Digitalisierung : Siemens automatisiert Spitz: Wenn Tortenecken einen digitalen Zwilling bekommen

S. Spitz Siemens Automatisierung Lebensmittelproduktion
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INDUSTRIEMAGAZIN 06 / 2019 am 29. Mai 2019

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Duftende Waffelplatten fahren auf einem Fließband, drehen in eine vier Meter hohe Schleife zur Decke, kühlen ab, und unten steht schon die nächste Maschine mit der Kakaomasse bereit. Eine Fabrikhalle in Attnang-Puchheim - der größte von inzwischen drei Standorten der Firma Spitz, die seit mehr als 160 Jahren Naschereien produziert, die jedes Kind in Österreich kennt. Auer Tortenecken, Blaschke Kokoskuppeln, Eistee oder Sirup zum Beispiel. Aber auch Säfte, Mayonnaise und Alkoholika.

In einer anderen Halle nebenan riecht es nicht nach Waffeln. Hier wurde vor paar Tagen das ganze Dach aufgerissen, um eine neue Pet-Kaltaseptikanlage reinzuheben. "Da passiert die Abfüllung künftig in Reinraumtechnologie. Das ist state of the art", sagt Firmenchef Walter Scherb junior.

Konzernchef mit 29

Es weht ein neuer Wind durch das Areal des ehrwürdigen Traditionsbetriebs. Der oberösterreichische Hersteller, rund 800 Mitarbeiter, 250 Millionen Euro Umsatz, ist einer der größten heimischen Lebensmittelproduzenten, zu dem auch Gasteiner Mineralwasser und inzwischen auch der Salzburger Honigabfüller Honigmayr gehören. Seit 1952 ist Spitz im Besitz der Familie Scherb. Als im Jänner der langjährige Geschäftsführer Josef Mayer in Pension geht, folgt ihm Walter Scherb nach. Der Junior: Studium an der London School of Economics, zuletzt tätig bei der Unternehmensberatung McKinsey, Investitionen in Start-ups. Als Scherb in dritter Generation die Führung der Firma übernimmt, ist er gerade einmal 29 Jahre alt.

Generationenwechsel ohne Probleme

Nun ist der Generationenwechsel in vielen Familienbetrieben alles andere als ein unproblematisches Thema. Wie ist das bei Spitz? "Bei uns lief das harmonisch ab. Ich arbeite schon seit vier Jahren im Unternehmen und konnte so herausfinden, ob es passt. Es gab also keine großen Überraschungen", sagt Scherb. Für die Belegschaft offenbar auch nicht: "Die Stimmung im Betrieb ist sehr positiv", sagt ein Mitarbeiter auf dem Shopfloor. "Wir sind alle sehr froh, dass der Geschäftsführer wieder aus der Eigentümerfamilie kommt. Er kann auch glaubhaft vermitteln, dass wir mit dem neuen Investitionsprogramm viel vorhaben. Und dass es Jobsicherheit gibt."

Digitalierung ohne Jobabbau

Umfassende Modernisierung ohne Kündigungen: Das ist eine Ansage, die selten geworden ist in der Industrie. Die in den nächsten Jahren geplanten Investitionen beziffert Scherb mit knapp 100 Millionen Euro. Begleitet werden diese von einer neuen Führungskultur, die Scherb gerade installiert und "transparente Feedback-Kultur" nennt. Ein Teil davon: Mitarbeiter füllen alle zwei Wochen einen kurzen Fragebogen aus, bewerten Vorgänge und Stimmung in ihrer Abteilung, was man besser machen könnte, und ob alles passt – anonym. Fachgruppen diskutieren Prozessabläufe. Danach können Abteilungsleiter dazu Stellung nehmen, wenn sie wollen – allerdings nicht mehr anonym. Das Ergebnis: Das Gefühl der Wertschätzung steigt, die Motivation ebenfalls – und die Geschäftsführung sieht immer sofort, wo man ansetzen kann, wenn es hakt.

Riesige Produktpalette

Viel zu tun gibt es auch mit der riesigen Produktpalette. Auf 30 Fertigungslinien fertigt Spitz jeden Tag 1,3 Millionen Produkte auf 2.000 Paletten, zwei Drittel davon als Hausmarken von Supermarktketten wie Billa, Hofer oder Spar. Produktwechsel sind bei kleinen Chargenzahlen häufig, die Bereitstellung der vielen verschiedenen Rohstoffe vom Zentrallager in die dezentrale Produktion komplex. Die Steuerung der Prozesse dahinter passierte vor gar nicht langer Zeit noch auf Papier – nun hat Spitz "einen einstelligen Millionenbetrag" in eine grundlegende Digitalisierung der Abläufe investiert. Dazu holten sich die Oberösterreicher einen anderen und übrigens nur um zehn Jahre älteren Traditionsbetrieb an Bord: Siemens. Der Industrieriese, der in Österreich sechs Werke betreibt, ist im Bereich Automatisierung eigentlich für Projekte bei großen Kraftwerken, in der Autoindustrie oder der Stahlindustrie bekannt – aber auch Aufträge aus der Nahrungsmittelindustrie sind für Siemens nichts Ungewöhnliches. "

Das Ziel: Digitaler Zwilling

"Bei Spitz war das Ziel, einen digitalen Zwilling zu schaffen – und zwar für die Produkte, die Anlagen und die Operationen dahinter", sagt Werner Schöfberger, Leiter für Prozessautomatisierung bei Siemens Österreich. Also haben die Verantwortlichen zunächst SAP eingeführt, und gleichzeitig setzte die gemeinsame Mannschaft von Spitz und Siemens auf ein Fertigungsmanagementsystem (MES) der Produktfamilie Simatic IT. "Diese Einführung betrifft alle Anlagen und Linien am Standort", so Walter Scherb.

Kokoskuppel per Knopfdruck

Nach zwei Jahren war die Arbeit getan. Jetzt steuert eine Software die Produktion und alle Fertigungssysteme, stimmt die Fertigungsprozesse auf die Lieferkette ab und dient als Verbindung zwischen der Betriebswirtschaft und den Prozessleitsystemen. "Die Produktwechsel pro Linie können nun praktisch per Knopfdruck erfolgen", so Andreas Schaumberger, Leiter der Automatisierungstechnik bei Spitz. Bald soll es in einem nächsten Schritt auch möglich sein, die Eigenschaft der Rohstoffe, beispielsweise beim Mehl, zu messen und die Rezepturen schon während der Verarbeitung anzupassen, um den immer gleichen, gewohnten Geschmack zu bekommen. Denn dieser ist letztlich viel wichtiger als alle Automatisierung – und den Kunden zu Hause soll nicht der digitale Zwilling schmecken, sondern die Tortenecke oder die Kokoskuppel.