Energie : Mission Meiler

Von einem Scheitern wollte Ende November keiner sprechen. Doch das Mienenspiel verriet das ganze Ausmaß der Enttäuschung der Verhandler. Keiner sei hier heute „deprimiert aus den Verhandlungen gegangen“, sagte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier – und sah doch ziemlich mitgenommen aus. Die Außenminister der wichtigsten UNO-Mächte, Deutschlands, Chinas und Saudi-Arabiens, waren in Wien zusammengekommen, um den Iran von Teilen seines Nuklearprogramms abzubringen.

Wer Atomkraftwerke betreibt, hat es bis zur eigenen Atombombe nicht mehr weit, so das Kalkül. Doch die Verhandlungen scheiterten wieder einmal – die Frist für eine Einigung wurde bis zum 30. Juni verlängert. Für viele, die in Wien den mehrtägigen Sitzungsmarathon abspulten, ein herber Rückschlag. Wladimir Putin wird wohl eher nicht Trübsal blasen – bereits zwei Wochen vorher hatte Moskau mit Teheran den Deal über den Bau von acht neuen Atomreaktoren fixiert. So wie kurz zuvor mit Weißrussland, Südafrika, Finnland – und Ungarn.

Das AKW Paks, zwei Autostunden von Wien entfernt, wird ab 2018 vom Kremltreuen Atomkonzern Rosatom um zwei gigantische Blöcke erweitert. Und bei sich zu Hause plant das Land, das Tschernobyl zu verantworten hat, in den kommenden Jahren den Bau von sage und schreibe 32 neuen Reaktorblöcken. Böse Russen? Ist Ansichtssache.

Die Rückkehr der Meiler

Keine vier Jahre nach der Katastrophe im japanischen Fukushima sieht es ganz danach aus, als erlebe die Atomkraft weltweit eine ernstzunehmende Renaissance. Nach Angaben der Atomenergiebehörde IAEA ist derzeit der Bau von 69 Reaktoren mit einer Leistung von 66 Gigawatt auf dem Weg. Allein China will in den nächsten Jahren 29 errichten. In Indien werden sechs Atomkraftwerke gebaut, in den USA und Südkorea jeweils fünf.

Pakistan, Argentinien und Brasilien planen neue Kraftwerke. Und Anfang November hat ausgerechnet Japan den Weg für das Hochfahren von zwei Reaktoren wieder frei gemacht. Doch der jüngste Aufschwung wird nicht gerade von einem festen Fundament getragen: Die Technologie ist immer noch fehleranfällig, kostenmäßig sind die Meiler nahezu unplanbar – und nur mit Milliardensubventionen überhaupt überlebensfähig.

Neue Blöcke

Davon überzeugen lassen sich nur nicht alle. In Europa hat Deutschland so radikal wie kein anderes Land auf die Katastrophe in Fukushima reagiert. Auch Belgien und die Schweiz haben einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen. Österreich und Italien waren schon vorher strikt dagegen. Doch zeitgleich träumt Polen heute von sechs neuen Reaktoren. Im slowakischen Mochovce arbeitet gerade die Strabag fleßig an zwei neuen Blöcken mit. Damit stellt sich der heimische Bauriese, der im Inland so gerne mit Staatsgeldern Autobahnen saniert, gleich hinter der Landesgrenze direkt gegen die offizielle Linie Österreichs. Nebenan will Tschechien jetzt doch schon 2015 den Bau eines neuen AKW im südböhmischen Temelin ausschreiben. Und Frankreichs Atomriese Areva errichtet gerade einen Meiler im französischen Flamanville und einen zweiten im finnischen Olkiluoto.

Und seit diesem Oktober fühlen sich die Freunde der Atomkraft wieder so richtig auf dem Vormarsch: Die EU-Kommission hat die milliardenschweren Hilfen Großbritanniens für den Bau des neuen AKW Hinkley Point C genehmigt, der 18,9 Milliarden Euro kosten und 2023 ans Netz gehen soll. Das ist der erste Neubau in Europa seit Fukushima. Und das erste europäische Projekt, bei dem neben Areva und EdF aus Frankreich auch zwei chinesische Atomkonzerne federführend beteiligt sind: CGN und CNNC.

Für größte Empörung sorgt allerdings der Umstand, dass die britische Regierung das europäische Subventionsverbot für Atomkraft umgeht und einen Abnahmepreis von 106 Euro pro Megawattastunde garantiert – und das für 35 Jahre. Inklusive Inflationsanpassungen, und inklusive Staatsgarantien für sämtliche Schulden. Das sind Bedingungen, die Lichtjahre von der viel geschmähten Ökostromumlage in Österreich oder in Deutschland entfernt sind.

Man habe nur die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung prüfen können, rechtfertigte sich die Kommission, die selbst noch im Frühjahr dagegen gestimmt hat. Aus Prag und Budapest kam warmer Applaus zur Entscheidung. Umweltschützer wie die Organisation Greenpeace sprechen dagegen vor einem Kniefall vor der Atomlobby – sie befürchten einen Dominoeffekt auf unzählige andere Projekte. Auch aus Wien kommt Protest. Bundeskanzler Werner Faymann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner kündigten Klage vor dem EuGH an. Und der scheidende Energiekommissar Günther Oettinger nennt das Vorhaben schlicht „sowjetisch“.

Sowjetisch

Das trifft den Kern. Denn Hinkley Point im Südwesten Englands zeigt vor allem eines: All die vermeintlichen Vorteile, die Anhänger der Atomkraft stets ins Feld führen, reichen nicht aus, damit die Technologie ohne Milliardensubventionen am Markt bestehen kann. Da wäre zum einen die Sicherheit, die spätestens seit dem beyond design base accident in einem so führenden Industrieland wie Japan vom Tisch ist.

Nach Zahlen von Greenpeace beläuft sich das Durchschnittsalter der heute aktiven Kraftwerke auf 28 Jahre – doch viele sind weitaus älter, zum Beispiel stehen zwei der weltweit ältesten Atomkraftwerke in der Schweiz. Das AKW Mühleberg direkt neben Vorarlberg ist seit 1972 in Betrieb und soll noch bis 2019 laufen. Der jüngste Zwischenfall in der Nachbarschaft zu Österreich ist erst wenige Tage alt. Im tschechischen Dukovany blieben zwei Blöcke sowjetischer Bauart bis Ende November zwei Wochen lang abgeschaltet, nachdem herauskam, dass eine Rohrleitung undicht war.

Den traurigen Rekord hält hier das AKW Bar Watts 2 in den USA. Der Bau startete 1972, wurde 1985 wegen explodierender Kosten gestoppt und ging ab 2007 weiter. Die Fertigstellung ist für 2016 geplant. In all den Jahren bekamen die Konzerne weder die Kosten noch die Dauer der Errichtung in den Griff.

Ein berühmtes Beispiel in Europa ist das Kraftwerk Flamanville am Ärmelkanal, gestartet 2007 ausgerechnet als Vorzeigeprojekt von Areva. Diesen November gab der Atomkonzern wieder einmal bekannt, dass sich die Fertigstellung auf 2017 verschieben wird – während sich die Baukosten inzwischen auf 8,5 Milliarden Euro mehr als verdreifacht haben.

Probleme beim Anlagenbau

Dann wäre da auch die Technik. Das französische Flamanville hat sowohl mit dem finnischen Problemkraftwerk Olkilouto als auch mit Hinkley Point in England etwas gemeinsam: Bei allen drei soll die neue Technologie des „Europäischen Druckwasserreaktors“ (EPR) zum Einsatz kommen – doch genauso wie in Flamanville gibt es auch in Finnland seit dem Baustart 2009 massive Verzögerungen. Siemens steckt als Partner von Areva in dem Projekt fest, ist aber inzwischen aus der Atomenergie ausgestiegen. Heute liefern sich beide mit dem finnischen Auftraggeber TVO milliardenschwere Klagen vor einem Schiedsgericht. Der Meiler wird trotzdem weitergebaut – voraussichtlich bis 2018, wie die Parteien im Oktober mitteilten.

Schwierigkeiten bei EPR macht auch der Anlagenbau selbst. Gelegentlich weisen Fachberichte darauf hin, dass weltweit nur ein einziges Unternehmen in der Lage ist, bestimmte besonders große Bestandteile eines Reaktors zu schmieden – Japan Steel Works. Das sei der Grund dafür, warum Areva immer wieder mit Lieferschwierigkeiten kämpfe.

Nicht versicherbar

Die Frage der Versicherbarkeit führt all diese Effekte zusammen. Rückversicherer wie die Münchner Rück oder Swiss Re sind eigentlich Milliardentanker, die das Risiko eines Erdbebens in Kalifornien genauso mit einem Preis versehen wie die Wahrscheinlichkeit eines Hochwassers in Krems. Doch den Betrieb von Atomkraftwerken halten viele von ihnen für nicht versicherbar, hieß es zuletzt im Oktober bei der Uniqa Re.

Die Folge: Gegen einen ernsten Störfall sind AKW um den Faktor 100 bis 1000 unterversichert. All diese Faktoren plus die weiter weltweit ungelöste Frage der Endlagerung des radioaktiven Abfalls ergeben einen noch weit höheren Preis als die subventionierten 100 Euro pro Megawattstunde von Hinkley Point. Unterschiedliche Studien in Deutschland kommen hier im Schnitt auf einen Wert von 300 Euro pro MWh – und manche von ihnen auf mehr als das Zehnfache.

Noch nie sei ein Atomkraftwerk unter marktwirtschaftlichen Bedingungen gebaut worden, schreibt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Der entsprechende weltweite Trend ist eindeutig: Der Anteil der Atomkraft an der gesamten Stromproduktion sinkt unaufhörlich. Der Grund: Es gehen mehr Kraftwerke vom Netz als gebaut werden. Parallel zum steigenden Anteil der Kohle liefern auch die Erneuerbaren immer mehr Strom – und zwar unabhängig von Förderungen. So baut China mit Abstand die größten Windkraftkapazitäten zu. Seit 2012 haben Windanlagen des Landes mehr Strom produziert als Atomkraftwerke.

England hofft auf Versorgungssicherheit

Warum lässt Großbritannien dann Hinkley Point errichten und verpflichtet sich zu Milliardenzahlungen? Hier zählt ein letztes Argument, das für die Atomkraft spricht – die Versorgungssicherheit. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man die Gesundheitsschäden und das Risiko einer nuklearen Katastrophe vollkommen ausblendet. Tatsächlich verfügt das Land nicht über Pipelinekapazitäten wie Mitteleuropa und auch nicht über so viel Braunkohle wie Polen oder Deutschland. Dem deutschen Beispiel folgen und auf den Ausbau der Erneuerbaren setzen – das wollen die Briten wiederum nicht. So bedauerlich die neue Linie Londons ist: Falls sich viele Osteuropäer gegen alle Argumente des Marktes entscheiden und dem britischen Beispiel folgen, wird aus österreichischer Sicht alles noch schlimmer.