Siemens : Bernhard Kienlein: "Der Wille ist da"

Bernhard Kienlein von Siemens über Digitalisierung.
© ANDI.BRUCKNER

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Kienlein, vor einem Jahr ging es in den Lockdown, jetzt sollen es Aufholeffekte richten. Wie sehr hat sich das Industriegeschäft stabilisiert?

Bernhard Kienlein: Siemens ist bis dato gut durch die Krise gekommen. Das Geschäft läuft erfreulich, wir liegen über unseren Erwartungen. Wenn wir sehen, wie wir die letzten Monate gemeistert haben und extrapolieren, welchen Boost eine breite Impfdurchdringung bringt, schauen wir sehr zuversichtlich in die nächsten Wochen. Der Aufholeffekt wird uns die nächsten zwei Jahre beschäftigen. In der Industrie sehen wir bereits jetzt schon positive Anzeichen wie z.B. in den Bereichen Maschinen- oder Automobilbau. Und die Pharmaindustrie hat sowieso weiter investiert.

Beim Corona-Management ging alles glatt?

Kienlein: Wir schafften es ohne Werksschließung, die Lieferketten rissen glücklicherweise bisher nicht ab. In einer außergewöhnlichen Situation ist Flexibilität mehr denn je gefordert. Es war beeindruckend zu sehen, wie rasch wir auf die veränderten Rahmenbedingungen in der Pandemie reagiert haben.

Unternehmen kämpfen mit der Liquidität. Welche Investitionsmuster erkennen Sie?

Kienlein: Es verschieben sich da und dort die Investitionspläne, aber der Wille ist da. Corona hat das Positive, aber auch die Defizite holzschnittartig verstärkt. Es braucht in der industriellen Fertigung Standardisierung, Offenheit, den Sprung auf Plattformen. Dort liegen – neben dem digitalen Zwilling - die großen Produktivitätshebel. Diese Erkenntnisse brachte nicht Corona - Corona hat jedoch den Handlungsdruck in einigen Feldern verstärkt.

Automobilbau und Maschinenbau traf es beide hart, wann zieht hier das Geschäft wieder an?

Kienlein: Die Automobilindustrie befindet sich bekanntlich in einem tiefgreifenden Strukturwandel, da bewegte sich bereits vor Corona ein langjähriger Zyklus seinem Ende zu, mit signifikanten Auswirkungen auch auf Teile des Maschinenbaus. Doch da sehen wir glücklicherweise bereits seit einiger Zeit wieder Licht am Ende des Tunnels. Beide sind sehr investitionsstark und hatten bereits vor der Pandemie ein hohes Interesse an Digitalisierungslösungen.

Was zieht aktuell mehr? Die klassische Ersatzinvestition oder die Neuausrichtung von Prozessen?

Kienlein: Der digitale Zwilling – die Verschmelzung der virtuellen und realen Welt – hat eine dynamische Entwicklung angenommen und ist hoch im Kurs. Durch unser Digital Enterprise Portfolio können wir den Unternehmen Digitalisierungslösungen sowohl in der Fertigungs-, als auch in der Prozessindustrie anbieten. Auch das Thema Nachhaltigkeit gewinnt an Relevanz und damit meine ich etwa die Erfassung des CO2-Fußabdrucks und dessen Optimierung auch mithilfe von Künstlicher Intelligenz. Edge-Computing schafft dafür auch hier neue Möglichkeiten. Und aus europäischer Sicht ist der Kampf gegen den Klimawandel keine Option, sondern ein jedenfalls anzustrebender Wettbewerbsvorteil durch die Verknüpfung von Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein und innovativer Technologie. Es werden die Innovationen aus Europa sein, die in erfolgreiche Geschäfte der ganzen Welt münden.

Ist jetzt die Zeit von Leitmotiven? Von großen Visionen, etwa einer neuen, vielleicht flexibleren Form des Produzierens?

Kienlein: Die Industrie braucht wieder mehr Planungssicherheit, wenn wir wieder zu einem „new normal“ zurückkehren wollen, das im Übrigen noch gar nicht so genau definiert ist. Und dann muss all jenes, das von Unternehmen in Pilotprojekten zur Digitalisierung aufgesetzt wurde, in die Skalierung kommen. Digitalisierung ist nach wie vor ein Umsetzungsthema. Das Credo: Einfach machen.

Die Pipeline an Technologien ist demnach gut gefüllt?

Kienlein: Wir haben in den vergangenen Jahren vieles aufgesetzt, das in Unternehmen heute noch nicht zur Gänze umgesetzt ist. Darauf sollten wir uns jetzt fokussieren und nicht von Trends von übermorgen reden.

Ist 5G ein solcher Trend für übermorgen?

Kienlein: Mit dem Release 16 des 3GPP-Standards wird das Thema in der Industrie Fahrt aufnehmen. Die Vorteile sind dort, wo es auf stabile Performance, niedrige Latenzzeiten oder hohen Datendurchsatz ankommt, sicher überzeugend, etwa beim zunehmenden Einsatz von AGVs.

Werden sich Maschinen in absehbarer Zeit selbst steuern?

Kienlein: Die Szenarien einer Koexistenz von Maschine und Mensch laufen darauf hinaus. Ebenso die zunehmend geforderte Flexibilität in der Fertigung für immer kleinere Losgrößen, wie sie bereits heute im Elektronikwerk Amberg von Siemens mit hunderten täglichen Variantenwechseln Realität ist.