Arbeitsorganisation : New Work: Das sind die neuen Helden der Arbeit

New Work
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Es musste schnell gehen – denn Tempo ist im Silicon Valley alles, selbst wenn ein staatlicher Eisenbahnbetreiber mit am Verhandlungstisch sitzt. 16 neue Doppelstock-Triebzüge mit Antrieben auszustatten, die schon bald durchs kalifornische Start-up-Paradies rollen: Der Auftrag, den Günter Eichhübl, Chef des Motorenherstellers Traktionssysteme Austria, im vorigen Oktober an der Angel hat, erfordert schnelles Handeln. Eichhübl lässt seine Mitarbeiter ins Valley fliegen, um den Deal schnellstmöglich in trockene Tücher zu bringen.

Doch was als gut einstudierte Produktpräsentation in einem klimatisierten Büro am Caltrain-Hauptsitz in San Francisco beginnt, ist bald ein äußerst straff geführtes technisches Hearing: Ist das Antriebsdesign der Niederösterreicher den Anforderungen gewachsen? Das Streckenprofil wirklich fahrbar? Und wer entscheidet jetzt eigentlich, wo doch die Geschäftsführung es offenbar nicht der Mühe wert befunden hat, für den Sechs-Millionen-Dollar-Deal persönlich anzureisen? „Ich bekam später eine Kurzmitteilung aufs Handy“, schildert Eichhübl. Die knappe Nachricht des technischen Projektleiters: „Habe grünes Licht gegeben. Wir sind im Geschäft.“

An der Richtigkeit der Mitarbeiterentscheidung zweifelt Eichhübl bis heute keine Sekunde – sie brachte den entscheidenden Tempovorteil gegenüber Mitbewerbern. Und dennoch: Sollten ihn die nächsten Monate vom Gegenteil überzeugen, würde das nichts ändern. „Wird von Mitarbeitern verlangt, in besonderen Fällen Entscheidungsgrenzen zu überschreiten, muss man als Chef den Kopf hinhalten, auch wenn es einmal nicht so läuft“, sagt Eichhübl.

Er hat erkannt, dass unter „New Work“ mehr zu verstehen ist, als großzügig ein Auge zuzudrücken, wenn der Controller freitags lieber aus dem Home Office arbeiten will. Dass neue Markt- und Produktlogiken die schnelle Maximierung von Kreativmitteln erfordern – und kein Ausruhen auf Skaleneffekten. Und dass angstfreier Raum für Innovation ein Aufbrechen althergebrachter, hierarchischer Strukturen braucht: Ohne Normen und Regulative laufe es zwar auch nicht, sagt Eichhübl. „Mitarbeiter der unteren Ebenen aber brauchen das Pouvoir, Entscheidungen treffen zu können“, sagt er.

„Es braucht mehr als einen Wortführer“

Das rüttelt am Fundament klassischer Organisationen. Bisher erwartete man von CEOs Sicherheit, Stabilität, den langfristigen Plan. „Heute braucht es mehr als einen Wortführer, um die digitalen Möglichkeiten auch nur annähernd auszuschöpfen“, sagt ein CEO eines heimischen Maschinenbaubetriebs. Die Zerlegung von Abläufen in definierte, wiederholbare Schritte nährte bisher zuallererst die Kaste der Controller, die „mit hochgezogenen Augenbrauen die Welt gegenüber dem Plan beurteilen“, sagt Engelbert Wimmer, Geschäftsführer des Beratungshauses e&Co.

Jetzt sollen Unternehmen zur Flaniermeile junger Innovationsathleten werden, das Management agil „an unendlich vielen Stellen Feedback zulassen“, beobachtet Wimmer. Ein deutscher Automobilbauer erhob Basisdemokratie im Unternehmen kurzerhand zum Prinzip, indem nicht mehr nur die Führung Top-down die Befehlskette herunterkommandiert. Per Feedbackbutton im Outlookkalender – unübersehbar neben dem Termineintrag platziert – stimmen Meetingteilnehmer seit dem Vorjahr versuchsweise über die Qualität der Sitzungen ab. Das ermöglicht die „frühe Intervention, sollte die Führungsleistung der Herrschaften da oben nicht ausreichen“, sagt Wimmer.

Mehr als nur Glaubenssätze

Dass es mehr braucht als Glaubenssätze, die Organisation über Monate im Beta-Status zu fahren, weiß Michael Kräftner nur zu gut. 2012, da war man schon lange kein Start-up mehr, doch gefühlt immer noch viel schneller als so mancher Kunde, verspürte der Gründer des Softwarehauses Celum plötzlich Gegenwind: Der Großkunde 3M, der mit der Software der Linzer schon bisher für Zehntausende Klebeprodukte das Produktmarketing verwaltete und straffte, stellte den Linzern die Rute ins Fenster. Habe das Softwarehaus keine disruptiven Lösungen zur Transformation von 3M im Köcher, sei es das mit der Zusammenarbeit gewesen, macht der Chief Marketing Officer des US-Konzerns Kräftner in einem Meeting am Konzernsitz in Saint Paul, Minnesota, unmissverständlich klar. Der flog erst einmal ratlos nach Linz zurück. „Wir sind dann zusammengesessen und haben überlegt: "Wie schaffen wir es wieder, das Tempo der Start-up-Tage zurückzuholen und die tief sitzende Angst vor Veränderung abzulegen“, schildert Kräftner.

Bald hat man Lösungen parat. Die "Verklausungen und Verstauungen im Unternehmen" (O-Ton Kräftner) löste man mit projektloser Zusammenarbeit und einer „Beschleunigung durch Reduktion“. Kräftner räumt sein Chefbüro und übersiedelt seinen Arbeitsplatz ins Großraumbüro der Entwickler. Dort halten agile Entwicklungsmethoden wie Kanban und Scrum Einzug. Den Chef dürfen die Kollegen gern überstimmen: Im jährlich zweimal anberaumten Kundenbeirat sitzen heute nicht mehr die zehn umsatzstärksten Celum-Kunden, so wie sich Kräftner das vor ein paar Jahren ausgedacht hat. Eingeladen werden jetzt jene Firmen, die sein engster Mitarbeiterkreis für am agilsten hält.

Das bringt mehr, als Mut, Neugier und Verantwortung im Unternehmensleitbild festzuschreiben. Denn nicht immer ist die Form ein Indikator für den Inhalt. „Ein Despot bleibt ein Despot, auch wenn er sein Eckbüro räumt“, sagt E&Co-Chef Engelbert Wimmer.

„Es gibt keine KPIs, keinen Druck zu liefern“

Doch den Firmentyrannen bleiben die jungen Wilden heute ohnehin nicht lange treu. Genauso wie im Silicon Valley, wo sich Entwickler den attraktivsten Arbeitsplatz aussuchen und nicht jenen mit dem größten Despoten, suchen sich längst auch in der Industrie Vertreter der Generation Y ein gestaltbares Umfeld.

Gerald Hofer, CEO des Lagerautomatisierers Knapp, versucht Mitarbeitern ein solches zu bieten: Seinem früheren Leiter des Geschäftsbereichs Vision, Peter Stelzer, schuf er im steirischen Dobl ein Start-up-Umfeld, in dem er mit einer 25-köpfigen Entwicklertruppe Innovationen nach seinen Vorstellungen treiben darf. Auch Stelzers 40-minütigen morgendlichen Entspannungsübungen, in denen er sich „zentriert“ (O-Ton Stelzer), sind für Hofer kein Problem. Auch Vorstandskollege Franz Mathi denkt ähnlich. In einem Technologiepark in Klagenfurt eröffnete Knapp ein Planungsbüro und heuerte acht neue Mitarbeiter an. „Hart bei Graz ist nicht der Nabel der Welt“, begründet CTO Mathi den Schritt. Man könne nicht voraussetzen, „dass jemand seinen Lebensmittelpunkt verlagert, nur weil es uns hier gibt“.

Eine Unternehmenskultur, die auch Peter Puchweins Zehn-Uhr-Meeting mit dem Vorstand an einem Märztag vor ziemlich genau zwei Jahren ziemlich kurz ausfallen lässt: Puchwein, seit über sieben Jahren Entwicklungschef bei Knapp, seit mehr als 13 Jahren im Unternehmen tätig, umreißt im Vorstandsbüro im Headquarter in der Günter Knapp-Straße 5-7 seine Idee: Sogenannte Future Teams, aus freiwilligen Mitarbeitern der Organisation zusammengestellt, sollen sich in kleinen agilen Einheiten abseits des Tagesgeschäfts mit Zukunftsfragen beschäftigen.

Ohne ständig Statusberichte an ihn, den obersten Entwickler, abliefern zu müssen, dafür vielmehr in enger Selbstabstimmung. Der Vorstand gibt nach kurzer Diskussion grünes Licht. Nur Wochen später nehmen die ersten Teams ihre Arbeit auf. Doch die Arbeit in den Kleinstteams geht nicht so recht voran.

Der eigens geschaffene Kreativraum, wenige Gehminuten von der Unternehmenszentrale entfernt – eine frühere Halle für Testaufbauten –, entpuppt sich nur als bedingt optimal: Die gemischten Teams aus Entwicklern, Logistikern und Vertriebsprofis können hier zwar für mehrere Wochen am Stück ihren entwicklerischen Träumen nachhängen.

Auch der Ergebnisdruck auf die einzelnen Mitglieder ist überschaubar (O-Ton Puchwein: „Es gibt keine KPIs, keinen Druck zu liefern“). Aber die Future Teams fremdeln mit ihrem neuen Arbeitsplatz. Die Kollegen der angestammten Abteilung werden schmerzlich vermisst. Eine Abstoßungsreaktion, die in klassischen Organisationen das Management veranlassen würde, die Reißleine zu ziehen. Doch die Knapp-Mitarbeiter bekommen die Möglichkeit, ihr Umfeld aktiv zu verändern. „Sie passten die Organisationsform immer wieder an ihre Bedürfnisse an“, schildert Puchwein.

„Wir challengen Statussymbole“

Am Ende stellte sich ein Modus, bei dem eine Hälfte der Woche in der angestammten Abteilung, die andere im Innovationsraum gearbeitet wird, als Königsweg heraus. Mittlerweile 15 Teams schickte Knapp in den zwei Jahren auf diese kurzen Innovationsreisen.

Das funktioniert so gut, dass eine Idee sogar zum Geschäftsmodell wurde. „Wir holen das Zukunftsteam nun als Kernmannschaft einer neuen Abteilung namens ‚Robotics & Machine Learning‘ in die Hauptorganisation zurück“, sagt Puchwein.

Ein neues Verständnis einer Organisation, mit dem man ganz bewusst Statussymbole herausfordert: Die organisatorische Zuordnung der Abteilung innerhalb der Knapp-Welt war zweitrangig, “es geht um die Inhalte und um den Spaß, an neuen Ideen zu arbeiten”, heißt es im Unternehmen. Damit zieht sich das Knapp-Management bewusst aus Entscheidungsbereichen zurück, so wie es auch immer mehr andere Unternehmen tun.

„Wir werden durch unsere Erfahrungen natürlich gewitzter“, sagt ein Industrievorstand. „Aber das ändert nichts daran, mit unserer Führungskultur in den 80er- und 90er-Jahren sozialisiert worden zu sein. Solche Konzepte greifen dort, wo die jungen Wilden am Werk sind, aber nicht“, sagt der Vorstand.

„Schlechte Entscheidungen sind besser als keine Entscheidungen“

Sich als Führungskraft technologisch auf Neuland einzulassen bringt fast zwangsläufig mit, Kontrolle im Führungskader abzugeben. Die Erfahrung machte Erich Dörflinger 2015, als sich mit der Integration eines IT-Start-ups durch die Konzernmutter auch in Althofen einiges änderte: Lange Excel-Listen mit Hunderten Positionen – darunter Halbleiterbauteile – gingen die verantwortlichen Mitarbeiter der Einkaufsabteilung mit dem General Manager in der allmorgendlichen Acht-Uhr-Besprechung bis dahin immer Posten für Posten durch. Wo sind die Einkaufskonditionen günstig? Auf welche preislichen Entwicklungen muss man gefasst sein? Ein tägliches Jour fixe, das Zeit verschlang, Dörflinger jedoch einen vollständigen Einblick in alle Winkel der Lieferkette bot.

Mit dem nun plötzlich in der Flex-Organisation verfügbaren Tool „Pulse Room“ fällt dieser Prozess weg: Die Software durchforstet Millionen von Datenströmen aus Social Media-Kanälen wie Facebook und Twitter, aber auch Nachrichtenkanälen wie CNN. Daraus leitet sie Handlungsanweisungen in der Lieferkette ab und visualisiert die dringendsten Handlungsfelder.

Ein Tool, das Erich Dörflinger als App zwar auf seinem Handy hat. Das sich mit seiner Feingranularität aber eindeutig an der Sprache der technischen Einkäufer, in seiner digitalen Anmutung an den digitalen Nerds im Unternehmen orientiert.

„Entscheidungen so auf einer niedrigeren Ebene zuzulassen, bringt uns Tempo“, sagt Dörflinger, der das System nicht dadurch wieder langsam machen will, „indem die Nutzer erst recht wieder Rücksprache mit dem Vorgesetzten halten müssen“.

Das funktioniert, wie ein Vorfall im vorigen September zeigt. Als sein Handy still Alarm schlägt, sitzt Dörflinger gerade in Althofen mit Kunden zusammen. Ein Erdbeben in Mexiko, das schwerste seit 1985: Ein Unglück, das in der Flex-Organisation, vor allem aber in den unteren Hierarchieebenen, Reaktionsschnelligkeit erfordert. Mitarbeiter routen betroffene Bauteilkomponenten selbstständig über andere Quellen nach Althofen. Erich Dörflinger bleibt dadurch ein Lieferloch von vier Tagen erspart.

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