Automobilindustrie : VW-Chef Diess wusste offenbar von drohenden Milliardenstrafen im Abgasskandal

Schon bei einer vertraulichen Besprechung am 27. Juli 2015 habe ein Manager eine mögliche Maximalstrafe auf 37.500 Dollar (aktuell rund 32.000 Euro) pro Fahrzeug und damit insgesamt 22,5 Mrd. Dollar beziffert, berichtete die "Wirtschaftswoche" am Freitag unter Berufung auf Aussagen von Zeugen gegenüber Ermittlern. Es sei von mehreren Personen konkret über mögliche Strafzahlungen in Milliardenhöhe gesprochen worden.

Der deutsche Autokonzern VW betonte abermals, dass während des "Schadenstisch"-Treffens vor gut drei Jahren nicht mitgeteilt worden sei, "dass in Täuschungsabsicht ein Gesetzesverstoß nach US-Recht begangen wurde". Tenor der Besprechungen sei vielmehr gewesen, dass es sich um ein "Vertriebsthema" in den USA handelte, bei dem eine Altlast gelöst werden müsse. Die Erwähnung einer theoretisch möglichen Maximalstrafe sei gängige Unternehmenspraxis. "Von der bloßen Erwähnung einer theoretisch möglichen Maximalstrafe kann nicht abgeleitet werden, dass sie auch erwartet wird", erklärte ein Sprecher. Kursrelevanz habe die Information erst durch die unerwartete Veröffentlichung der "Notice of Violence" durch die US-Umweltbehörde bekommen. Bis dahin sei man davon ausgegangen, den Fall durch Verhandlungen in den USA zu lösen.

Volkswagen hat schon mehrfach erklärt, dass dem Konzern das Ausmaß der Strafzahlungen erst am 18. September 2015 bewusst wurde, als die US-Umweltbehörde mit dem Abgasskandal an die Öffentlichkeit ging und eine Strafe von bis zu 18 Mrd. Dollar androhte. Als nach eigenen Nachforschungen klar wurde, dass weltweit millionenfach Dieselautos durch eine Abschalteinrichtung manipuliert worden waren, hatte Volkswagen die Börse am 22. September 2015 in einer Pflichtmitteilung informiert und die Gewinnziele kassiert. Die Aufarbeitung des Betrugs hat den Konzern bereits mehr als 27 Mrd. Euro gekostet.

Am Montag beginnt vor dem deutschen Oberlandesgericht Braunschweig der mit Spannung erwartete Musterprozess, in dem es um Schadenersatzforderungen von Kapitalanlegern in Milliardenhöhe geht. Die Kläger werfen dem Wolfsburger Konzern vor, sie zu spät über den millionenfachen Abgasbetrug informiert zu haben. Entscheidend wird in dem Zivilprozess sein, wer wann was bei Volkswagen über die Abgasmanipulation wusste.

Diess, beim Bekanntwerden des Abgasskandals 2015 als Chef der Marke VW gerade neu im Volkswagen-Management, habe davor offenbar keine Veranlassung für eine Ad-hoc-Mitteilung gesehen, berichtete die "Wirtschaftswoche" weiter. Er habe am 24. August 2015 selbst die Anweisung gegeben, dass die Pressestelle erst einmal nichts zu unternehmen hätte, zitiert das Magazin einen Zeugen. Eine Information an die Börse zu unterlassen, kann als Marktmanipulation ausgelegt werden. Die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ermittelt deshalb gegen Diess, den früheren Konzernchef Martin Winterkorn und den Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch, der während der Dieselaffäre Finanzvorstand von Volkswagen war. Alle drei äußern sich wegen der laufenden Untersuchungen nicht.