Energie : Game Changer: Die Energiesysteme der Zukunft

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In diesen Wochen ist in der österreichischen Energiewirtschaft die Trennung der gemeinsamen Stromhandelszone das große Thema – ein deutlicher Rückschlag für den Standort.

Auch sonst werden die kommenden Monate spannend: Noch während der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs soll das neue Strommarktdesign festgelegt werden. Hier geht es um nichts weniger als die Frage, wie die Stromversorgung künftig aussehen soll und funktionieren kann.

Wohin die Reise gehen kann, zeigen gerade die Entwicklungsabteilungen in den Betrieben selbst. Hier einige laufende Projekte aus Österreich, die das größte Potenzial zur Disruption haben – von der Mikroebene der Haushalte bis zum Hochofen der Stahlindustrie.

(1) Blockchain: Strom in die Datenkette >>

(2) Virtuelle Kraftwerke: Lukrative Flexibilität >>

(3) Wasserstoff: Nächster Angriff nach dem Hype >>

Beim Hype um die Blockchain ist die Energiewirtschaft ganz vorn dabei: Die Energiewende ersetzt gerade die zentrale Erzeugung schrittweise durch viele dezentrale Anlagen und Speicher – und da kommen die geblockten Datenketten, die Stromproduktion und Handel zwischen kleinsten Einheiten oder ganzen Kontinenten vernetzen können, wie gerufen. Über eingebaute „Smart Contracts“ können Blockchains genau bestimmen, ab wann ein privater Speicher oder eine ganze Industrieanlage Strom bezieht, einspeist, weiterverkauft – oder vom Netz geht.

Heimische Energieversorger loten gerade mehrere konkrete Anwendungsmöglichkeiten aus. Auf der Ebene der Endverbraucher kommt ihnen die Ökostromnovelle entgegen, die jetzt die gemeinsame Nutzung von PV-Anlagen auch in Mehrparteienhäusern erlaubt. Grund genug für Wien Energie, ein Pilotprojekt im zweiten Wiener Bezirk zu starten. In den 300 Wohnungen dieses Netzwerks ist es nun mit dem entspannten Herumsitzen auf dem eigenen Sofa vorbei. Der Stromfluss in den eigenen vier Wänden wird zu einer Wissenschaft für sich – und auch der einfache und klare Preistarif für alle gehört hier endgültig der Vergangenheit an. Dafür handeln jetzt über eine Blockchain Haushalte und PV-Anlagen den Strom untereinander, mit Elektroautos und Ladestationen vor der Tür und bis hinauf zur großen Strombörse EEX in Leipzig.

Kein Schürfen neuer Blöcke

Bei einem Mieterstromprojekt in Köstendorf und in Niederösterreich planen Salzburg AG und Verbund gleich zwei Testebenen. Auch hier lautet das Ziel, Strom zwischen Haushaltsgeräten und PV-Anlagen über eine Blockchain zu handeln. Die Datenkette für die erste Stufe liefert die FH Salzburg nach dem Blockchain-Prinzip „Proof of Work“ – also wie bei Bitcoin, aber viel kleiner und deshalb schneller. Für die zweite Stufe liefert das Start-up Grid Singularity eine Datenkette nach dem Konzept „Proof of Authority“ – also komplett ohne das extrem aufwendige „Schürfen“ neuer Blöcke und damit nochmals viel schneller. „Das Ganze passiert aber vorerst nur als Test, also rein spielerisch“, heißt es dazu von der Salzburg AG.

Währenddessen greifen die Vorarlberger Illwerke VKW gerade mit Blockchain das Wirrwarr an, das bei Ladestationen für Elektroautos herrscht. Denn hier knallen Energiefirmen, Autobauer und Start-ups um die Wette eigene Ladesysteme auf den Markt – natürlich mit jeweils eigenen Standards und Abrechnungsmodellen. Dagegen wollen Energieversorger aus sechs Ländern in dem Projekt „Oslo2Rome“ zeigen, wie einfaches Laden über eine Blockchain grenzübergreifend in ganz Europa funktionieren könnte. Dazu schickten sie acht Elektroautos in mehreren Etappen von Oslo über Berlin nach Freiburg und über Frankreich in Richtung Amsterdam. Bis Rom kamen sie zwar nicht, da Italiener doch nicht mitgemacht haben, aber bis Bregenz schon. VKW-Experte Michael Hirschbichler: „Jeder Autofahrer hatte dabei eine virtuelle Geldbörse als App auf dem Handy, die über eine Blockchain direkt mit den Ladesäulen kommunizieren kann.“ Basis war eine Plattform der deutschen Softwarefirma Motionwerk nach dem Konzept „Proof of Authority“. Es klappte bestens. Derzeit arbeiten die Vorarlberger an der zweiten Phase. Das ferne Ziel: Die Blockchain fit für öffentliche Ladesäulen zu machen.

Mit dem Ausbau der Erneuerbaren nehmen in den Netzen die Zeiten massiver Überschüsse genauso zu wie Stunden, in denen plötzlich große Energiemengen fehlen. Und das bedeutet harte Arbeit für APG, den zum Verbund gehörenden großen Netzbetreiber Österreichs. Ganze 301 Tage musste die APG im Vorjahr eingreifen, um die Netze stabil zu halten. Die Kosten allein dafür beziffert Konzernchefin Ulrike Baumgartner-Gabitzer mit rund 300 Millionen Euro. In Deutschland ist dieser Betrag im Vorjahr auf die Rekordsumme von 1,4 Milliarden Euro gestiegen.

Der Verbund lagert diesen Stress schrittweise aus – und macht damit aus der Not eine Tugend. Das Zauberwort dahinter heißt Lastmanagement, auch bekannt als Demand Response. Das Angebot gezielt an große Industriebetriebe: Die Konzerne stellen ihre Flexibilität beim Stromverbrauch zur Verfügung und helfen mit, die Schwankungen im Netz auszugleichen. Die Idee dahinter: Bei den Versorgern sinken die Kosten für Eingriffe – und die Industrie verdient ordentlich mit.

Zusammenschluss im virtuellen Kraftwerk

Und das funktioniert so: „In einem Power Pool schließen wir Unternehmen zu einem virtuellen Kraftwerk zusammen“, erklärt Carina Putz, Produktmanagerin beim Verbund. Ein einzelner „Pool“ besteht demnach aus mehreren Industriebetrieben, idealerweise aus unterschiedlichen Branchen, sodass sich ihre Potenziale gegenseitig ergänzen. Angesprochen werden vor allem energieintensive Branchen wie die Stahlindustrie, Papier, Chemie, die Abwasserwirtschaft oder Zementhersteller. Sie stellen die Flexibilität ihrer Anlagen bereit, also etwa von Gasturbinen, Öfen, Kühlanlagen oder großen Pumpen, aber auch hauseigenen Kraftwerken. Genau diese Flexibilität vermarktet ein Anbieter wie der Verbund am Regelenergiemarkt, um die Frequenz im Übertragungsnetz stabil bei 50 Hertz zu halten. Und reicht dann den Erlös an die Pool-Teilnehmer weiter.

Ein einfaches Beispiel: Beim Engpass im Netz schaltet ein Aluminiumverarbeiter einen seiner Schmelzöfen für eine bestimmte Zeit ab – ohne dass dies die Produktion gravierend verlangsamt. Gibt es zu viel Strom im Netz, erklärt sich derselbe Hersteller bereit, kurzfristig viel mehr Strom zu verbrauchen.

Geld gibt es erstens nur für das Vorhalten der Flexibilität, und zweitens bei einem tatsächlichen Abruf. Wichtig dabei: Mit dem Teilnehmer werden klare Fahrpläne für mögliche Abrufe fixiert – von mehreren pro Monat bis zu mehreren pro Jahr, in denen die Anlage zu 95 Prozent abrufbar sein sollte. Das letzte Wort hat trotzdem immer der Hersteller.

Industrieprominenz an Bord

Wie viel Geld danach tatsächlich fließt, sagt in Österreich niemand. Für Deutschland heißt es, dass ein großer Metallverarbeiter mit Demand Response ohne allzu viel Aufwand einen siebenstelligen Betrag pro Jahr generieren kann.

Das Angebot kommt jedenfalls an – mit der Voestalpine als dem prominentesten Teilnehmer. „Vor vier Jahren haben wir noch mit einer Gas- und einer Dampfturbine begonnen und mussten noch einiges manuell freischalten. Mittlerweile ist alles digitalisiert“, sagt Putz. In diesen Tagen läuft die Vorbereitung für die Integration der Pufferspeicher von Ultra-Schnellladestationen, aber auch für die Vermarktung am Intraday-Markt, was für Betreiber kleinerer Anlagen bis zu 500 Kilowatt interessant werden könnte. Inzwischen verfügt der „Power Pool“ des Verbund über beachtliche 300 Megawatt an abrufbarer Kapazität. Zum Vergleich: Die Kapazität von Kaprun Oberstufe liegt bei etwas mehr als einem Drittel davon.

Hoher Besuch diesen September in Linz: Während des EU-Ratsvorsitzes Österreichs kamen alle Energieminister der EU zu einer Tagung nach Oberösterreich. Ganz oben auf der Agenda standen Einsatzmöglichkeiten von Wasserstoff in den Energiesystemen. Der Ort des Treffens ist kein Zufall: Direkt nebenan baut Siemens gerade für die Voestalpine die weltweit größte Pilotanlage für ökologisch gewonnenen Wasserstoff. Die Energie-Infrastruktur kommt von Verbund, als weitere Partner sind die APG und von wissenschaftlicher Seite K1-Med und ECN an Bord.

Wasserstoff ist ein Kernelement der sogenannten Power-to-Gas-Technologie – lange Jahre der größte Hoffnungsträger bei der zentralen Frage der Speicherbarkeit von Erneuerbaren. Die Idee klingt zu verlockend: Man gewinne mit Ökostrom Wasserstoff aus Wasser, lasse ihn mit Kohlendioxid reagieren und bekomme reinstes Erdgas – ein beliebig lang speicherbarer Energieträger, mit dem man Fabriken betreiben, Autos fahren und Häuser heizen kann. Und als Abfallstoffe von Power-to-Gas bleiben nur Wasser und Sauerstoff übrig.

Allein in Österreich stehen dafür Gasspeicher mit einer Kapazität von 93 Terrawattstunden bereit – das ist 30 Mal so viel wie alle Pumpspeicherkraftwerke des Landes. Also sind dutzende Pilotanlagen entstanden. Zum Beispiel bei Audi. Die große Anlage des Autobauers produziert heute etwa 1.000 Tonnen Gas und bindet dabei zirka 2.800 Tonnen Kohlendioxid.

Begeisterung lässt nach

Doch inzwischen ist die Begeisterung stark abgekühlt. Das große Problem von Power-to-Gas ist die Effizienz: Rund die Hälfte der elektrischen Energie geht bei der Umwandlung in Erdgas verloren – und von der Wirtschaftlichkeit oder gar Systemrelevanz ist die Anlage von Audi bis heute genauso weit entfernt wie alle anderen. Zwar plant gerade Amprion, ein großer deutscher Stromnetzbetreiber, zusammen mit dem Gasnetzbetreiber Open Grid Europe eine Anlage mit einer vergleichsweise gigantischen Kapazität von 50 bis 100 Megawatt. Doch auch hier ist das Ende der Reise nicht absehbar.

Die Voestalpine geht einen anderen Weg. Bei dem Projekt „H2Future“ soll der „Öko-Wasserstoff“ ohne Umwege direkt in die Stahlherstellung fließen, um die enormen Abgasmengen dieser Industrie zumindest etwas zu senken. „Voraussetzung ist, dass erneuerbare Energie in ausreichendem Umfang und zu konkurrenzfähigen Bedingungen zur Verfügung steht“, so Voestalpine- Vorstand Herbert Eibensteiner heuer beim offiziellen Baustart. Möglich macht das die stabile Stromerzeugung des Verbund aus Wasserkraft – „ein perfektes Beispiel für Sektorkopplung von Energiewirtschaft und Industrie“, so Verbund-Chef Wolfgang Anzengruber. Denn die neue Linzer Anlage soll auch auf einer zweiten Ebene aktiv werden, nämlich auch als ein Ausgleich der Schwankungen auf dem Regelenergiemarkt.

Elektronikkonzern liefert Herz der Anlage

Das „hochtechnologische Herz“ der Anlage, wie es Konzernchef Wolfgang Hesoun formuliert, liefert Siemens: Das weltweit größte Protonenaustausch-Membran-Elektrolysemodul mit sechs Megawatt Anschlussleistung. Nachdem die neue Halle steht, soll noch heuer die Inbetriebnahme beginnen. Offizieller Vollbetrieb ist ab Frühjahr 2019 geplant. Voestalpine, Siemens und Verbund lassen sich das vor erst auf zwei Jahre ausgelegte Pilotprojekt jeweils zwei Millionen Euro kosten. 12 Millionen Euro steuert die EU bei. „Das ist eines unserer Flaggschiff-Projekte“, meint dazu Bart Biebuyck von der EU-Kommission. „Es wird weltweit verfolgt, was nun hier in Österreich entwickelt wird.“

Revolutioniert Wasserstoff eines Tages die Stahlproduktion? Voestalpine-Chef Wolfgang Eder will hier einen Hype wie früher bei Power-to-Gas gar nicht erst aufkommen lassen – auf den dann die große Enttäuschung folgen könnte. „Wir erwarten uns erste Indikationen aus dem Pilotprojekt. Ich bin sicher, es wird etwas kommen“, meinte Eder noch während der Planungsphase. „Wir wissen, in welche Richtung es gehen kann. Aber den Schlüssel für das Gesamtkonzept haben wir noch nicht.“