Jede Familie hat ihre eigenen Gesetze. So auch die Greiners aus Oberösterreich. Aber im Unterschied zu anderen Familien haben die Greiners ihre Regeln aufgeschrieben und sogar notariell beglaubigen lassen. Zehn Seiten umfasst der Syndikatsvertrag – von der Sippe ehrfurchtsvoll „Familiengesetz“ genannt – das von jedem einzelnen Mitglied handschriftlich unterzeichnet wurde. Von Boris Greiner genauso wie von seinem Cousin Axel, von Boris’ Vater genauso wie von dessen Schwägerin. Exakt vierzigmal steht der aus dem Altschwäbischen abgeleitete Name, der so viel wie „mürrisch“ und „zänkisch“ bedeutet, auf dem büttenweißen Papier mit dem roten Siegel. Denn so groß ist der Clan, der die Regeln des Miteinanders per Vertrag fixierte. Dass die Anfertigung dieses Dokumentes vor mehr als zwanzig Jahren überhaupt erforderlich war, liegt an einer Besonderheit. Die österreichisch-deutsche Großfamilie verbindet zwar die Abstammung von einem schwäbischen Förstergeschlecht. Doch für die Führung der Greiner-Gruppe, mit einem Umsatz von über einer Milliarde Euro eines der größten Industrieunternehmen Österreichs, müssen unterschiedliche Charaktere – vom sparsamen Schwaben bis zum kummerlosen Traunviertler – sowie widerstrebende Interessen unter einen Hut gebracht werden. „Der Vertrag ist die Basis unseres Zusammenhaltes“, sagt Boris Greiner aus der fünften Generation. „Er legt unsere Rechte und Pflichten gegenüber dem Unternehmen fest.“ Boris und Axel. Wer trägt die Verantwortung, wie wird entschieden, was ist bei der Weitergabe von Anteilen zu beachten – Boris Greiner muss nicht erst in den Vertrag schauen, um die wichtigen Punkte aufzählen zu können. Er kennt den groben Inhalt auswendig. Dass er darüber sicherlich besser Bescheid weiß als viele seiner Verwandten, rührt aus seiner Position im Unternehmen. Der in Wien geborene Boris, 36 Jahre alt, bildet zusammen mit seinem schwäbischen Cousin Axel, 43 Jahre alt, den Vorstand der Greiner-Gruppe. Dabei könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein: Boris ist von der Statur her kräftig, vom Wesen her eher verspielt mit einer Vorliebe für technische Belange, Axel hingegen ist kleiner und drahtig, ausgestattet mit einem Faible für Zahlen. Gemeinsam mit ihren Spartenleitern entscheiden sie über die strategische Ausrichtung des Unternehmens, welche Innovationen sich realisieren lassen und wo auf der Welt Niederlassungen eröffnet werden sollen. Verantworten müssen sich die beiden Cousins wie alle Vorstände vor ihren Gesellschaftern. Und weil das bei einem Familienunternehmen eben die liebe Verwandtschaft ist, liegt das Wohl und Wehe der gesamten Sippe in ihren Händen. Die Verantwortung lastet jedoch nicht allein auf ihren Schultern. Unterstützt werden sie von Boris’ Vater, dem langjährigen Alleinvorstand des Unternehmens und nunmehrigen Vorsitzenden des Aufsichtsrates, sowie drei Verwandten, die als Mitglieder im Kontrollgremium sitzen. „Kein Platzerl frei.“ Ganze sechs Familienmitglieder sind also im Unternehmen tätig – von insgesamt 7.871 Mitarbeitern. Rein rechnerisch ist damit nur jeder Tausenddreihundertzwölfte ein „echter“ Greiner. Das erscheint unverhältnismäßig wenig – zumal sich die Familie in den vergangenen Jahrhunderten gleich in zwei Ländern vermehrte, heute insgesamt siebzig Mitglieder vom Säugling bis zur Großtante umfasst – und sicherlich einige von ihnen nichts dagegen hätten, den Erfolg des eigenen Unternehmens zu mehren. Doch die Begrenzung des familiären Einflusses ist kein historisch gewachsenes Prinzip. Sie ist vielmehr das Resultat einer wohl überlegten Struktur für ein stark wachsendes, international tätiges Unternehmen. „Im Syndikatsvertrag ist festgeschrieben, welche Aufgaben Familienmitglieder im Unternehmen übernehmen dürfen“, erklärt Boris Greiner. „Dadurch gibt es keine Diskussionen, ob wir für die- oder denjenigen noch ein Platzerl frei haben.“ So sinnvoll sich das anhört, so ungewöhnlich erscheint diese Vorgehensweise doch für ein Familienunternehmen. Denn dort mischen üblicherweise eher mehr als wenige Angehörige mit. Man denke nur an die Swarovskis, die die genetisch-geschäftliche Verflechtung in ihrem Kristallkonzern sicherlich perfektioniert haben. Strick oder Kork. Das war auch bei den Greiners fast einhundertzwanzig Jahre nicht anders. Gegründet wurde das Unternehmen 1868 von Carl Albert im deutschen Nürtingen. Der gelernte Kaufmann war damals von einer Messe in Paris nach Hause gekommen und hatte seiner Frau Emilie ganz aufgeregt von zwei erstaunlichen Maschinen erzählt: von einer, die stricken, und einer, die Kork schneiden kann. Da seine Gattin eine praktisch veranlagte Schwäbin war, konnte sie der Strickmaschine überhaupt nichts abgewinnen. Denn Stricken, so ihr etwas schnippischer Kommentar, könne man schließlich selber. Und so erwarb Carl Albert eben die andere Maschine und begann mit der Fabrikation von Flaschenkorken. Damit betrat er Neuland, denn bis dato wurden Korken ausschließlich per Hand hergestellt. Selbstverständlich band er seine vier Söhne in das sich vielversprechend entwickelnde Geschäft mit ein. Während der eher heimatverbundene Theodor ihn vor Ort unterstützen sollte, schickte er die anderen in die Welt hinaus. Den abenteuerlustigen Adolf beauftragte er mit dem Aufbau einer Korkverarbeitung in Spanien, dem gewandten Reinhold übertrug er den weltweiten Vertrieb, und Hermann, seinen Zweitältesten, schickte er nach Österreich, um dort eine weitere Korkfabrikation aufzubauen. Am 1. Juli 1899 nahm dieser mit 45 Arbeitern den Betrieb in Kremsmünster auf. Wie der pfiffige Gründer Carl Albert verfuhren auch seine Söhne mit ihren Kindern und diese wiederum mit ihren Kindern. Sie übertrugen ihnen zunächst Aufgaben im Unternehmen und übergaben es ihnen, wenn sie in Pension gehen wollten. Bis zur vierten Generation waren die Greiners somit ein richtiges Familienunternehmen.
Unter einem Dach. Das war nie zu ihrem Nachteil. Denn es gab immer mindestens einen Sohn im österreichischen oder deutschen Familienzweig, der besonders unternehmerisch veranlagt war und das Geschäft weiter ausbaute. So entwickelten sich parallel über die Jahrzehnte zwei eigenständige Betriebe in zwei Ländern. Die Korkproduktion bildete jeweils die Keimzelle, dann kam die Herstellung von Schaumstoff hinzu und später die Kunststoffproduktion. Dann, es war das Jahr 1977, fand in der österreichischen Familie ein alles verändernder Generationenwechsel statt. Hellmut Greiner übergab das Geschäft an seinen 35-jährigen Sohn Peter. Der war zu dem Zeitpunkt nicht nur relativ jung, sondern auch besonders ambitioniert. Er wollte das Unternehmen in eine neue Größenordnung führen. Unter seiner Ägide fand der Wandel vom Familienunternehmen zum Konzern statt. Dafür traf Peter Greiner eine Reihe wichtiger Entscheidungen. Eine führte ihn in den 80er Jahren zu seinen Verwandten nach Nürtingen in Deutschland. Dort machte er ihnen einen ziemlich vermessenen Vorschlag: Sie sollten ihr Unternehmen Greiner mit seinem Unternehmen Greiner zusammenlegen. Der Sitz der neuen Gruppe sollte in Kremsmünster angesiedelt sein. Betriebswirtschaftlich war das durchaus sinnvoll, waren beide Firmen doch auf die gleichen Bereiche – Kunststoff, Schaumstoff und Kork – spezialisiert. Deutlich schwieriger war es, eine passende Struktur für das neue Gebilde zu finden. Schlussendlich vereinigten die Familien ihre Unternehmen unter dem Dach einer Aktiengesellschaft mit eigenständigen Teilbereichen. Das war im Jahr 1986. Doch damit hatte Peter Greiner nur eine Teiletappe erreicht. Denn dieses deutlich größere Unternehmen, so seine Einschätzung, könne nur dann in eine erfolgreiche Zukunft steuern, wenn die besten Köpfe dort tätig sind. Das ist in einem Unternehmen, das einer Großfamilie gehört, aber nicht zwangsläufig gewährleistet. Denn mal braucht ein Angehöriger einen Platz für seinen Nachwuchs, mal will jemand sich selbst ins gemachte Familienest setzen. Schon allein die Vorstellung solcher Begehrlichkeiten ließ Peter Greiner um sein Unternehmen bangen. Daher entwarf ereinen Vertrag, in dem die Rechte und Pflichten der Familienmitglieder gegenüber der Firma festlegt sind. Die Sippe wächst. Doch unter Peter Greiner wuchs nicht nur das Unternehmen – in seiner Zeit erhöhte sich der Umsatz von 36 Millionen Euro um mehr als das Zehnfache. Auch die Familie wurde größer und größer. Umfasste die vierte Generation, der er selbst angehörte, noch rund 27 Nachkömmlinge, sind es bei der fünften Generation bereits 38. So sehr sich Peter Greiner auch über die Reproduktionsfreude seiner Großfamilie gefreut haben mag, für ihn erwuchs daraus ein Problem. Selbst wenn nicht jeder Neugeborene zum Zeitpunkt seines geplanten Ausscheidens alt genug sein würde, die Unternehmensleitung zu übernehmen, so blieben doch genug aussichtsreiche Anwärter auf die Firmenführung übrig. Dazu gehörten auch zwei seiner eigenen Kinder, nämlich Boris und dessen ältere Schwester Andrea. Doch sollte er die Verantwortung für das Unternehmen einfach in ihre Hände legen? Nach reiflichem Abwägen entschied sich Peter Greiner für einen anderen Weg. Der- oder diejenige sollte eines Tages seinen Posten übernehmen, der dafür am besten geeignet ist. Um das herauszufinden, rief Peter Greiner Ende der 90er Jahre den „Goldfischteich“ ins Leben. Die Fische, das waren zwölf junge Greinerianer mit Ambitionen auf den Chefsessel. Der Teich, in dem sie schwimmen lernen sollten, waren regelmäßige Zusammenkünfte mit Führungskräften des Unternehmens. Von diesen sollten sie in den wichtigsten Disziplinen trainiert werden. „Fische“ mit einer unternehmerischen Begabung taten sich dabei sicherlich leichter. Aber ohne Durchhaltevermögen kamen auch sie nicht wirklich weit. Denn erst im Jahr 2000, also mehr als sechs Jahre nach dem ersten Treffen, fand das finale Auswahlverfahren statt. Schwere Auswahl. An den Tag selbst kann Boris Greiner sich kaum noch erinnern. „Wir haben uns in einem Hotel in Salzburg getroffen“, sagt er. „Dort erwartete uns eine Jury aus Aufsichtsräten und externen Beratern, vor denen wir unsere Fähigkeiten unter Beweis stellen mussten.“ Projektarbeit, Rollenspiele, Einzelgespräche – härter sind auch Auswahlverfahren von großen Konzernen nicht. Doch die dortige Atmosphäre muss noch eine Spur angespannter gewesen sein. Denn immerhin ging es um die Vergabe der beiden Vorstandsposten. Dabei handelt es sich nicht nur um die wichtigsten Positionen im Unternehmen. Es sind auch die beiden einzigen Posten, die laut Firmengesetz überhaupt mit jungen Greiner-Aktionären besetzt werden dürfen. Sind diese vergeben, hat der Nachwuchs keine Möglichkeit, im Unternehmen zu arbeiten. Denn im Aufsichtsrat dürfen zwar auch noch vier Familienmitglieder tätig sein, aber dafür muss man einen großen Erfahrungsschatz vorweisen – und somit bereits deutlich älter sein, als die Teilnehmer des Auswahlverfahrens es mit ihren Mitte zwanzig bis Mitte dreißig waren. „Jedem von uns war klar, dass jetzt die Möglichkeit besteht, in die Firma einzusteigen“, sagt Boris Greiner. Jetzt – oder eben nie. Auch Boris Greiner hatte sich auf diesen Tag ordentlich vorbereitet. Zunächst studierte er Wirtschaft und setzte dann noch einen MBA in den USA drauf. „Dazu gehörte auch eine Projektarbeit, in der ich mich mit dem Aufbau eines Standortes für eine Greiner-Tochter in North und South Carolina beschäftigt habe“, erzählt er. Um seine unternehmerischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, übernahm er im Anschluss an die Ausarbeitung des Projektes auch dessen Umsetzung. Dass er in dem Auswahlverfahren schließlich ausgewählt wurde, mag nur noch ihn verwundert haben. „Am Ende des Tages war die Auswahl für mich eine Überraschung“, sagt Boris Greiner rückblickend. Tatsächlich war die Besetzung des zweiten Vorstandes erstaunlicher. Diesen erhielt nämlich sein deutscher Cousin Axel, ein promovierter Chemiker, der seine beruflichen Erfolge vor allem in der Forschung und Entwicklung erworben hatte. Firma mit Villa. Mit der Verjüngung des Vorstandes änderte sich auch die Firmenkultur. Offensichtlichstes Zeichen ist die stattliche Familienvilla auf dem Firmengelände. Hier wuchsen Generationen von Greiners auf, so auch Boris und seine drei Geschwister. „Wir sind als Fabrikantenkinder groß geworden“, sagt er. Saß er als kleiner Junge vor dem Schlafengehen noch auf dem Sofa im Wohnzimmer, konnte er seinen Vater schon von weitem erkennen, wenn dieser abends nach Hause kam. Und am Wochenende begleitete Boris ihn zur Poststelle, wo dieser seine Briefe abholte und sich dann noch einige Stunden im Büro in wichtigen Akten vertiefte. Doch die Zeiten sind lange vorbei. 2002 wurde die Familienvilla zur Vorstandsvilla umgebaut. Ein gläsernes Stiegenhaus lässt Licht in das früher als düster geltende Gebäude, die Wände sind weiß gestrichen und der Boden ist mit Granit ausgelegt. Im ersten Stock haben Boris und Axel Greiner ihre Büros, Tür an Tür. Das Erdgeschoß ist für Besprechungen im großen Kreis sowie für gemütlichere Runden hergerichtet. Es sieht dort also im Großen und Ganzen so aus, wie man sich die Räumlichkeiten eines Vorstandes vorstellt. Wenn nur nicht der Keller wäre. Dort befindet sich nämlich seit einigen Jahren die Krabbelstube des Unternehmens. Die Wände sind gelb gestrichen und mit lustigen Zeichnungen von Tieren und Pflanzen dekoriert, Berge von Spielzeug türmen sich in den Kisten am Boden. Die Räume gehören den Kindern der Mitarbeiter, die diese hier während ihrer Arbeitszeit betreuen lassen. Beide Vorstände wollten das so – auch wenn sie damit einen neuen Weg des Miteinanders einschlugen. „Kleinster gemeinsamer Nenner.“ Aber das blieb nicht die einzige Veränderung. Auch das Unternehmen selbst entfernt sich immer weiter von seinen Anfängen. Ende des Jahres verkauften Axel und Boris den einzigen Betrieb in Österreich, der noch an die Gründungsära anknüpfte. Es handelte sich dabei um eine Produktion von Korkverschlüssen in Wien. Nun gibt es nur noch einen Betrieb in Deutschland, der Korkplatten und –dichtungen herstellt. Aber auch dieser könnte über kurz oder lang verkauft werden, da er nicht mehr zum Kerngeschäft passt. Mittlerweile dreht sich bei der Greiner- Gruppe alles um Kunststoff. Dieser wird entweder selbst verarbeitet oder es werden entsprechende Maschinen hergestellt. Insgesamt umfasst die Greiner-Gruppe acht Geschäftsbereiche. Der größte heißt „Packaging“. Hier geht es um die Produktion von Verpackungen für die Lebensmittelindustrie. Der jüngste Bereich heißt Bio-One. Dieser ist aus einem Profitcenter des Unternehmens entstanden und auf die Herstellung von medizintechnischen Geräten aus Kunststoff spezialisiert. Zudem gibt es noch Eurofoam (Schaumstoff), Perfoam (Autozubehör), Multifoam (Recycling, Schaum), Purtec (Boilerisolierungen, Sitzkissen), Tool. Tec (Werkzeuge und Maschinen) und Rubbertec (Korkplatten und Dichtungen). Sie alle tragen heute wesentlich zum Wachstum des Unternehmens bei. Und das fiel mit 12,4 Prozent im vergangenen Geschäftsjahr besonders üppig aus. Angesichts so guter Nachrichten werden die vierzig Familienmitglieder den Ende April fertig gestellten Jahresabschluss sicherlich gerne zur Hand nehmen. Denn wenn sich „ihr Unternehmen“ erfolgreich entwickelt, profitieren sie davon im Rahmen ihrer Beteiligung. „Die Firma ist das, was die Familien zusammenhält. Sie ist der kleinste gemeinsame Nenner. Wenn es sie nicht geben würde, würde man sich auf Grund der weit verzweigten Verwandtschaft nicht mehr kennen“, sagt Boris Greiner. Vanessa Voss