Agrana bis Semperit : Ökos in der Industrie: wer sie sind und wie sie ticken
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Noch lässt sich vergnügt durch die Natur strolchen. Manch Weiher schöngeistig bestaunen. Das stumme Lied der Libelle erhören. Und im Luxus heimischer Gefilde wird man sich fragen: Warum mit wunder Seele in die Zukunft schauen? Dann folgen Extremwetterereignisse wie Flut und Dürren. Der Verlust der Artenvielfalt und Biodiversität lassen aufschrecken - wie internationale Krisenhorte. Und es wird wieder klar: Dem globalen Warm-up müssen Grenzen gesetzt werden.
Vornehmlich auch dort, wo es noch recht gemütlich zugeht: In den weit entwickelten Industrienationen der ersten Welt. Die EU gibt dafür die Leitschnur vor. Die Tatsachen haben vielfach nun die Unternehmen zu schaffen. Auch jene, in denen Ressourceneffizienz längst einen Stammplatz hat, rituell "einfach dazugehört" und tief in die DNA der Organisation eingeschrieben ist. Das bietet spannende neue Blickwinkel in Unternehmen - und der Spezies Nachhaltigkeitsmanager Raum zur Entfaltung. Fünf grüne Umdenker im Porträt.
Die Tempo-Macherin: Ulrike Middelhoff, 44, Agrana
Mit Nachhaltigkeit als Querschnittsmaterie kommt die Sustainability Managerin bestens zurecht. Bei hitzigen Klimadebatten bleibt sie cool.
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2012 legte Ulrike Middelhoff mit dem Aufbau eines strukturierten Konzern-Nachhaltigkeitsmanagements bei Agrana los. Seither empand sie den Job zu keiner Sekunde als "eindimensional oder gar langweilig", erzählt die 44-jährige Handelswissenschafterin. Nachhaltigkeit sei eine Querschnittsmaterie, beim international tätigen Veredler agrarischer Rohstoffe in den Segmenten Frucht, Stärke und Zucker betrifft sie viele, "ich würde sagen fast alle Unternehmensfunktionen", so Middelhoff.
Im Bereich der Rohstoffbeschaffung ist das Unternehmen Betroffener des Klimawandels, durch seine energieintensiven Prozesse freilich auch Mitverursacherin. "Jedoch auch Teil der Lösung, denn es bietet Produkte aus erneuerbaren Rohstoffen zum Ersatz von fossilen Produkten an", sagt Middelhoff.
Diese Produktpalette auszubauen und Industriekunden Vorprodukte zu liefern, die ihre Umweltleistung verbessern, sei - neben der Verkleinerung des eigenen CO2-Fußabdrucks bis hin zur klimaneutralen Wertschöpfungskette - wesentliches Ziel der nächsten Jahre", sagt die Expertin. Der durchaus hitzigen Debatte um die Vorreiterrolle der EU - Stichwort Golden Plating - kontert sie mit Konfuzius: „Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt“. Diesen ersten Schritt müsse jemand auch tatsächlich setzen. Ebenso dürfe man sich dann aber auch ein "unverzügliches regulatorisches Nachziehen großer Emittenten-Nationen" erwarten.
ZUR PERSON
Ulrike Middelhoff studierte Handelswissenschaften an der WU Wien und war ab 2001 im Kommunikationsbereich als Public Relations beziehungsweise Investor Relations Manager bei Industrie- und börsennotierten Unternehmen tätig. 2007 startete sie als Konzernsprecherin bei Agrana-Beteiligungs-AG und übernahm 2012 den Aufbau eines strukturierten Konzern-Nachhaltigkeitsmanagements.
Die Beseelte: Sabine Schellander, 43, Semperit
Im Gummikonzern Semperit fand die Landschaftsplanerin genau die richtige Perspektive - und schafft dort als Group Sustainability Manager eine ebensolche für die ökologische Transformation des Unternehmens.
Wenn Sie so in die Welt blicke, erzählt Sabine Schellander, vereine ihr Nachhaltigkeitsherz oft beide Gefühle: "Sorge und Freude". Einerseits sei es erschreckend, wie lange manche Entwicklungen brauchen. Anderseits "geht im selben Augenblick sehr viel voran, über das man sich freuen kann", so die 43-jährige. Letztlich sei es immer eine Frage des Blickwinkels. Perspektive schafft auch ihr Job: Seit 2018 managt sie bei Semperit die Nachhaltigkeit, oder wie sie selbst sagt, den "natürlichen Spannungsbogen zwischen einem Unternehmen der Gumminindustrie und der Nachhaltigkeitsthematik". Langweilig werde es da nicht. "In der Nachhaltigkeit gibt es keine Routine - siehe EU-Taxonomie oder Lieferkettengesetz", sagt Schellander. Die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen sowie mit externen Stakeholdern sei entscheidend. Ihre Ziele verfolge Schellander mit Hartnäckigkeit, Charme und einer "ordentlichen Portion Fingerspitzengefühl". Man müsse "wohl Träumer und Realist in einem sein, um Entwicklungen erfolgreich voranzutreiben, sie auch auf den Boden zu bringen und dabei gleichzeitig die Menschen nicht zu überfahren."
ZUR PERSON
Nach Abschluss ihres Studiums der Landschaftsplanung und -pflege an der Boku arbeitete die gebürtige Wienerin Sabine Schellander zunächst im Bereich Werbung und Marketing. Nach der Geburt Ihrer mittlerweile 13-jährigen Tochter wandte sie sich dem Bereich Nachhaltigkeit zu. Seit zwölf Jahren ist Schellander nun als Nachhaltigkeitsexpertin für verschiedenste Stakeholder wie eine NGO oder die öffentliche Hand sowie beratend tätig. Im September 2018 übernahm sie die Funktion der Group Sustainability Managerin bei der Semperit AG Holding. Neben ihrer Neben ihrer beruflichen Tätigkeit absolvierte sie ihr zweites Studium „Social Innovation“ an der Donau Uni Krems.
Der Netzwerker: Martin Berlekamp, 53, Schur Flexibles
Als Head of Sustainability beim Verpackungslösungshersteller Schur Flexibles denkt er Verpackungen radikal neu. Die Alternativkarriere als Farmer in Finnland - ein Lebenstraum - muss warten.
Als Farmer in Finnland, lässt Martin Berlekamp seine Gedanken für eine Sekunde in entlegenere Regionen galoppieren, würde er sich grundsätzlich auch "sehr wohl" fühlen. Doch eigentlich hat er hier den "großartigsten Job der Welt": Beim Wiener Neudorfer Hersteller von Verpackungslösungen Schur Flexibles managt der gebürtige Münsteraner, der auf über zwei Jahrzehnte Erfahrung in der Kunststofffolienindustrie verweisen kann, seit 2018 die Nachhaltigkeit. Bei einem Arbeitgeber, der diese quasi in der DNA hat. Und Berlekamp auf seiner Mission volle Unterstützung angedeihen lässt: Ihn treibt an, Verpackung neu zu denken und die Vor- und Nachteile verschiedener Lösungen neutral zu bewerten. Man sei ein Team von drei Leuten, "sehr erfahren und motiviert", sagt er. Jede Neuentwicklung werde auf die Recyclierbarkeit überprüft, mit etwas Glück erfolgt dann die Freigabe eines Entwicklungsauftrags.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe da die gesamte Wertschöpfungskette. Der Einsatz alternativer Rohstoffe aus erneuerbaren Rohstoffen zweiter Generation sei so ein Thema, in das Berlekamps Herzblut fließt. "Wir haben sehr viel verfügbare Biomasse, die aber derzeit nicht genutzt wird", sagt er. Besonders interessant: Rückstände aus anderen Industrieprozessen, die in regelmäßigen und vergleichbaren Mengen anfallen. "Etwa Tallöl aus der Holzindustrie", so der Experte.
Der Plan, die Produktionsstätten in Europa bis 2025 Schritt für Schritt klimaneutral umzugestalten, steht laut Berlekamp. Kooperationen machen neue Kräfte frei: Etwa mit dem Startup Recycda. Es baut das eine internetbasierte Plattform auf, die Aufschluss über die Recyclingfähigkeit in unterschiedlichen Ländern - samt Richtlinien und Guidelines - gibt.
Als Hersteller von Verpackungsmaterialien könne man jedenfalls einiges bewegen. Am Ende aber müsste es auch bei Verbrauchern 'klick' machen. "Es macht keinen Sinn, biologisch abbaubare Bonbonpapiere in den Markt zu bringen, so Berlekamp. Vielmehr müsse schon unseren "Kindern beigebracht werden, nichts in der Natur wegzuwerfen, sondern eben im Abfallbehälter". Was Berlekamp zuversichtlich stimmt: Die offene Diskussion über den gesellschaftlichen Nutzen von Kunststoffverpackungen. Berlekamp: "Plötzlich kann man mit Supermarktketten, Kunden und NGO’s offen über Fakten sprechen".
ZUR PERSON
Martin Berlekamp studierte nach seinem Abitur in seiner Heimatstadt Münster Chemie. Nach seiner Promotion 1995 arbeitete er ein knappes Jahr als post doctoral graduate an der Univerität Jyväskylä, Finnland. Anschließend war er drei Jahre in einem mittelständischen Unternehmen für Holzbehandlungsprodukte als Produktmanager und Leiter der Anwendungstechnik tätig. 1999 wechselte er in die Hartfolienindustrie. Seit 2018 ist er bei Schur Flexibles.
Der Tabubrecher: Stefan Grafenhorst, 41, Greiner
Als Global Head of Sustainability & Corporate Affairs bei Greiner stellt der frühere Entwicklungshelfer nicht weniger als das System auf den Prüfstand.
Stefan Grafenhorst gibt sich keiner Illusion hin. Die Klimakrise mit balsamischen, besänftigenden Worten wegzureden, das geht sich nicht mehr aus. Dann vielleicht mit sanftem Gegendruck alles wieder ins Lot bringen? Wohl kaum. "Wir müssen Tabus brechen", sagt er. Und wirklich "alles hinterfragen". Denn Klimawandel, Hungersnöte, Plastikmüll in den Meeren und Artensterben würden uns zeigen, dass "unsere Zukunft fundamental anders aussehen muss", sagt Grafenhorst. Zumindest unter der Prämisse, nachfolgenden Generationen auch noch etwas von den schönen Seiten des Planeten zu hinterlassen. Um eine Veränderung herbeizuführen, dafür sieht sich Grafenhorst im Unternehmen Greiner an denkbar guter Stelle positioniert: "Die Systemfrage" auf Seiten eines Unternehmens zu stellen, das nachweislich Mehrwert produziert, "aber eben auch einen massiven ökologischen Fußabdruck hat, darin besteht der große Reiz", so Grafenhorst.
Bis 2030 soll es gelingen, das 12.000-Mitarbeiter-Unternehmen klimaneutral zu machen. "Daneben betreiben wir eine Transformation hin zu einem umfassend zirkulären Unternehmen", erzählt er. Im Einklang mit der Umwelt zu produzieren sei das übergeordnete Ziel. Dazu müssten aus Mitarbeitern "Nachhaltigkeitsaktivisten" werden. "Es gilt zu zeigen, dass Kunststoffe und Nachhaltigkeit nicht im Widerspruch zueinander stehen".
Optimist ist Grafenhorst ohnehin. Nicht einmal die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der der Amazonas-Regenwald abgeholzt werde, nimmt ihm den Mut: Er sei unterm Strich optimistisch. Denn er sehe eine gesellschaftliche Mehrheit, "die den Raubbau an der Natur nicht länger toleriert".
ZUR PERSON
Stefan Grafenhorst, studierter Politikwissenschaftlicher, hat vor seiner Zeit bei Greiner in ganz unterschiedlichen Bereichen Erfahrung gesammelt. Nach dem Studium war er zunächst fast vier Jahre als Berater in einer Strategieberatung in Brüssel tätig, es folgten Tätigkeiten als Entwicklungshelfer in Afrika und später als politischer Berater im Bundestag in Berlin. Nun trägt er als Global Head of Sustainability & Coroprate Affairs die Verantwortung für den weltweiten Transformationsprozess bei Greiner.
Die Progressive: Karoline Angerer, 33, Mondi
Dass Themen wie Klimawandel und Plastikmüll in den gesellschaftlichen Fokus rücken, begrüßt die Boku-Absolventin. Auch, dass der Druck auf Unternehmen steigt.
Sehr unmittelbar gemeinsam etwas zu bewirken: Das macht den Job von Karoline Angerer so großartig. Seit 2019 verantwortet die Boku-Absolventin bei Mondi für die Bereiche Kraft Paper und Paper Bags in Wien die nachhaltige Poduktentwicklung und -herstellung. „Nachhaltigkeit beginnt schon beim Design, so die 33-jährige. Und Papier biete aus dreierlei Gründen eine tolle Ausgangssituation dafür, dass die ökologische Gleichung stimme: "Es ist ein nachwachsender Rohstoff, kreislauffähig und Zertifizierungen unterstützen die Beschaffung aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern“, schildert Angerer.
Mit dem beschlossenen Zehn-Jahres-Aktionsplan für Nachhaltigkeit setzte Mondi zu Jahresbeginn ein Ausrufezeichen. Das schafft "quer durchs Unternehmen eine verbindliche Basis, in Systemen neu zu denken", so die Spezialistin für Umwelt- und Bioressourcenmanagement. Dass Themen wie Klimawandel und Plastikmüll immer mehr in den gesellschaftlichen Fokus rücken, begrüßt Angerer. Auch, dass der Druck auf Unternehmen steigt: "Konsumenten haben viel Macht, wenn es darum geht, nachhaltigen Wandel zu realisieren", sagt sie. Ihre Mantren? "Perspektivenvielfalt, Bewusstseinsbildung, Neugierde, Innovation, Ausdauer und Durchsetzungsfähigkeit."
ZUR PERSON
Karoline Angerer absolvierte die Universität für Bodenkultur und die FH Technikum in Wien, die Schwerpunkte liegen auf dem Umwelt- und Bioressourcenmanagement. Anschließend arbeitete sie unter anderem für den Wirtschaftsprüfer EY und die österreichische Lebensmittelkette Hofer. Seit Oktober 2019 ist sie für Mondi als Sustainable Product Manager Kraft Paper und Paper Bags in Wien tätig. In dieser Funktion verantwortet sie die nachhaltige Produktentwicklung und -herstellung von Verpackungen für beispielsweise Zement- und Nahrungsmittelindustrie.
Dieser Beitrag erschien erstmals im August 2021.