funktionärsebenen zu finden, und wenn vor allem in „Frauenreferaten“. Die GPA-Bundesgeschäftsführerin Dwora Stein hat sogar eine männlichweibliche Doppelspitze angeregt, und der Vorschlag wurde nicht sofort abgeschmettert. Schließlich steht im Kern die Frage, ob es gelingen wird, Arbeitnehmer in einer fragmentierten, komplexen, internationalisierten Wirtschaft davon zu überzeugen, dass gewerkschaftliche Organisation für sie persönlich Sinn macht. Es gibt – vor allem unter Angestellten – immer mehr Betriebsräte, die mit der Gewerkschaft nichts zu tun haben wollen. Beim Berufswechsel gehen alljährlich Mitglieder verloren, in kleinen und mittleren Unternehmen gibt es oft gar keine Vertretung. Und wenn sich die Gewerkschaften auf „closed shops“, also auf die Organisierung in gut verdienenden Großbetrieben und gemütlichen Ämtern zurückziehen, wo sie noch Verhandlungsmacht besitzen, dann haben sie wohl ihre Existenzberechtigung als soziales Gegengewicht verloren. Reinhard Engel Lesen Sie auf Seite 4 das Interview mit Klaus Armingeon, Experte für europäische Sozialpartnerschaften an der Uni Bern und den Überblick "Der Konzern ÖGB", die Gewerkschaften in Zahlen.

„Die Sozialpartnerschaft hat ausgedient“: Interview mit Klaus Armingeon

INTERVIEW Klaus Armingeon, Experte für europäische Sozialpartnerschaften an der Universität Bern, über den Handlungsspielraum des ÖGB und die Gefahr sozialer Konflikte.

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Professor Armingeon, in Österreich gilt die Sozialpartnerschaft beinahe als heilige Kuh. Ist sie im internationalen Vergleich wirklich so etwas Besonderes?

Armingeon: Nein. Die österreichische Sozialpartnerschaft gehört zur Familie der europäischen Sozialpartnerschaften, sie reichen von der Schweiz über die Niederlande und Belgien bis in die nordeuropäischen Länder. Diese unterscheiden sich aber doch erheblich voneinander.

IM: Was haben sie gemeinsam?

Armingeon: Der gemeinsame Nenner besteht darin, dass versucht wird, offenen Konflikt möglichst zu vermeiden und Konsens herzustellen, oft unter Einbeziehung der Regierung. Jetzt ist der ÖGB in der Krise.

IM: Es stellt sich die Frage, wohin sich die Gewerkschaften orientieren, ob sie eventuell konfliktfreudiger werden.

Armingeon: Die europäischen Gewerkschaften stehen überall vor großen Problemen. Sie haben es einerseits nicht geschafft, die Menschen in den neuen Beschäftigungssektoren und den neuen Dienstleistungsberufen zu organisieren. Und eine Reihe von Einfluss- und Steuerungsmöglichkeiten, die sie früher hatten, sind weggefallen. Etwa dass sie ihre Lohnpolitik mit der Fiskalpolitik der Regierung abstimmen konnten. Seit der Liberalisierung der Kapitalmärkte und seit Maastricht ist das nicht mehr möglich.

IM: Die Regierungen haben nicht mehr den Handlungsspielraum. Und die Sozialpartnerschaft?

Armingeon: Die alte Sozialpartnerschaft hat ausgedient, weil die flexible Abstimmung von Steuer-, Sozial-, Preis und Lohnpolitik kaum mehr möglich ist. Ein Teil ihrer Geschäftsgrundlage ist weggefallen. Zurück zu den Gewerkschaften.

IM: Ist es möglich, dass sich diese radikalisieren, wenn in der Sozialpartnerschaft nicht mehr so viel zu erreichen ist?

Armingeon: Die Gewerkschaften haben keine Chance zur Radikalisierung. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Arbeitnehmer nicht für eine radikale Politik zu gewinnen wären. Gewerkschaftsmitglieder unterscheiden sich kaum von der übrigen Bevölkerung. Oder anders gesagt: Die Gewerkschaften haben kein „klassenbewusstes Proletariat“ hinter sich, eine radikale Politik würde ohne Echo verhallen.

IM: Das heißt also, die Gewerkschaften müssten sich mit der Sozialpartnerschaft zufrieden geben, auch wenn ihr Einfluss zu Lasten der Regierung abgenommen hat?

Armingeon: Sie haben nicht so viele Möglichkeiten. Den Gewerkschaften bleibt die Sozialpartnerschaft oder nichts. Sie werden eventuell verstärkt auf medienwirksame Aktionen setzen, wie andere politische Akteure auch. Aber auch die österreichischen Arbeitgeber haben nach der BAWAG-Krise gezeigt, dass sie die Sozialpartnerschaft nicht aufkündigen werden. Und sie sind damit gut beraten.

IM: Sehen Sie auf internationaler Ebene Tendenzen hin zu größerer Schlagkraft der Gewerkschaften – sei es im politischen Lobbying in Brüssel oder bei der Formierung von internationalen Betriebsräten in multinationalen Unternehmen?

Armingeon: Harte Daten dafür gibt es nicht, auch wenn es nötig wäre. Der Aufbau eines europäischen Kollektivvertragssystems ist nicht in Greifweite.

Der Konzern ÖGB Wären die Gewerkschaften eine Unternehmensgruppe, sie würden es unter die Top 100 der Industrie schaffen. Die Zahlen sind auf ihre Art beeindruckend: Im vorvergangenen Jahr erwirtschaftete die Unternehmensgruppe unter dem Dach des österreichischen Gewerkschaftsbundes einen Umsatz von 265 Millionen Euro bei einer Bilanzsumme von 515 Millionen Euro. 2000 Mitarbeiter, nach Vollzeitäquivalent immerhin noch 1700 Beschäftigte, waren für den Gewerkschaftsriesen tätig. Die Zahlen sind freilich aus dem Jahr 2004, eine Bilanz 2005 war bis Redaktionsschluss wegen der ausstehenden Einigung in Sachen Refco/BAWAG noch nicht erstellt.

Kundenschwund. Was gehört zum Unternehmen ÖGB? Erst einmal 12 Einzelgewerkschaften, die größten unter ihnen die GPA der Privatangestellten, die soeben fusionierte Gruppe Metall-textil- Nahrung GMtN sowie die der Beamten GÖD. Darüber liegt die Holding des ÖGB, darunter ein ganzes Geflecht von regionalen und lokalen Sekretariaten. Dazu kommen Bildungszentren, eigene Immobilien und Ferienheime.

Die Kunden, sprich Mitglieder, haben in den letzten Jahren deutlich abgenommen – von 1,64 Millionen im Jahr 1990 auf 1,36 Millionen 2004. Darin sind allerdings noch Pensionisten enthalten. Im europäischen Vergleich liegt der ÖGB vom Organisationsgrad her im Mittelfeld: Um Rentner bereinigt sind in Österreich rund 36 Prozent der Beschäftigten organisiert, in Schweden zählt man 82 Prozent, in Belgien 58, in Italien 35, in Deutschland 23 und in Frankreich lediglich neun Prozent. Im Vergleich zum Rückgang der Parteimitgliedschaften in Österreich hat sich der ÖGB noch relativ gut gehalten: ÖVP und SPÖ halten bei weniger als einem Drittel ihrer einstigen Höchstzahlen. Klaffende Lücke. Die BAWAG-Krise wird für den ÖGB dramatische ökonomische Auswirkungen haben. Nach Befriedung der US-Forderungen dürfte vom Verkaufspreis der Bank kaum etwas für die Gewerkschaften übrig bleiben.

Die Dividendenzahlungen der BAWAG hatten in den letzten Jahren mitgeholfen, die größer werdende Differenz zwischen Mitgliedsbeiträgen und Aufwand abzudecken. Rechnet man atypische Aufwendungen von 2004 heraus, so klafft beim ÖGB künftig eine jährliche Lücke in der Größenordnung von 65 Millionen Euro oder fast 25 Prozent. Da die Mitgliedsbeiträge kaum nennenswert anzuheben sind, wird man auf der Ausgabenseite harte Schnitte vornehmen – sowohl beim Personalstand als auch bei den freiwilligen Pensionsleitungen. „Wir haben vereinbart, dass wir momentan noch keine Details zu den Verhandlungen sagen“, so Rudolf Kernstock, Betriebsratsvorsitzender des ÖGB Niederösterreich, zu den eigenen KV-Verhandlungen. Kurzfristig dürfte ein großer Abverkauf ÖGB-eigener Bürohäuser erfolgen, teilweise wohl mit Lease-back- Verträgen zur eigenen Nutzung. Die WKO hat Ähnliches übrigens schon vor Jahren gemacht.

Auch die Durchforstung zusätzlicher, nicht zum Kerngeschäft gehörender Angebote wird rigoros sein, etwa von Ferienheimen, Hotels oder Immobilienfirmen. Wie viel sich in der eigenen Verwaltung einsparen lässt, sprich im „Back Office“ von Zentrale und Einzelgewerkschaften, wird erst nach Feststehen der neuen Struktur klar sein. „Aber wir brauchen sicher nicht 12-mal Rechnungswesen und 12 Bildungsreferate“, so Eisenbahn-Gewerkschafter Wilhelm Haberzettl. „Hinausgehen und argumentieren.“

Es gibt freilich auch offensivere Zugänge. NÖ-Gewerkschafter Kernstock, der als Kremser Bezirkssekretär an der Basis arbeitet und sich mit Interventionen bei Betrieben wegen ausstehender Lohnzahlungen herumschlägt: „Wenn es einer Versicherung schlecht geht, verstärkt sie den Außendienst.“ Und der Metaller-Jugendsekretär Gerald Kreuzer kann aus seiner Organisation von beachtlichen Erfolgen berichten: In den letzten vier Jahren erhöhte man die Mitgliederzahlen von 14.600 auf 15.900. „Natürlich spielt da auch unser Freizeitangebot eine Rolle“, so Kreuzer. Aber die Jugendlichen spüren auch den raueren Wind am Arbeitsmarkt und sind für gewerkschaftliche themen anzusprechen. „Dafür muss man hinausgehen und argumentieren“, weiß der Funktionär. „Mit einem Flugblatt allein hat man noch kein Mitglied geworben.“ Reinhard Engel