Intralogistik : Viele Produktionsbetriebe haben interne Materialflüsse nicht im Griff

Lager Logistik
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Es sollte schnell gehen und grün enden. Fünf Monate Bauzeit könnten für das neue, voll automatisierte Logistikzentrum reichen, fand Eduard Fischer, Chef der Offsetdruckerei Schwarzach. Projektziel: Ein Hochregallager, das mit einer verdoppelten Produktionskapazität des Verpackungslieferanten für Konsumgüterhersteller fertig wird. So weit, so klar. Aber Fischer hatte an seine Intralogistik-Lösung noch einen etwas gehobeneren Anspruch: „Unser Maßstab beim Bauprojekt war das Zertifikat für klimaneutrales Drucken. Ein solches Logo auf den Verpackungen schafft Vertrauen und damit einen Wettbewerbsvorteil.“ Realisiert wurde das Hochregallager daher in Holz - etwas teurer als Stahl, aber schnell zu bauen und CO2-schonend. Einsparungen bringt die 2010 eröffnete, von LTW Intralogistics konzipierte Anlage vor allem beim Energieverbrauch. Die drei Regalbediengeräte sind leicht, bei jedem Spiel sind Fahr- und Hubgeschwindigkeit so aufeinander abgestimmt, dass beide Bewegungen ihr Ziel gleichzeitig erreichen, was teure Leistungsspitzen vermeidet und den Verschleiß verringert. Außerdem wird die Energie jeder Hubschlitten-Abwärtsbewegung in Strom umgewandelt, der ins Netz zurückgespeist wird.Dass interne Materialflüsse, Marketing- und Unternehmensstrategie so ineinander greifen wie bei der Offsetdruckerei Schwarzach, ist bei heimischen Industriebetrieben beileibe nicht Standard. Ein gutes Drittel, stellte Christoph Kopp von der Managementberatung Horvath & Partners bei einer Befragung von mehr als hundert Industriebetrieben fest, hat seine internen Materialflüsse nicht voll im Griff und stuft deren Organisation als „schlecht“ oder „ganz schlecht“ ein: „Die innerbetriebliche Logistik ist eine absolute Schwachstelle vieler Unternehmen.“ Herbert Heiss, Chef des Lager- und Fördertechnik-Spezialisten HLF Heiss, wundert sich immer wieder: „Oft ist man sogar bei größeren Firmen überrascht, wie vergleichsweise primitiv sie dahinarbeiten.“Unternehmen mit schwacher innerbetrieblicher Logistik benötigen zur Aufrechterhaltung ihrer Lieferfähigkeit hohe Bestände im Halbfertig- und Fertigwarenlager, was die Kosten treibt. Historisch gewachsene Strukturen entpuppen sich immer wieder als Hemmschuh. „Betriebsgebäude und Prozesse eines Unternehmens sind oft verschachtelt“, sagt Rudolf Hansl, Geschäftsführer der TGW Logistics Group. „Oft gibt es in verschiedenen Produktionsbereichen dezentrale Lager mit lokalem Bestandsmanagement. Eine Zusammenführung in einem Lager, zentrale Verwaltung der Waren und eventuell automatische Versorgung der Produktionsbereiche bringen hier deutliche Vorteile.“ Auch bei der Modellierung der eigenen Bestände oder der Entscheidung zwischen Zentrallager und Vorort-Lager sieht Berater Christoph Kopp noch reichlich Verbesserungsbedarf: „Viele Unternehmen sind mit einem Pull-Prinzip erfolgreich, bei dem die Nachfrage erst die Produktion auslöst.“ Informationssystem ohne Überblick.Guido Artschwager, Geschäftsführer des Logistik-Softwareanbieters Artschwanger & Kohl, ortet eine weitere Schwachstelle in historisch gewachsenen IT-Systemen, über deren Zweckmäßigkeit die Logistiker irgendwann die Kontrolle verloren haben: „Während in kleinen Betrieben ein Überblick vom Wareneingang bis zum Warenausgang noch möglich ist, kommen mittlere und große Unternehmen schon aus rein wirtschaftlichen Gründen nicht ohne Informationssysteme aus. Wie gut diese funktionieren, ist oft nicht einmal bekannt.“ Vielfach brächten hier erst Kunden-Forderungen, Produktionsstillstände oder gehäufte Reklamationen zu Tage, wie risikoreich, umständlich oder gar unwirtschaftlich das eigene Informationsmanagement eigentlich sei. Auch bei der Software zur Lagerverwaltung kann noch optimiert werden, vor allem, wenn die eigenen Abläufe Flickwerk im IT-System verursachen. Das Patchwork kostet extra: „Anwender gehen im Allgemeinen davon aus, dass Lagerverwaltungssysteme heute zu einem Großteil standardisiert sind. Viele sind sich der Sonderabwicklungen in ihrem eigenen Lager nicht bewusst, die im Rahmen der Installation eines neuen Systems zu umfangreichen Software-Anpassungen führen“, sagt Ralph Ehmann, Geschäftsführer des Logistikberaters IWL. „Diese zusätzlichen Leistungen sollten im Projektbudget nicht unterschätzt werden.“ Mehr als eine gute Lösung.Manche Fußangeln bei der Planung des innerbetrieblichen Materialflusses sind gar nicht zu umgehen, erläutert Matthias Heddinga, Vetriebs- und Marketingleiter von LTW Intralogistics: „Ein Problem liegt in der Tatsache, dass es oft mehr als eine gute Lösung gibt und der Auftraggeber für sich definieren muss, welche für ihn die richtige ist.“ Nicht einfach sei es auch, den richtigen Planungshorizont für eine Automatisierungslösung zu wählen und die künftigen Bedarfe für deren Dimensionierung abzuschätzen. LTW benutzt dazu auch computergestützte Simulationen unterschiedlicher Lösungen. „Bei komplexen Anlagen ermöglichen sie eine fundierte Planung und sind im Vergleich zu einer Fehlkalkulation sehr kostengünstig“, sagt Heddinga. Allerdings nur bei wirklich großen Anlagen. „Bei kleineren, zum Beispiel einem Hochregallager mit einer Fahrgasse für ganggebundene Regalbediengeräte, ist eine Simulation eher die Ausnahme.“ Bei kleineren Unternehmen greifen die Experten der zum Doppelmayr-Konzern gehörenden LTW am ehesten beratend ein, weiß Heddinga: „Sollten wir bemerken, dass der Kunde den Einfluss von Automatisierung auf seine Prozesse unterschätzt, schlagen wir alternative Lösungen vor.“Soll die gesamte Leistung auch zu Spitzenzeiten im (automatisierten) Standardprozess abgebildet werden, muss definiert werden, an welchen Stellen in der Logistiklösung die Leistung flexibel werden kann. Das läßt sich auch über die Arbeitsorganisation lösen, sagt TGW-Chef Rudolf Hansl: „Intelligente Arbeitsplätze können mit unterschiedlich vielen Mitarbeitern besetzt werden und damit verschiedene Durchsatzleistungen erzielen.“ Oder man reagiert auf Auslastungsschwankungen mittels Schichtplan: „Der automatisierten Logistiklösung ist es egal, ob sie einschichtig oder dreischichtig genutzt wird.“ Fortsetzung auf Seite 2.

Um der steigenden Volatilität der Kundennachfrage im Bereich der Intralogistik entgegen zu wirken, kann ein maßgeschneidertes Mischsystem aus automatisierten und manuellen Lagerbereichen sinnvoll sein – so lassen sich Überinvestitionen vermeiden. LTW Intralogistics entwickelt für Kunden auch flexible Lager-Layouts mit skalierbaren Systemen: „Man automatisiert die Grundlast und eine definierte Reserve; Spitzenlasten werden manuell bearbeitet“, erläutert Matthias Heddinga.Auf das Schritt-für-Schritt-Prinzip setzt auch Herbert Heiss. „Wenn das Prognose-Soll für die kommenden drei bis fünf Jahre nicht allzu riesig ausfällt, kann eine halbautomatisierte Lösung gescheiter sein.“ Zumal bei einer Vollautomatisierung die Personalverfügbarkeit oft nicht ausreichend bedacht werde: „Solche Systeme brauchen zur Betreuung einen Spezialisten, der dauerhaft im Betrieb sein muss.“ Fördertechnik-Berater Heiss liefert in solchen Grenzfällen Vorschläge für ergebnisoffene Lösungen mit, die mit steigenden Anforderungen weitere Automatisierungsschritte ermöglichen.Automatisierung ist kein Allheilmittel, weiß auch Berater Christoph Kopp: „Sehr viel liegt an der Strukturierung und Standardisierung von Abläufen – das ist eine Frage der Disziplin und etwas, das sich mit relativ geringem Aufwand machen lässt.“ Die Prozessoptimierung ist für LTW-Mann Matthias Heddinga Ulima ratio: „Wenn die Systemleistungen ausgeschöpft sind, liegt oft weiteres Rationalisierungspotenzial in angrenzenden Prozessen – von der Vermeidung von Transporten bis zur Optimierung von Packschemen.“ Nicht ins Blaue automatisieren.Sorgsamer Umgang mit den investierten Mitteln ist für Torsten Reichardt von SSI Schäfer Knackpunkt einer funktionstüchtigen Intralogistik: „Man kann die Kommissionierleistung von Mann-zu-Ware auch erhöhen, ohne die Kosten durch eine eventuell überdimensionierte Vollautomatisierung in den Himmel zu treiben.“ Um zu vermeiden, dass bei starken saisonalen Schwankungen etwa mangelnde Auslastung einer vollautomatischen Kommissionierlösung einer Amortisation der vergleichsweise hohen Investitionskosten verlängert, rät Reichardt zu teilautomatischen Systemen, wie Pick-by-Voice-Lösungen, bei denen die Mitabeiter über ein Headset mit der Lagerverwaltung verbunden sind, während sie kommissionieren. Ein weiterer Schritt in Richtung Automatisierung wäre das Radio-Frequency-Picking. Dabei stehen Mitarbeiter über tragbare Geräte in Kontakt mit der Lagerverwaltung. Auf den Displays werden Kommissionier-Aufträge angezeigt und können per Tastendruck direkt quittiert werden. Falls die Bewegungen im Lager überwiegend mit Staplern durchgeführt werden, empfiehlt Reichardt ein Staplerleitsystem, das den Fahrer effizienter durchs Lager führt, als wenn er seinen Weg selbst suchen müsste. Dabei werden alle Materialflüsse im Computer erfasst: Die Bestandsführung folgt so immer den physischen Materialbewegungen. Ein Vorteil der kleineren Lösungen: Sie sind wie Legosteine. „So etwas kann als Stand-alone-Lösung eingesetzt oder mit weiteren Komponenten zu einem Gesamtsystem kombiniert werden“, meint Torsten Reichardt. Schwarmintelligente Förderfahrzeuge.Künftig soll Überdimensionierung verhindert werden, indem die Automatisierungslösungen selbst flexibler werden. Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik in Dortmund wollen in den kommenden fünf Jahren eine „Schwarmintelligenz“-Lösung entwickeln, die heute geläufige Intralogistik-Lösungen aus Stetigfördertechnik und Regalbediengeräten dort ersetzen kann, wo Flexibilität besonders gefragt ist. Bisher werden ausgelagerte Behälter von den eingesetzten Regalbediengeräten oder Shuttle-Systemen an eine stationäre Fördertechnikanlage übergeben und so in die Kommissionierzone transportiert. Der Nachteil: Der Transportweg ist meist nicht der direkte.Der neue Fraunhofer-Ansatz basiert auf der Idee, bisher nur im Regal eingesetzte Shuttles aus dem Regal fahren zu lassen und den gesamten Transport vom Lager bis zur Kommissionierung ohne Umschlagvorgang abzuwickeln. Das autonome Transportfahrzeug soll Aufträge und die optimalen Wege selbstständig suchen. Kern des Forschungsprojektes ist eine dezentrale Steuerung: „Die Fahrzeuge bewegen sich frei in der Halle und fahren praktisch überall. Sie koordinieren sich untereinander“, erklärt Institutsleiter Michael ten Hompel die „Schwarmintelligenz“ der neuen Lösung. Dabei wird Multi-Agenten-Software eingesetzt, die Shuttles stimmen sich bei Auftragsdisposition und Routenfindung per WLAN untereinander ab. Die Schwarmintelligenz soll die internen Materialflüsse deutlich flexibler machen: Nach Bedarf können Fahrzeuge eingestellt oder herausgenommen werden, um auf saisonale und Tagesschwankungen zu reagieren. Baustellenbesuch.Selbst die ausgefeilteste Automatisierungslösung kann ohne die Kooperation der Mitarbeiter zum Millionengrab werden. Herbert Heiss setzt auf den Transparenz-Faktor: Betroffene Mitarbeiter sollten schon im Vorfeld über neu aufgesetzte Intralogistik-Systeme informiert werden. Besuche auf Baustellen für neue Betriebs- und Lagergebäude inklusive: „Da kann man den Leuten ihren künftigen Arbeitsplatz zeigen, Veränderungen ihrer Tätigkeit erklären und ihnen so Ängste nehmen.“ Sonst können sich Widerstandsnester bilden, die das Funktionieren der ganzen – oft teuren - Lösung gefährden.Christoph Kopp rät Unternehmen zur Optimierung der Intralogistik mit Hilfe einer Wertstromanalyse über die gesamte Fertigung hinweg: „Diese kann es ermöglichen, die Durchlaufzeiten um den Faktor 2 bis 4 zu reduzieren. Es ist aber wenig sinnvoll, das nur für Einzelanlagen zu machen.“ Basis einer solchen Analyse sind oft schon vorhandene Informationen, die nur neu zusammengefügt werden müssen. Viele Betriebe haben schon kontinuierliche Verbesserungsprozesse installiert, in deren Rahmen sich auch das Prozess-Wissen der Mitarbeiter vor Ort abschöpfen lässt. Empfänglich sind dafür jetzt wieder mehr Firmen, beobachtet Kopp, wenn auch aus verschiedenen Gründen: „Der Kostendruck war in der Krise höher, ist aber immer noch da. Oder man stellt bei anziehender Auftragslage wieder auf den Betrieb mit knapperen Kapazitäten um und richtet den Fokus wieder auf die Flexibilität der Produktion und die Verfügbarkeit der Produkte.“ Maike Seidenberger