Inwiefern bremsen diese Rahmenbedingungen?
Kopetz: Gerade in der europäischen Automobilindustrie ist zum Beispiel das Kartellrecht derzeit ein massives Thema. Viele technische Arbeitsgruppen, die übergreifend Themen diskutiert haben, haben sich aus Angst vor Anti-Trust-Regulatorien in Europa aufgelöst. Doch digitale Themen lassen sich oft nur industrieübergreifend lösen, Kommunikation kann nur über Austausch von offenen Meinungen funktionieren. Wenn wir das nicht tun, tut es der amerikanische oder chinesische Wettbewerb – das kommt dann genau jenen Digital-Monopolen, die ihre Produkte nicht in Europa entwickeln, sondern nur hier ausrollen, zugute.
Haben Sie das Gefühl, dass die Verantwortlichen in der Politik die Digitalisierung verstanden haben?
Kopetz: Wirklich ausnahmslos alle Politiker, die ich bisher getroffen habe, haben eines gemeinsam: Sie konnten wirklich gut zuhören. Das stimmt mich extrem zuversichtlich. Aber, und das ist auch eine Wahrheit: Es gibt noch ein mangelndes Verständnis im Umgang mit global und schnell ablaufenden Veränderungen in der digitalen Welt, in der wir uns bewegen.
Ich glaube, die Sache ist schlimmer: Die Regeln, Stichwort Anti-Trust-Politik, aber auch die gesellschaftlichen Hierarchien, Stichwort Sozialpartnerschaft, und die Denkweisen, die uns früher geholfen haben, kommen mit der Dynamik, mit der die Digitalisierung die Wirtschaft verändert, nicht mehr mit. Man ist viel zu langsam, um zu erkennen, dass sich Branchengrenzen und Machtgefüge auf Märkten längst aufgelöst haben.
Kopetz: Ich erinnere mich, ich war einmal in einer Gruppe eines europäischen Interessensverbandes, die mich zum Sprecher der KMUs machen wollten. Ich habe das abgelehnt – denn ich will nicht dafür kämpfen, dass wir klein bleiben und beschützt werden, ich will, dass KMUs leicht aus der KMU-Kategorie herauswachsen können. Nur so entsteht Wohlstand...
Die Strukturen aus dem Hoch-Fordismus der 50er- und 60er-Jahre treffen so auf die Hybridisierung der Produktion...
Kopetz: Eine Hybridisierung, die sich übrigens sogar im Namen unseres neu gegründeten Plattform-Unternehmens widerspiegelt. TTTech Auto steht nur noch teilweise für unser automotives Erbe – es bedeutet tatsächlich Automation und Autonomie (Autonomy). Denn wir wissen nicht, ob es Fahrzeuge in der heutigen Form zukünftig noch geben wird. Unsere Technologie wird sich auch nicht nur im heutigen Auto wiederfinden.
Um auf die eigentliche Frage zurückzukommen: Ich glaube, es gibt eine gefährliche Diskrepanz zwischen den traditionellen Konfliktlinien, um die die Interessenvertretungen unserer Gesellschaft gebaut wurden – und den Konfliktlinien, die sich durch die Digitalisierung auftun.
Kopetz: Das stimmt. Klassische Arbeitgeber- und Arbeitnehmerthemen gibt es in einem wissensbasierten Unternehmen längst nicht mehr im ursprünglichen Verständnis. Das Verhältnis basiert – nicht nur in unserem Unternehmen – sehr stark auf Kollegialität. Unternehmer sind viel stärker vom Wissen der Mitarbeiter abhängig als diese von ihrem Arbeitsplatz. Wenn die sagen, sie bringen ihr Know-how in geringerem Ausmaß ein, dann bedeutet das Game over.
Und als Reaktion auf die Verunsicherung der Bevölkerung reagiert die Politik jetzt mit Abschottung. Auch das geht völlig an den Bedürfnissen unserer Wissensgesellschaft vorbei.
Kopetz: Das ist richtig. Wir, die TTTech, können in einer geschlossenen Gesellschaft nicht funktionieren. Wir beschäftigen Menschen aus 42 Nationen. Wir müssen attraktiv sein für die Top-Leute der Welt – und versuchen, die an unsere Entwicklungsstandorte zu bekommen. Diese sind vor allem auch in Österreich, wo wir unser globales Headquarter haben. Wir brauchen einen kreativen Austausch, der grenzüberschreitend ist und auf Diversität beruht. Wir müssen mit unterschiedlichen Kulturen umgehen, das darf keine Einheitskultur werden, das würde uns viele kulturelle Wettbewerbsvorteile entziehen.
Können Sie die Zukunftsangst, die derzeit um sich greift – und sich im Erstarken von populistischen Parteien und Ideen äußert – nachvollziehen?
Kopetz: Ich frage mich oft: Was macht uns so ängstlich als Gesellschaft? Warum trauen wir uns nicht mehr? Bis auf das Thema Klimawandel – wo wir möglicherweise wirklich an einem Tipping Point angekommen sind, den wir nicht mehr rasch rückgängig machen können – gibt es keine Themen, die uns in meiner Wahrnehmung als Gesellschaft strukturell bedrohen.
Es herrscht das Missverständnis, dass unser Wohlstand dadurch entstanden ist, dass wir möglichst wenig verändert haben. Aber das stimmt nicht. Vor 70 Jahren haben in Österreich noch Ochsen den Pflug gezogen. Es gibt absolut keine historische Begründung, die Bereitschaft zum Wandel, zur Öffnung, zum Neuen in Frage zu stellen.
Kopetz: Das freudige Annehmen des Neuen, das Infragestellen jeder bestehenden Struktur: Was Sie beschreiben, ist das Umfeld, wie es im Silicon Valley vorherrscht. Wie hoch sind die Chancen, dass sich unsere Gesellschaft dahin entwickelt?
Bei null. Und das ist auch nicht unbedingt notwendig: Das Modell Silicon Valley funktioniert ausschließlich, weil es einen ungeheuren Durchlauf aus der ganzen Welt gibt – mit durchschnittlichen Unternehmensverweildauern von 14 Monaten – und man ein System gefunden hat, in dem man von diesen Umständen profitieren kann. Man muss sich nicht darum kümmern, wo es herkommt – denn es kommt ohnehin automatisch, weil jeder ins Silicon Valley geht. Wir haben hier völlig andere Voraussetzungen. Verpflichtungsbeziehungen, Loyalität und Vertrauen sind in Europa anders gelebte Werte.
Kopetz: Das heißt, wir müssen doch nicht die Werte des Silicon Valley annehmen?
Nicht in dem Ausmaß, wenn wir den Fluch unserer eher hierarchischen und verklebten Gesellschaft zu einem Asset machen. Wir Österreicher waren nie Change Agents oder Innovationsführer. Aber wir waren die Fusionsweltmeister. Wir waren extrem effizient darin, Dinge, die andere entwickelt haben, zu adaptieren und bis in den letzten Winkel zu diffundieren.
Kopetz: Und die Institutionen, die dieses Land erfolgreich gemacht haben, waren uns dabei behilflich. Wir hätten niemals in Japan im zweiten Jahr nach der Gründung starten können, hätten wir nicht auf die Unterstützung der österreichischen Außenwirtschaftsorganisation vor Ort vertrauen können, als wäre es unser Büro gewesen.
Wichtig ist es, den dynamischen Pol unserer Mentalität zu aktivieren. Denn Loyalität, Vertrauen und Mitarbeiterbindung sind Riesenassets: Je schneller sich die Technologie dreht, umso mehr wird nicht kodifiziertes, impliziertes Wissen, Dark Knowledge, wichtig. Mitarbeiterloyalität, Vertrauenskultur, prinzipienbasiertes Management – all das ist dort, wo die Innovation herkommt, nicht vorhanden.
Kopetz: Dem stimme ich zu. Aber ich halte es für ein zu schnell gefälltes Urteil, dass die Mitarbeiter im Silicon Valley nicht loyal sein würden. Vertrauen und Loyalität sind in Europa gegenüber Institutionen stark ausgeprägt. Und Unternehmen gelten als Institution. Diese Loyalität herrscht in den USA gegenüber Menschen. Dort wechseln nicht einzelne Mitarbeiter, sondern Teams aus Unternehmen. Wir können schon etwas lernen von der zwischenmenschlichen Art vor Ort: Transaktionale Beziehungen sind im Silicon Valley nicht erwünscht und langfristig erfolgreich. Man pflegt ein System, ein persönliches Netzwerk, in das man einzahlt – und irgendwann einmal an einer ganz anderen unerwarteten Stelle wird dann dieser Goodwill zurückgezahlt. Das fördert den offenen Austausch von Ideen, weil gegenseitiges Vertrauen besteht.