Industrie 4.0 : Wie künstliche Intelligenz die Industrie verändern wird

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Interview mit Marcus Kottinger

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Kottinger, wie definieren Sie eigentlich künstliche Intelligenz?

Marcus Kottinger: Im Zusammenhang mit Watson IoT spreche ich lieber von einem kognitiven System. Es versteht Zusammenhänge, es zieht Schlussfolgerungen, und es ist lernfähig. Ob die Daten von einem Fahrzeug kommen, einem Smartphone, einer Wetterstation oder diversen elektronischen Bauteilen, ist dabei egal. Ebenso die Form: Watson IoT kann Schrift genauso verarbeiten wie gesprochene Sprache oder Bilder. Es ist ein Expertensystem, das von Menschen trainiert wird – und nicht umgekehrt.

IM: Und wieso braucht das die Industrie?

Kottinger: Weil das menschliche Gehirn mit der Menge an zu verarbeitenden Informationen immer häufiger überfordert ist. Wir konnten damals mit dem Sieg von Watson in der Jeopardy-Show beweisen, dass wir derartiges programmieren können. Watson IoT ist nun eine Evolutionsstufe, mit der wir die rein digitale Welt verlassen und die noch nicht vernetzte Welt betreten, um sie zu vernetzen. Und aus der Sicht der Konsumenten sind viele Lösungen ganz einfach unbefriedigend. Ich habe im Moment zwei Smartphones, ein Tablet und eine Menge Schlüssel bei mir. Ich will das nicht, ich will ein Produkt, das alles abdeckt. Glauben Sie mir, in zehn Jahren werden Sie kein Smartphone mehr besitzen.

IM: Sondern?

Kottinger: Wahrscheinlich in die Kleidung integrierte Elemente, die mit dem Internet und mit Ihnen kommunizieren. Dazu Gebäude oder Einrichtungen in Gebäuden, die Ihnen als Display dienen, wenn Sie eines brauchen. Funktionalitäten, die Sie heute schon in Fahrzeugen sehen. Beim Mobile World Congress in Barcelona gab es heuer vieles zu sehen, nur keine Mobiles. Stattdessen: vernetzte Autos, Brillen, Bekleidung.

IM: Wer sind denn Ihre Ansprechpartner in der Industrie?

Kottinger: Alle jene, die eine Anlage fertigstellen. Das kann ein Gebäude sein, ein Fahrzeug, eine elektrische Anlage. Im Retail-Bereich ist es die Marke. Parallel dazu sprechen wir natürlich mit den Logistikern. Die wissen ja am besten, dass sie teilweise leer unterwegs sind – und vor allem, wie unbefriedigend das ist. Es gibt also zwei Bedarfe: erstens, die Effizienz zu erhöhen oder überhaupt erst zu erzeugen. Und zweitens, das Richtige zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu liefern.

IM: Das ist die Lehrbuch-Definition von Logistik. Sie sagen also den Logistikern, dass sie ihre Grundfunktion unzureichend erfüllen?

Kottinger: Und die sind meistens gar nicht überrascht. Dabei sind die Herausforderungen ja klar, und die Diskussionen, die wir führen, sind mehr als ein Jahrzehnt alt. Vor 25 Jahren haben wir begonnen, über eine digitale Logistikkette ausgehend vom sprechenden Kühlschrank nachzudenken. Und es funktioniert noch immer nicht. Dabei ist das damalige Hauptproblem längst lösbar: Damals kam der große Aufschrei, dass man RFID ja nicht abschalten kann, wenn der getaggte Joghurtbecher in der Wohnung steht, womit man sich im schutzwürdigen Datenbereich befindet. Mittlerweile sind wir aber so weit, dass wir Lebensmittel durch Video-Erkennung identifizieren können. Man muss das System nur darauf trainieren.

Marcus Kottinger
IT Project Manager VIG IT Digital Solutions CEE
Marcus Kottinger ist OVE-Referent für Digitalisierung und IoT. - © https://www.ove.at/ove-academy/seminare/referentinnen/kottinger-marcus/

IM: Haben Sie den Eindruck, dass in der Logistik besonders viel Modernisierungsbedarf besteht?

Kottinger: Teilweise ist das wohl so. Das betrifft öffentliche Logistikunternehmen ebenso wie Fertigungsbetriebe. Wenn ich heute bei Amazon ein Buch bestelle, weiß ich ganz genau, wann das im Briefkasten liegen wird. In der fertigenden Industrie ist das noch immer nicht möglich. Und niemand weiß, warum eigentlich. Um das zu ändern, muss man sich zwei Entwicklungen klarmachen. Zum einen war der technologische Fortschritt der vergangenen Jahre so rasant, dass man sich plötzlich vieles leisten kann, was noch vor kurzem unerschwinglich war. Und zum anderen bedingen die vernetzten Welten, dass sich Partner an einen Tisch setzen, die in der Vergangenheit keine Partner waren. Zulieferer, Fertiger, Retailer, Logistiker, Endkunden – man muss die gesamte Kette durchgehend abstimmen, jeder muss wirklich vom Gleichen sprechen. Digitalisierung funktioniert nur über Netzwerke, in denen die Unternehmen zusammenarbeiten. Mit diesem Thema hadern aber selbst die wirklich großen Unternehmen in Österreich immer noch.

IM: Während sie längst von Google und Amazon vor sich hergetrieben werden?

Kottinger: Ja, leider, vor allem auch in der Logistik. Dabei bin ich überzeugt, dass wir zum Beispiel im Energiebereich vieles auch selbst zusammengebracht hätten. Nehmen Sie das Beispiel Nest Labs: Hätten wir 2004 das Thema Smart Grid richtig in Angriff genommen, hätten wir solche Lösungen relativ einfach in die Welt gesetzt. Und gerade die österreichischen Retailer sind ja innovativ, die haben großartige Ideen.

IM: Wo steht denn die heimische Industrie in Ihren Augen?

Kottinger: Das ist sehr unterschiedlich, am weitesten sind der Automotive- und der Fertigungsbereich. Spannend ist hier allerdings die Diskussion „Weg vom Fließband“: Weil sich die Unternehmen seit Jahren mit Smart Factory beschäftigen, kommt immer öfter die Idee auf, wieder auf Inseln zurückzugehen und hier eine Interaktion zwischen Roboter und Mensch zu schaffen. Das ist einer der wenigen Bereiche, in denen unsere Technologie auch in der Fertigung noch viel erreichen kann. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass es zu einer Verschmelzung der Industrien kommen wird. Wo wir heute Zulieferer, Retailer oder den Finanzbereich sehen, werden dann Produzenten stehen, die direkt mit dem Endkunden sprechen.

IM: Die kognitiven Systeme, die uns dorthin führen sollen, lösen auch Ängste aus.

Kottinger: Die Maschinen werden immer kompetenter, aber nicht kompetenter als der Mensch. Das ist ein wesentliches Element. Watson IoT ist kein vollautomatisches System, der Mensch bleibt natürlich immer Kontroll- und Bewertungsinstanz! Wir wollen kein neuronales Netz nachbauen, das ist auch nicht möglich, da wir nicht aus einer Metaebene herab unser eigenes Gehirn verstehen können. Kognitive Systeme werden uns immer mehr zu einer Wissensgesellschaft machen. Das Steuern und das Analysieren werden zugunsten des richtigen Entscheidens in den Hintergrund treten. Und das wird unser Leben bereichern. Auch die Alterspyramide spricht für diese Entwicklung. Wir erleben schon jetzt Arbeitskräftemangel in vielen Industrien. Hinzu kommt, dass in den kommenden Jahren viele Experten in Pension gehen werden, und die Unternehmen sagen uns: Bringt uns irgendetwas, das dieses Wissen auffangen und erhalten kann! Die Entwicklung wird uns übrigens auch ermöglichen, in einem Hochlohnland fast jede Tätigkeit umzusetzen. In Zukunft produziert man in China für China, aber nicht, um irgendetwas zu reimportieren. Unter dem Strich werden hier Arbeitsplätze und Wertschöpfung zurückgewonnen.

Zur Person

Marcus Kottinger ist Industry & Life Sciences Solutions Architect bei IBM. Er betreut seit 2014 die europäischen Kunden und Partner im Rahmen der Digitalisierungsstrategie für Watson IoT. Kernbereich sind Unternehmen in den Industriebereichen Telekommunikation, Energieerzeugung und -verteilung, öffentliche Infrastruktur und Management im städtischen Bereich (Smart Cities). Zuvor arbeitete der gebürtige Salzburger für Siemens sowohl auf europäischer Ebene als auch in CEE in den Bereichen Gebäude- und Anlagenmanagement, Energieeffizienz und Strategieentwicklung im Bereich Asset Management und Smart Building.

Wer ist Watson?

Von der KI-Grundlagenforschung zum kommerziellen Praxiseinsatz: Watson ist heute in den unterschiedlichsten Branchen aktiv.

2011 machte IBM Watson weltweit Furore. In der US-Quizshow Jeopardy besiegte das System zwei der weltbesten Spieler und bewies damit, dass es (ohne Internetanbindung) auch die mitunter mehrdeutig gestellten Fragen des Moderators schneller beantworten konnte als der Mensch. Heute ist das System der Phase der Grundlagenforschung entwachsen und als „Watson IoT“ ausschließlich in kommerziellem Einsatz.

Die Fähigkeit zu lernen kommt etwa bei einem großen Zementhersteller zum Tragen. Nachdem aufgefallen war, dass die Zementwerke abweichende Qualitäten lieferten, wurde die unterschiedliche Handhabung der Regelwerke durch die einzelnen Leitstand-Leiter als Ursache identifiziert. Das System wurde auf jene Mitarbeiter geschult, deren Einstellungen die besten Ergebnisse brachten, und heute macht es Vorschläge zur Mischung.

Die Fähigkeit der Informationserkennung wird etwa im Healthcare-Bereich eingesetzt. In einem US-Spital durchforstet Watson interne medizinische Informationen, das Internet und sogar Research Papers nach relevanten Informationen für die einzelnen Ärzte. Darüber hinaus analysiert das System Röntgenaufnahmen und weist die Mediziner auf verdächtige Funde hin. Die Bilderkennung kommt etwa auch im Versicherungs-Bereich in der Schadensermittlung zum Einsatz.

Benannt ist das System übrigens nicht nach Sherlock Holmes’ Freund sondern nach dem legendären ehemaligen IBM-Chef Thomas J. Watson.