Volatilität : Volatile Beschaffungsmärkte: Alltäglicher Wahnsinn

Volatilität
© Gernot Reisigl

Bernhard Goliasch von der RHI hatte einfach an alles gedacht. „Planungsfrequenzen erhöhen, Vertragslaufzeiten anpassen, Materialflüsse optimieren“: Über jeden der Punkte referierte er im Juni auf dem Österreichischen Logistiktag. Denn Antworten waren gesucht – immer größere Marktschwankungen und die zunehmende Unplanbarkeit halten die Industrie in Atem. „Es wurde teils heftig diskutiert“, erinnert sich Goliasch. Doch eine Maßnahme setzte der Gruppenleiter Supply Chain Management damals bewusst nicht auf seine Folien – die zusätzlichen M&A-Aktivitäten zum Thema Rohstoffversorgung in der RHI. „Zwar war das Thema bei uns schon auf der Agenda – aber es gab im Juni noch keinen spruchreifen Zukauf, begründet Goliasch. Im Laufe des Jahres sollte sich das ändern. Gleich zweimal schlug die RHI 2011 zu – in Irland und Norwegen. Die Unternehmen SMA Mineral Magnesia AS und PPL werden seither in den Konzern integriert. Die Dubliner produzieren 70.000 Tonnen Sintermagnesia pro Jahr, in Norwegen entsteht seewasserbasierter Kauster, der zu Schmelzmagnesia weiterverarbeitet werden kann. Für die RHI, deren Rohstoffplanungssicherheit derzeit trotz aller Mühen nur bei 95 Prozent liegt, ein Schritt, sich aus dem Würgegriff asiatischer Rohstofflieferanten zu lösen. China sei zurzeit sehr volatil – „und sorgt für Preisüberraschungen der unangenehmen Art“, so Goliasch. Alltäglicher Wahnsinn Nicht nur der chinesische Drache hebt sein Haupt. Die extreme Liquidität auf den Finanzmärkten führt zu irrationalen Währungsschwankungen. Als ob das nicht genug wäre: Das Kapital fließt auch in Metall- und Rohstoffmärkte und sorgt für Kursexplosionen, auf die kurze Zeit später Kursstürze folgen. Der britische Professor Martin Christopher von der Universität Cranfield hat die Volatilität der Märkte seit 1970 untersucht – sein Fazit ist ernüchternd: Seit der Ölkrise 1973 waren die Schwankungen nicht mehr so hoch wie 2008, seither lebt die Unsicherheit aus den Krisenjahren fort. Die Volatilität wird zum Normalzustand. „Sie erschlägt zurzeit die Welt“, sagt auch Gerd Kerkhoff, Vorsitzender der Geschäftsführung der Düsseldorfer Einkaufsberatung Kerkhoff Consulting. „Es geht nicht mehr darum, zum Einkaufszeitpunkt den besten Preis zu haben“, meint er. Die Frage sei vielmehr, „ob man den richtigen Zeitpunkt erwischt“, so Kerkhoff. Die Industrie erfährt das zurzeit am eigenen Leib. Denn nicht nur schwanken die Preise und Kapazitäten der Materialmärkte. Auch die Absatzmärkte und Vorproduzentenmärkte sind höchst volatil. „Die Mengenbedarfe schwanken stärker denn je“, beobachtet Franz Staberhofer, Obmann des Vereins Netzwerk Logistik (VNL). Selbst den Vorhersagen der hauseigenen Statistiker traut man nicht mehr uneingeschränkt. „Auch über interne Vorhersagen schauen wir alle drüber, bevor wir noch einmal mit zu hohen Beständen durch die Gegend fahren“, heißt es bei einem Industriebetrieb angesichts der jüngsten Volatilitätsexzesse. Der Planungsunsicherheit mit Zukäufen wie bei der RHI ein Schnippchen schlagen hat Charme – nicht jeder Betrieb ist dazu aber in der Lage. INDUSTRIEMAGAZIN sprach mit heimischen Leitbetrieben über deren Beschaffungswesen – und fand erstaunliche Auswege aus der Planungsmisere.

Palfinger: Ende der Pseudo-Partnerschaften. Für die erfolgsverwöhnten Salzburger lief lange alles wie am Schnürchen. „Ein bestes Firmenjahr der Geschichte jagte das andere“, erzählt Thomas Petran, Leiter globales Supply Chain Management bei Palfinger. Doch dann der Schock. Als Frühzykler erwischte den Kranhersteller schon 2008 voll die Krise – „wir mussten die produzierte Tagesstückzahl radikal absenken“, sagt Petran. Auch wenn die Krise heute überstanden scheint – die Unsicherheit auf den Märkten ist den Salzburgern wie vielen anderen geblieben. Doch nicht jeder weiß wie Palfinger auf die neue Situation zu reagieren. Die Produktion der Salzburger wusste zwar schon bisher, was in 20 Tagen vom Band fallen muss. Und neue Aufträge konnten ohne große Umstände ins System miteingeschleust werden. Doch ein internes Regularium kam bei Palfinger erst vor kurzem zu neuen Ehren – der runde Tisch. „Da gehen wir die Markterwartungen für die nächsten zwölf Monate durch“, erzählt Petran. Derartige Meetings sind nichts Ungewöhnliches. Doch früher fanden die Sitzungen zweimonatlich statt – heute steckt man alle vier Wochen die Köpfe zusammen, bis sie rauchen. Zusätzlich optimierten die Salzburger ihre Planungsinstrumente. Händlern stellte man die Rute ins Fenster – sie liefern jetzt noch genauere Forecasts. Informationen, „die wir dann um eigene Inputs erweitern“, so Petran. Und Lieferanten mit einem „möglichst breiten Artikelspektrum“ werden mit einer rollierenden 12-Monats-Planung „versorgt“, sagt Petran. Liefer- und Abnahmeverpflichtungen sind dabei die Regel. „Damit sichern wir uns vertraglich ab, dass sich Lieferanten ebenfalls absichern“, so Petran. Ein Schritt, der von Franz Staberhofer, Obmann des Vereins Netzwerk Logistik (VNL), als klug erachtet wird. Die Zeit der „Pseudo- Partnerschaften“ mit Lieferanten sei „vorbei“, bestätigt er. Lieferantenportal Stahl ist für Palfinger der wichtigste Rohstoff. Beschaffungsseitig derzeit kein Leichtgewicht – die Salzburger müssen mit Lieferzeiten von bis zu einem Jahr rechnen. Bei schneller abrufbaren Materialien will der Betrieb jetzt „die Frequenz der Planungsübermittlungen erhöhen“, erklärt Thomas Petran, Leiter globales Supply Chain Management. Bisher geschieht dies noch auf Monatsbasis. Künftig soll es 14-tägige Updates für die Lieferanten geben. „Notfalls sogar wöchentliche Updates, wenn sich neue Marktschwankungen ankündigen“, sagt Petran. Möglich machen soll das ein – vorerst für Europa vorgesehenes – Lieferantenportal. Petran weiß: Für die Lieferanten – 20 von rund einhundert sind schon angebunden – bringt das gewisse „Umstellungen“ mit sich. Die Salzburger erwarten sich weniger Medienbrüche im Informationsfluss – Lieferanten müssten künftig etwa „für alle Bestellungen Auftragsbestätigungen senden“, so Petran. Weltweit durchset- zen will der Betrieb auch sein flexibles Arbeitszeitmodell – vergleichbar mit einer Gleitzeit für Arbeiter. In Zeiten der Hoch- konjunktur aufgebaute Zeitkonten gleitet der Industriebetrieb bei Unterauslastung ab. Und „Jahresmengen kontraktieren wir heute nicht mehr so ohne weiteres“, sagt Thomas Petran. Denn das habe man in der Krise „gelernt“: Selbst nach fünf Jahren Hochkonjunktur können ein starkes Produktionsprogramm und hohe Kapitalbindung zum Problem werden. Die neue Vorgabe: Kürzere Vertragslaufzeiten, „um nicht in den eigenen Beständen zu ersticken“, so Petran.

Schwing: Dreistufenmodell für Lieferanten. „Versetzen Sie einmal eine alte Eiche.“ Klaus Hreniuk, Geschäftsführer des Kärnt- ner Systemhauses für Betonbaumaschinen Schwing, weiß nur zu gut, wie schwer es ist, einen Traditionsbetrieb (am Land) umzukrempeln. Doch Anpassungen im Einkaufsprozess – und auch der Produktion – waren „nötig“, meint Hreniuk. Denn 2009 hatten die Kärntner noch einen validen Planungshorizont von sechs bis acht Monaten. „Heute liegt er bei drei Monaten“, erzählt er von einer gänzlich neuen Situation. Die Lavanttaler beliefern fünf Montagewerke der Konzernmutter – das Rad dreht sich auch hier schneller, „obwohl wir Intercompany sind“, beobachtet Hreniuk. Die Ankündigung eines Stahlherstellers, im zweiten Halbjahr seine Kapazitäten „anzupassen“, sei für Hreniuk ein „typisches“ Alarmsignal. Denn die Kärntner beziehen keinen Massenstahl, sondern Spezialstahl. „Da werden Liefermengen zuerst korrigiert“, so Hreniuk. Ein anderes Problem: Jeder wolle sein Risiko delegieren – „das fängt schon bei der Vorbestellung an“, fiel dem Manager zuletzt auf. Die klassische Kunden-Lieferanten-Beziehung sei Vergangenheit. Anfrage, Angebot, Auftrag und Auftragsbestellung – damit war früher der Fisch an Land gezogen. Heute heiße es auf Basis von Rahmenvereinbarungen nur mehr: In zwei Wochen sei bitte schön die Lieferung da. Der Lieferspielraum verkürze sich zudem massiv: „Auf 30 Tage und weniger“, beobachtet Hreniuk. Deshalb hob der Betrieb einen „dreistufigen Planungsprozess“ für seine 260 Lieferanten aus der Taufe. „Den internen eingeführten Planungsprozess spiegeln wir auf unsere Lieferanten“, sagt Hreniuk. Stufe drei: eine erste Vorabinformation – ein Jahr im Voraus. Stufe zwei: eine Konkretisierung auf Planungsebene, drei Monate Vorlauf. Eintrittswahrscheinlichkeit: 90 Prozent. Stufe eins: Die Bestellung, vierzehn Tage Vorlauf. Ein „spannender innerorganisatorischer Umbruch“ sei das für die Firma gewesen. Aber auch für die Lieferanten. Wer nicht mit will, hat laut Schwing-Chef Klaus Hreniuk „ein Problem“. Aber er sieht die Sache auch positiv. 60 Lieferanten sind schon dabei – Lieferanten „erfahren von uns auf den Tag genau die Lieferzeit“, sagt er. Eine Win-win-Situation für alle. Denn A- und B-Lieferanten wären erstmals „integrativ in die Versorgungskette und den Informationsfluss eingebunden“, so Hreniuk. Produktionsworkshops Viele Mittelständler „haben ihre Produktionsplanung nicht im Griff“, spricht Franz Staberhofer, Obmann des Vereins Netzwerk Logistik (VNL), eine andere Facette der Lieferkettenproblematik an. Kurze Durchlaufzeiten seien in aller Munde – aber längst nicht überall realisiert. Gleiches gelte für die schlanke Fertigung. „Ein Gerücht, dass sie jeder beherrscht“, meint Staberhofer. Eine deutsche Studie der P3 Ingenieurgesell- schaft und des Arbeitswissenschaftlichen Instituts Bremen (AIB) bestätigt den Befund. Zwei Drittel der befragten Mittel- ständler können zwar etwas mit der schlanken Fertigung anfangen. Doch bei der Umsetzung und Anwendung hapert es. Mengenvorteile bei den Produktionsmaschinen seien „längst nicht mehr die entscheidende Größe“, meint Schwing-Chef Klaus Hreniuk. Auch mit Losgröße „eins“ ließe sich „wirtschaftlich arbeiten“, haben die Kärntner herausgefunden. Und man nehme so Druck aus der Lieferkette. Einerseits spulte der Betrieb zuletzt verstärkt „klassische Rüstworkshops“ ab, Abtei- lungsorganisationen wurden in kleinere Einheiten zerlegt. Und auch die zentrale Produktionssteuerung drängten die Kärntner zurück. Im Lavanttaler Werk ist sie jetzt nur mehr für die Arbeitsvorbereitung da. „Die Feinplanung nehmen Meister in der Produktion auf dezentralen Steuerungen selber in die Hand“, erzählt Hreniuk.

RHI: Materialtransporte mit der Transsib Bernhard Goliaschs Beobachtungen ähneln denen anderer Supply Chain Manager. „Bei einem Auftragsloch schließen Rohstofflieferanten derzeit viel kurzfristiger für ein, zwei Monate ihre Werke“, ist dem RHI-Mann aufgefallen. Die Politik einiger Großkonzerne mache die Sache nicht unbedingt leichter: Brauchbare Vorhersagen sind immer schwerer zu ergattern. Konzerne seien heute „mehr aufs Reagieren aus“, sagt Goliasch verblüfft. Vorgelagerte Produktionsstufen ins Unternehmen zu integrieren hat für den Feuerfesthersteller deshalb höchste Priorität. Mit der Kapazitätserweiterung in der Türkei und den Akquisitionen SMA und PPL wird die RHI ab Mitte 2012 eigenen Angaben zufolge über einen Selbstversor gungsgrad bei Magnesiarohstoffen von rund 80 Prozent verfügen. Andere Konzep te verschwinden damit nicht in der Schublade. Kleinere Rohstoffmengen „hochfrequent zu halten“ war bisher eine Strategie des Betriebs – und bleibt es auch weiterhin. Magnesitische Rohstoffe führte man früher per Seefracht ein. Alle paar Monate er- reichten die europäischen Werke Lieferungen mit 20.000 oder 30.000 Tonnen – „damit war unser Bedarf für zwei bis vier Monate gedeckt“, erzählt Goliasch. Doch kostenseitig war die lange Vorratshaltung suboptimal – also suchte der Industriebe- trieb nach Alternativen, „ohne dass die Transportkosten in die Höhe schossen“, so Goliasch. Die Lösung: Die Transsibirische Eisenbahn. „Jede Woche geht ein Zug, 23 Tage später ist die Lieferung in unseren Werken“, so Goliasch. Zwar ist der Bedarf an magnesitischen Rohstoffen vorerst durch die Zukäufe in Norwegen und Irland gedeckt. Dafür halte die RHI per Eisenbahn nun kleinere Mengen Graphit und Zirkon „hochfrequent“, so Goliasch. Seine Präsentationsfolien hat er dahingehend schon überarbeitet.