IM-Expertenpool: Lean Management : Toyota versus Tesla – Wandel in der Automobilindustrie

Mein erster Job nach der Promotion als Physiker führte mich in Industrie, genauer gesagt zu einem großen deutschen Automobilhersteller, dem mit dem Stern. Ich hatte dort die großartige Möglichkeit viel zu lernen und durfte eine Expertenausbildung zum Kaizen-Trainer und Lean-Experten durchlaufen. Dabei hatte ich das Glück, dass ich auch von ehemaligen Toyota TPS-Experten ausgebildet wurde.

Die Idee

Lange galt Toyota als Leuchtturm, denn die Idee zu „Lean“ war von Toyota inspiriert bzw. abgeschaut. Das Interessante an der ganzen Angelegenheit ist, bei Toyota verwendet niemand den Begriff „Lean“. Wenn überhaupt, spricht man dort von „Kaizen“ und das ist keine Erfindung irgendwelcher Wirtschaftsexperten, sondern eine in der japanischen Kultur seit dem 16. Jahrhundert verwurzelte innere Haltung. Deren Kernwerte bestehen aus Selbstreflexion, dem Bewusstsein für beschränkte Ressourcen, der Orientierung an der Zielgruppe und einer humanistischen Haltung. Bei Toyota hat man einfach die Probleme, die einem begegneten, nicht weggeredet, sondern transparent gelöst. Dabei werden Menschen im Unternehmen mitgenommen und das Handeln auf diejenigen ausgerichtet, um die es primär geht, nämlich die Kunden.

Die Umsetzung

Viele Berater und Lehrende an Hochschulen versuchen bis heute das, was man mit Begriffen wie „Unternehmertum“ und „Verantwortung“ sowie „gesunder Menschenverstand“ zusammenfassen kann, in methodische Strukturen zu gießen. Diese sollen einem suggerieren, dass man den Erfolgsweg, den man bei Toyota gesehen hat, einfach implementieren kann. An diesen Irrglauben werden immer wieder neue Schlagwörter angedockt. Das führte zu Kreationen mit Digitalisierung, Agilität, New Work und anderen Phrasen, die meist genauso leer sind, wie der Begriff „Lean“ allein schon ist. Wie sinnlos das ist, kann man auch daran erkennen, dass es viele, oft kleinere, Unternehmen weltweit gibt, die von all diesen Berater-Bullshit-Begriffen noch nie etwas gehört haben, aber trotzdem sehr innovativ sind und dabei gute, ausgereifte Prozesse haben.

Neue Ideen

Ein solches kleines Unternehmen hat vor über einem Jahrzehnt in Kalifornien begonnen, die Automobilwelt umzukrempeln. Es ist mittlerweile ein milliardenschwerer Weltkonzern, der die Autoindustrie, die wir bis dato kannten, ad absurdum führt. Die Rede ist natürlich von Tesla. Ein Unternehmen, das noch immer von Vielen als Automobilunternehmen gesehen wird, obwohl es ein IT-Unternehmen ist, dessen Front-End nur aussieht wie ein Auto.

Gerade die deutschen OEMs haben noch immer keinen Weg gefunden, mit diesem, von ihnen oft verspotteten, Tech-Unternehmen aus Fremont richtig umzugehen. Sie glauben, es ginge noch immer und auch in Zukunft um „geile Karren“, um Autos als emotionale Produkte.

Solange sie das tun, braucht sich Elon Musk, das wohl bekannteste Gesicht hinter Tesla, keine Sorgen machen. Auch wenn die Fahrzeuge mit der unglaublichen Beschleunigung und dem stylischen Design aktuell emotionale Fahrerlebnisse triggern, weil es noch viele altmodische Kunden gibt, so hat Tesla längst etwas anderes im Sinn: Nämlich ein datenbasierter Mobilitätsdienstleister zu sein, der dazu auch regenerative Energieerzeugung kombiniert.

Musks Ideen gehen noch weiter, denn Aktivitäten wie Hyperloop, SpaceX, StarLink, ein weltumspannendes Satellitennetz zur globalen Netzabdeckung, sowie die mittelfristig autonom fahrenden Autos von Tesla samt Ladeinfrastruktur dienen einem wesentlich Kundenwert: Der nachhaltigen und ganzheitlichen Mobilität, auch über den Raum des Planeten Erde hinaus. Das klingt sicher nach Träumerei, aber es waren immer Träumer und Visionäre, die Innovation und Wohlstand brachten und nicht diejenigen, die an Altem festhielten und neue Ideen stets als unmöglich abstempelten.

Neue Produkte

Wie sieht die Automobilindustrie diese Entwicklung? Lange Zeit war Toyota der Primus in Bezug auf Kundenorientierung, schlanke Prozesse und die Einbindung der Mitarbeitenden. Gewiss macht das japanische Unternehmen auch heute noch viel richtig, aber sie sind auf die Kunden der Gegenwart fixiert. Nach wie vor, genauso wie die Wettbewerber aus Deutschland, handelt es sich um klassische Blechbieger, die IT und Daten als ergänzendes Element für das vermeintliche Primärprodukt „Auto“ verbauen.

Bei Tesla ist das Primärprodukt die regenerativ betriebene Mobilitätsdienstleitung, das Auto nur ein Mittel zum Zweck. Und auch für diese eine Ressource, die man oft irrtümlicher Weise als E-Auto ansieht, ist man längst neue Wege gegangen. Steuergeräte gibt es nicht mehr. Aktuelle Modelle verfügen über eine zentrale Steuereinheit genannt „Hardware 3“, deren Kernstück ein „Full-Self-Driving-Computer“ ist, der über maßgeschneiderte KI-Chipsätze verfügt. Als Konsequenz daraus ist man nicht nur bei der KI deutlich weiter, auch bei Themen rund um Cyber-Sicherheit setzt man wichtige Maßstäbe, da dies vitale Elemente der Gesamtarchitektur sind. Wenn man die Produkte von Tesla schon als „E-Auto“ bezeichnet, wäre der Begriff „IT-Auto“ sinnvoller.

Neue Denkweise

Als Konsequenz dieser immer deutlicher werdenden Entwicklung, die in weiten Teilen nur langsam verstanden wird, kommen nun Fragen auf, die „Lean“ und all das, was damit in Zusammenhang gebracht wird, auf den Prüfstand stellen. Dieses Infragestellen ist gut und richtig und nach meiner Erfahrung längst überfällig, haben doch die meisten Toyota und deren Erfolg in Wahrheit nie richtig verstanden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Momentan wird die Frage laut, was man tun müsse, um wie Elon Musk von Tesla oder Jeff Bezos von Amazon zu denken. Wieder versucht man diejenigen, die offenbar einiges richtig gemacht haben, zu kopieren. In ihre Handlungen wird eine Systematik hineininterpretiert, die man dann methodisch als Beratungsansatz anwenden und implementieren soll.

Überzeugung als Antriebskraft

Diese Versuche sind von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Vielleicht wird es einigen unseriösen Beratern wieder Umsätze bescheren und unter den Blinden wird es ein paar einäugige Könige geben. Aber man muss vielmehr verstehen, was solche Disruptoren wie Musk oder Bezos antreibt: Es ist, zumindest am Anfang, als deren Idee entstanden ist, nicht die Gier nach Profit. Es ist eine Überzeugung gepaart mit Mut und Risikobereitschaft. Keiner dieser Protagonisten, und das gilt für alle anderen Macher, haben ihren Erfolg geplant. Sie waren überzeugt, dass ihre Idee für die Kunden und die Gesellschaft einen Mehrwert bringt. Der Weg war nie einfach, es gab und gibt enorme Widerstände und Zweifler, die ihre Wege kreuzten. Da die Überzeugung und der Mut größer waren, haben sie durchgehalten. Und was wäre, wenn es schief gegangen wäre? Ja, das hätte passieren können und ist vielen anderen mutigen Unternehmern auch passiert. Steve Jobs war nicht immer der Macher, wie man ihn oft kennt. Apple war zeitweise so gut wie pleite. Der Tesla Roadster auf Basis der Lotus Elise hat dem Unternehmen viel Geld gekostet. Die ersten Supermärkte von Amazon waren auch ein Desaster. Aber das nennt sich unternehmerisches Risiko.

Kundenverständnis als Basis

Wenn wir verstehen wollen, was den Erfolg von Toyota in der Vergangenheit und den von Tesla heute ausmacht, müssen wir uns davon verabschieden, in implementier- und planbaren Methoden und Vorgehensweisen zu denken. Wir dürfen nicht versuchen, Denkweisen von Elon Musk oder Jeff Bezos zu kopieren. Man muss verstehen, was sie antreibt und daraus die eigene Denkweise und den eigenen Weg entwickeln. Ja, da ist sie wieder: Die Kreativität – die muss jede Person selbst entwickeln.

Das fängt beim Verständnis der Kunden von heute und morgen an, geht weiter über die dazu gehörigen Lösungen in Form von Produkten und Dienstleistungen und endet beim Design der Prozesse und ganzer Organisationen. In all diesen Bereichen vom Groben bis hin in die feine und höchste Granularität braucht es ein gemeinsames Verständnis des von den Kundenwerten abgeleiteten großen Ganzen. Ob es der richtige Weg ist? Man wird es erst dann sehen, wenn man es versucht. Bis dahin bleiben es nur Annahmen. Versucht man es nicht, tun es andere. Und wenn diese zunächst scheitern, erlangen sie damit auf jeden Fall eines: Einen Wissensvorsprung.