Cloud in der Produktion : Takt aus der Wolke

Stefan Entfellner Bosch Aufmacher Cloud Computing IM Juli 2012
© Helene Waldner

Christian Otts Standpunkt zum Thema Rechnerwolke ist repräsentativ für die Meinung der CIOs mittelständischer Produktionsbetriebe: „Private Cloud? Ja klar. Public Cloud? In produktionsfernen Bereichen absolut eine Überlegung wert. Aber nur dort.“ Der IT-Chef von Banner betreibt schon längst seine private Wolke. An der hängen 29 Vertriebsstandorte. Die Batterieherstellung ist zentral in Linz angesiedelt. Insofern stellt sich derzeit die Frage nicht, ob Ott mit einer Produktionsstätte in die „Banner-Cloud“ gehen würde. Er beantwortet die Frage trotzdem ohne zu zögern: „Die Vorteile sind einfach zu groß, wenn ich meine Infrastruktur zentral aufstellen, verwalten und warten kann – organisatorisch wie kostenseitig.“ Nur das Ausfallsrechenzentrum würde er in den zweiten Produktionsstandort verlegen. Das steht zwar jetzt schon in einem getrennten Brandabschnitt, aber so könnte Ott IT-Verfügbarkeit und Datensicherheit noch einmal ein Stück höher schrauben. Eine unabdingbare Voraussetzung für die Produktionswolke ist aber die leistungsfähige Datenleitung, genauer gesagt zwei redundante Glasfaseranbindungen von unterschiedlichen Anbietern. Da hat die Telekomindustrie mittlerweile auch attraktive Offerte, das öffentliche Netz jedenfalls wäre für Ott tabu. Hier gehts weiter

„Ohne ERP geht bei uns nichts mehr“, lenkt Ott den Blick auf die Fertigung, „wir könnten zwar weiterhin Batterien herstellen, aber alle Prozesse rundum würden versagen.“ Die Bänder laufen eine kurze Zeit weiter, aber ohne die Logistikprozesse sind die Materialien bald unauffindbar und niemand weiß mehr, wohin mit der sich stapelnden Ware; es ist keine Etikettierung der fertigen Batterien möglich und dazu kommt noch, dass Banner bei jeder Batterie, die sie an einen Erstausstatter liefert, verpflichtend Messungen durchführen und im System dokumentieren muss. „Das macht es notwendig, die Produktion bei einem ERP-Ausfall sofort zu stoppen.“ Trotz der hohen IT-Abhängigkeit der Fertigung, man könnte auch sagen wegen der hohen Abhängigkeit, findet die Cloud aus dem eigenen Rechenzentrum großen Anklang. Für die ERP-Cloud aus dem Rechenzentrum eines IT-Providers müsste eine persönliche Beziehung und sehr großes Vertrauen da sein, denn in der Produktion steckt viel Know-how, die Daten dazu gibt niemand gern aus der Hand. Markus Neuwirth von der Kapsch BusinessCom kommt viel im Mittelstand herum: „Das Interesse am Cloud Computing ist bei meinen Kunden da. Der Zugang ist unterschiedlich.“ Unternehmen um die zehn Mitarbeiter können sich vor allem für das Backup in der Cloud erwärmen. Das Mittelfeld mit 50 Mitarbeitern und mehr lagert vereinzelt schon in das Rechenzentrum aus. „Bei der Produktions-IT: nein“, bestätigt Neuwirth, „da will man weiterhin die Kontrolle behalten.“BuntBesonders in der Automotivindustrie kann die Cloud ihre Vorteile ausspielen, wie das Beispiel von Magna zeigt. Magna ist sehr dezentral aufgestellt, auch viele IT-Entscheidungen werden auf lokaler Ebene getroffen. Dementsprechend bunt ist die ERP-Landschaft im Konzern, abhängig von der Größe kommen in den knapp 300 Werken unterschiedlichste Mittelstandslösungen zum Einsatz. Dieser dezentralen Philosophie bleibt Magna zwar verpflichtet, aber mittlerweile ist ein weiterer ERP-Anbieter hinzugekommen. Magna International bietet seit rund einem Jahr konzernweit SAP aus der Wolke an. Ob die einzelnen Werke auf die Wolke – genauer gesagt auf das Rechenzentrum von T-Systems in Wien – umsteigen, bleibt ihnen dabei selbst überlassen. Die Nachfrage ist groß, speziell in Europa. Neben den zwölf im Bau befindlichen Magna-Werken, die mit SAP starten werden, zählt Robert Seemann, Magna International, derzeit dreizehn Ablöseprojekte, also Standorte, die sich von ihrem Altsystem trennen wollen. Hier gehts weiter

„Wir gehen im Moment alle paar Wochen mit einem weiteren Werk live“, sagt Seemann, „ohne die Cloud könnten wir das Tempo niemals halten.“ In einem Konzernumfeld, in dem ständig Werke neu aufgebaut, zugekauft oder wieder verkauft werden, gibt sie der IT die nötige Flexibilität, um auf Veränderungen schnell zu reagieren: „Das betrifft auch die Bindungsdauer, ein neuer Kunde kann nach einem halben Jahr durchaus wieder aussteigen.“ Möglich wird all das, weil sich Seemann nicht um die Beschaffung der Hardware kümmern muss – und auch nicht darum, was mit ihr passiert, wenn sie nicht mehr benötigt wird. Die Cloud passiert auf einer virtuellen Ebene, ihre virtuellen Kapazitäten wie Server, Storage und andere Dienste sind beliebig erweiterbar und können sofort zurückgefahren werden, wenn sie nicht mehr benötigt werden. FunktioniertAls ein Argument gegen die Cloud im produktionsnahen Einsatz werden oft mögliche Probleme mit den Latenzzeiten angeführt. „Mir haben meine eigenen Techniker ursprünglich abgeraten, Werke in Übersee mit SAP aus Wien zu versorgen. Nach intensiven Tests haben wir uns anders entschieden. Jetzt sind wir mit den ersten Werken in Südamerika live. Es funktioniert in der Praxis.“ Die Achillesferse der Cloud liegt woanders: „Es ist die Verfügbarkeit. Sollte SAP oder die Datenleitung zu SAP nicht verfügbar sein, würde das die Produktion unterbrechen.“ Die hochkritischen Just-in-Time- und Just-in-Sequence-Prozesse könnten dann nicht mehr mit den notwendigen Produktions- beziehungsweise Montagedaten versorgt werden: „Wir müssen am Band genau in der Reihenfolge produzieren, in der die Fahrzeuge beim Kunden vom Band laufen. Das wissen wir normalerweise zwei bis drei Stunden, bevor unsere Teile am Fließband des Kunden verbaut werden. Und in der Zwischenzeit müssen wir sie noch produzieren beziehungsweise montieren und zum Kunden liefern.“ Für den Fall der Fälle hält der Automobilzulieferer daher Notprozesse bereit, um auch ohne SAP-Systeme lieferfähig zu sein: „Dann greifen wir über redundante Leitungsverbindungen direkt auf das Portal des Kunden zu, holen die Sequenzinformationen ab, pflegen diese direkt ins lokale Shopfloor-System ein und versorgen so unsere Kunden in der gewohnten Qualität.“KostendruckCloud und Produktion ja oder nein – diese Entscheidung kann man keinem abnehmen: „Jedes Unternehmen hat andere Anforderungen, für den einen passt es, für den anderen nicht“, sagt Thomas Krainz, Geschäftsführer der Industrie Informatik. Der oberösterreichische Anbieter hat einige Kunden, die das Manufacturing Execution System (MES) cronet-work im großen Stil aus der privaten Wolke betreiben – also weltweit. „Da stehen aber meist Kostenüberlegungen im Vordergrund. Aus Sicht der Anwender ist es tendenziell besser, wenn sich die MES-Infrastruktur im Werk vor Ort befindet.“ Damit ist die lokale Konnektivität zu den Anlagen, die Anbindung zu den Maschinen besser abzubilden, das System stabil und die Ansprechzeiten kein Thema. Hier gehts weiter

Setzt man aber in der Produktion auf die Cloud, muss einiges beachtet werden: „Zuerst die Latenzzeiten. Die setzen dem Cloud Computing über Kontinente hinweg Grenzen, für den Weg nach China und wieder zurück braucht ein Datensignal rund eine Drittel Sekunde. Hört sich nach wenig an, summiert sich aber mit der Zeit auf.“ Und eine Grenze darf nicht überschritten werden, betont Krainz: „Finger weg von HMI und SCADA!“ Die anlagennahen Prozessvisualisierungs-und -leitsysteme müssen unbedingt bei den Maschinen bleiben.Eine Stunde oder neun?HMI und SCADA ist die IT-Ebene, die den Maschinen am nächsten ist. Darüber kommt das MES mit dem Softwareterminal vor Ort. Da ist eine hohe Verfügbarkeit vonnöten, denn die Abhängigkeiten sind enorm: „Wir haben schon längst die papierlose Fertigung. Ohne IT weiß niemand mehr, was jetzt genau auf dieser oder jener Palette liegt.“ Die Industrie Informatik hat dieses Problem so gelöst, dass die Terminals am Shopfloor mit einer eingeschränkten Intelligenz ausgestattet sind, damit ist ein Notbetrieb möglich: „Wir verlieren keine Maschinensignale, keine Stückzähler, der Mitarbeiter kann Aufträge starten und beenden.“ Die zentrale Frage lautet also: Wie lang kann ich mit diesem Notbetrieb leben – eine Stunde, zwei, neun? Eine Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss. Aber pragmatisch. Denn Verfügbarkeit ist ein emotionales Thema – und ein ebenso kostenintensives.EntspannendEin kleines feines Werkzeug, um die Verfügbarkeit zu erhöhen – auch das kann aus der Wolke kommen. Stefan Entfellner und sein Team nutzen im Bosch-Werk Hallein MyCloudPC@Bosch zur Betreuung der Fertigungs-IT. „Die IT-Abteilung des Werks umfasst mit mir vier Mitarbeiter, wir decken aber einen sehr breiten Technologiebereich ab. Jeder von uns hat da spezielle Kenntnisse und Schwerpunkte“, sagt Entfellner, „das bedeutet auch, wenn ein Teammitglied gerade unterwegs oder auf Urlaub ist, ist ein Teil des produktionsrelevanten Know-how schwer zugänglich.“ So war das jedenfalls vor Einführung der Cloud-Lösung. Mit ihr kann Entfellner nun von jedem beliebigen Endgerät aus auf die Produktions-IT zugreifen – auch von einem Smartphone oder aus dem Internet-Café: „Damit können wir schnell und flexibel auf Störungen reagieren, auch wenn wir nicht vor Ort sind.“ Der Zugang ist denkbar einfach, eine Internetverbindung über ein beliebiges Endgerät, die Zugangsdaten und zur Authentifizierung ein RSA-Token. Der MyCloudPC@Bosch am Smartphone – so wird er in der Regel genutzt – ist eine Ergänzung zum Netzwerkzugang über den Firmenlaptop: „Das ist natürlich komfortabler, dort geht es aber schneller. Ideal für kleine Justierungen zwischendurch – ohne deswegen gleich eine Sitzung verlassen zu müssen.“ Die Wolke kann also auch entspannend wirken.Hier gehts weiter

Eines ist gewiss, die Zahl der Cloud-Offerings wird stark zunehmen, denn noch nie war es so einfach, eine Software als Cloudlösung anzubieten. Dafür sorgen Plattformen wie jene der Fujitsu Business Solutions Store. Mussten sich bisher die Softwarehersteller auf dem Weg in die Wolke um alles selbst kümmern, übernimmt das nun Fujitsu, sagt Peter Ploiner: „Unsere Lösung beinhaltet die Bereitstellung der Plattform, die Virtualisierung, das Bereitstellen der Infrastruktur und der Services, das Marketing in der Cloud, die Mandantenverwaltung und die Fakturierung – für den Softwareanbieter bleibt also wenig zu tun.“ Dazu steht Fujitsu für die Sicherheit und Integrität der Kundendaten. Und praktisch jede heute angebotene Software erfüllt auch die technischen Voraussetzungen für den Gang in die Cloud. Speziell für kleine Anbieter vergrößert sich damit der potenzielle Kundenkreis immens: „Im Grunde kann ein Kleinstunternehmen zu einem globalen Anbieter werden.“ Eine Gelegenheit, die wohl viele beim Schopf packen werden. Es ist also auch mit einem großen Angebot an Cloudlösungen für die Produktion zu rechnen. Wie erfolgreich die sein werden, ist abzuwarten. Schon heute auf der Fujitsu-Plattform vertreten ist HeliumV. Der Salzburger Anbieter offeriert seine Lösungen Dienstleistern wie produzierenden Unternehmen mit bis zu fünfzig ERP-Usern, und zwar aus der Cloud und auch als klassische Serverinstallation im Haus. Franz Moser ortet großes Interesse bei kleineren Handelsunternehmen und Dienstleistern: „Dort wo viel im Vertrieb passiert, ist die Cloudvariante ideal. Im Produktionsbereich hat sich HeliumV aus der Cloud dagegen bislang nicht durchsetzen können.“NullIn Zahlen: Null. Kein einziger produzierender HeliumV-Kunde setzt auf die Cloud. „Die Kunden haben in ihre eigene Internetverbindung wenig Vertrauen, und dann glauben sie nicht recht, dass ihre Daten in der Cloud wirklich sicher sind“, sagt Moser, „da fehlt auch das Vertrauen.“ Der Vertriebsleiter will niemanden in die Cloud drängen: „Wir können ja beides. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Cloud auch für die Industrie geeignet ist. Gerade die kleineren Unternehmen tun sich mit dem Tuning ihrer Server schwer, da wäre die Cloud in Kombination mit einer performanteren und etwas teureren Internetleitung oft die bessere Wahl.“ Auch bei Sage erwartet niemand, dass sich die Industrie begierig auf das frisch gelaunchte Cloud-ERP namens OfficeLine 365 stürzt. „So innovativ unser Mittelstand mit den Produkten ist, beim eigenen Geschäft sind sie doch eher konservativ“, meint Christian Büll nüchtern.Hier gehts weiter

Selbst Manufacturing-Execution-Systeme gibt es schon aus der Cloud. So ist der MES-Anbieter iTAC im Fujitsu Solution Store vertreten. Wie erfolgreich, konnte jedoch nicht eruiert werden. Das deutsche Unternehmen war für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Auf der iTAC-Website fand sich immerhin ein Bericht, dass der Automobilzulieferer Hella gerade MES-Testsysteme aus der Cloud evaluiert. Auskunftsfreudiger ist da Plex Systems, das ERP und MES als integriertes System aus der Wolke anbietet. Schon seit mehr als zehn Jahren. Früher nannte man das Software as a Service. Plex gibt es nur in der Cloud, im Heimmarkt ist man mit 600 Kunden jeder Größe erfolgreich, unter anderem bei einigen Magna-Töchtern. „Wir wenden uns mit Plex online ausschließlich an die Fertigungsindustrie, die Schwerpunkte liegen in der Automotive- und in der Lebensmittelindustrie“, sagt Thomas Rosenstiel, Direktor Europa. Seit knapp zwei Jahren gibt es Plex Europa, bislang wurde die Onlinelösung in Europa bei zwanzig Töchtern von US-Kunden eingeführt. Zurückhaltend Neukunden konnte man in Europa bislang keine gewinnen, aber das schreckt Rosenstiel nicht: „Wir waren uns bewusst, dass der Markt hier zurückhaltender ist als in den USA. Wir merken aber jetzt: Der Wind dreht sich. Auf Veranstaltungen kommen die IT-Verantwortlichen heute mit viel weniger Vorbehalten zu uns, sind offen für unsere Lösung. Und wir rechnen dieses Jahr bereits mit den ersten Abschlüssen.“ Latenzzeiten spielen für die Kunden der Plex-Lösung offenbar keine Rolle: „Beklagt hat sich noch niemand darüber.“ Verfügbarkeit ist natürlich ein Thema: „Das ist klar, wer im Produktionsbereich in die Cloud geht, der muss auch in die Datenverbindung investieren.“ Die Plex-Rechenzentren selbst garantieren jedenfalls 99,99 Prozent Verfügbarkeit: „Wir überlassen nichts dem Zufall, haben jedes erdenkliche Risiko berücksichtigt. Wir haben sogar vier verschiedene Diesellieferanten für unsere Notstromaggregate.“ Hört sich vielversprechend an. Ob die österreichischen Fertigungsunternehmen da anbeißen werden, wird sich noch weisen. Aber möglicherweise ist die industrielle Revolution aus der Cloud doch nur verschoben und noch nicht abgesagt.