IM-Expertenpool: Lean Management : „Lean is always mean“: Warum „Lean” schon immer ein Irrweg war

"The Machine that changed the World"

Das berühmte Buch der drei MIT-Wissenschaftler Womack, Jones und Roos, das den Begriff „Lean“ maßgeblich etablierte, versuchte zu verstehen, warum Toyota in den 1980er Jahren erfolgreicher als die US-amerikanische Konkurrenz war. Bei ihren Erkenntnissen wurden die drei Wissenschaftler von dem geleitet, was sie in den Toyota-Produktionswerken sehen konnten: Schlanke, ausgetaktete und nahezu bestandslose Prozesse. Doch das war nur ein Ergebnis dessen, was in den Köpfen der beteiligten Menschen - Mitarbeitenden wie Führungskräfte - passierte und was sie zu ihren Handlungen motivierte. Es hatte gute Gründe, weshalb die Menschen bei Toyota ihre Prozesse so entwickelten. Und diese Gründe waren primär die Bedürfnisse der Kunden, der Mitarbeitenden und natürlich auch des Unternehmens selbst.

Was dabei übersehen wurde

Die Prozesse bei Toyota waren und sind nicht überall schlank. So werden lieber einige Qualitätsprüfungen zu viel als zu wenig eingerichtet, da man sicherstellen möchte, dass Kunden – auch interne Kunden – nur einwandfreie Ware bekommen. In bestimmten Bereichen wird auch mehr Personal zugunsten von besserer Durchlaufzeit eingesetzt, wenn dies für Kunden einen Mehrwert darstellt.

Die fatalen Auswirkungen von „Lean“

Die Berater- und Managerwelt sah aber nur die vermeintliche Verschlankung der Prozesse und versuchte, von den bekannten Methoden abgeleitet, möglichst viel an Effizienzsteigerungen durch „Eliminierung von Verschwendung“ in ihren Betrieben umzusetzen. Leider geschah und geschieht dies häufig ohne einen wirklichen Kundenmehrwert und gegen die Mitarbeitenden. Menschen wurden und werden durch „Lean“ gerne zu „Verschwendung“ degradiert und entlassen.

Effizient aber nicht effektiv

Und die Prozesslandschaft? Diese wurde in ihrer Gesamtheit oft nicht besser – ja sogar schlechter. Da viele Unternehmen bis heute anhand von Ziel-Kennzahlen und nicht von Zielzuständen gesteuert werden, entstehen Silo-Optimierungen, welche für sich betrachtet einen guten Eindruck machen. Die lokale Effizienz ist aber sogar schädlich, wenn die einzelnen Bereiche durch die Effizienzmaximierung nicht mehr zueinander passen und im Gesamtsystem die Effektivität verloren geht. Und die Kunden? Die interessieren sich nur für das finale Gesamtergebnis – die Effizienz, erst recht die der lokalen Silos, ist ihnen egal.

Schon 1984 stellte Eliyahu M. Goldratt in seinem Roman „The Goal“ fest, dass man ein Unternehmen am besten zerstört, wenn man dafür sorgt, dass alle Prozesse mit maximaler Effizienz laufen.

Die Auswirkungen von Covid-19

Die Covid19-Pandemie hat diese schlanken Systeme ins Wanken gebracht. Die kostenoptimierten Lieferketten kamen schnell an ihre Grenzen, wenn die Produktion oder der Transport der Teile stockten. Die Bestände waren schnell aufgebraucht und die logistischen Versuche, neue zu beschaffen, waren enorm aufwendig. Klar, eine Pandemie ist nicht an der Tagesordnung, aber die Flexibilität eines Systems mit lokalen Lieferanten, die zumindest irgendwo am europäischen Kontinent ansässig sind, hilft auch im normalen Betrieb. Bei genauer Betrachtung sind diese Lieferketten aus Kostensicht sogar günstiger. Die ungewöhnliche Krisensituation hat Probleme besser sichtbar gemacht, die vorher auch schon da waren, jedoch nur durch eine „versteckte Fabrik“ in Form von vielen Projekt- und Claim-Managern überdeckt wurden.

Worum es wirklich geht: Veränderungsfähigkeit

Es gibt viele Gründe, warum sich eine Organisation verändern muss:

Die Kunden: Diese sollten der größte Faktor sein, sichern sie doch die Existenz eines jeden Unternehmens. Und hier geht es nicht nur um die Kunden von heute, sondern auch um die von morgen. Das was selbstverständlich klingt, ist leider nicht immer so. Wir kennen genug Beispiele, bei denen Unternehmen primär ihren Profiten verpflichtet waren und Kunden dafür nur Mittel zum Zweck sind. Der Betrugsskandal von Volkswagen oder auch das Treiben von Teilen der Finanzbranche, die 2008 zu einer noch immer andauernde Vertrauenskrise führte, sind hier gute Beispiele.

Das Unternehmen: Es ist keine karitative Organisation und muss letztendlich Gewinne machen, um künftige Innovationen zu finanzieren. Die Gewinne müssen aber stets mit den Kunden, Mitarbeitenden und Lieferanten erwirtschaftet werden und nicht gegen sie.

Die Mitarbeitenden: Diese dürfen nicht als „Ressourcen“ gesehen werden, sondern als Quelle der Verbesserungsfähigkeit. Die Menschen, die jeden Tag im realen Prozess arbeiten, haben viele gute Ideen, Dinge besser zu machen. Diese Schätze kann man aber nur heben, wenn man sie nicht wie bloße Ressourcen behandelt.

Veränderungen dürfen nie Selbstzweck sein

Diese drei Ebenen bilden eine Gesamtheit. Schaut man dabei aber nur auf die Verschlankung der Prozesse, agiert man an Kunden und Mitarbeitenden vorbei und erzeugt für das Unternehmen bestenfalls kurzfristig einen Gewinn.

Im Rahmen von ganzheitlichen Veränderungen kann es selbstverständlich sinnvoll sein, Prozesse schlanker, effizienter zu machen. Aber auch das ist nicht automatisch sinnvoll. Veränderungen können auch eine zeitweise Erhöhung eines Aufwands – also das Gegenteil von „Lean“ – bedeuten, weil Kundenbedürfnisse eine gewisse Leistung erfordern, die zunächst noch nicht im Prozess abgebildet werden kann.

Time to say goodbye

Der Begriff „Lean“ an sich ist nicht richtig und greift viel zu kurz. In vielen Fällen geht das daraus abgeleitete Handeln mit kurzfristigen und effizienzorientierten, aber oft unternehmensschädlichen Zielableitungen einher. In Wirklichkeit geht es aber um die Fähigkeit, sich selbst ständig zu hinterfragen und zu verändern. Beim Vorbild Toyota, von dem „Lean“ maßgeblich abgeleitet wurde, verwendet niemand diesen Begriff. Dort spricht man von „Kaizen“: Die Veränderung zum Guten. Das darf man auf keinen Fall mit „Kontinuierlicher Verbesserung“ übersetzen, dahinter steckt eine selbstkritische, kundenorientierte und humanistische innere Haltung.

Vielleicht ist es daher an der Zeit, den Begriff „Lean“ auslaufen zu lassen. Schließlich geht es nicht um „Lean“, sondern um „Changeability“, und diese muss langfristig und gesellschaftlich verantwortungsvoll gestaltet werden.

Dr. Mario Buchinger ist Ökonomie-Physiker, Querdenker, Musiker und Autor. Er unterstützt seit mehr als 15 Jahren internationale Unternehmen und Organisationen auf deren Weg zur dauerhaften kontinuierlichen Verbesserung.