Portrait : Mechanisch in die Zukunft

Eine Marke muss man sein – als er die Flucht nach vorne antritt, hat der Teppichproduzent Walter Aigner nicht mehr als diese Erkenntnis in der Hand. Man muss etwas darstellen. Unverwechselbar sein wie eine Junghans Uhr. Wiedererkennbar wie eine Jaguar-Silhouette. Oder universell wie Tampons der Marke o.b. Als Key-Account-Manager des Konsumgüterherstellers Johnson & Johnson hat er einmal dem Manager einer Supermarktkette gegenüber gesessen, der einen Preisnachlass für alle Johnson & Johnson-Produkte gefordert hat. „Wir können Ihren Wünschen nachkommen“, hat Aigner geantwortet. „Aber dann liefern wir ab morgen keine o.b.‘s mehr aus.“ An der Art, wie der Manager einknickte – schnell und ohne nachzufragen –, erkannte Aigner die Macht, die hinter einer Marke steckt. Das hat er bis heute nicht vergessen.

Vor 25 Jahren aber, als er Johnson & Johnson verlässt, um als Geschäftsführer in das väterliche Teppichunternehmen Tisca einzusteigen, stellt ihn die Erkenntnis vor ein veritables Dilemma. Von Marktmacht ist Tisca mit seinen Wollteppichen ähnlich weit entfernt wie Damenhygieneartikel von Luxusseife. Die Erzeugnisse aus den Werkshallen im Vorarlbergischen Thüringen bewegen sich im unteren, namenlosen Preissegment. Gerade ist auch noch mit Ikea der wichtigste Abnehmer abgesprungen und hat ein Viertel des Umsatzes mitgenommen. Es ist die Globalisierung, die das Tisca-Geschäftsmodell damals angreift und die Billigprodukte aus Österreich im Vergleich zur asiatischen Konkurrenz zu teuer gemacht hat.

Walter Aigner hat Betriebswirtschaft studiert und in großen Konzernen gearbeitet. Er weiß, dass er sich auf Dauer der Globalisierung nicht versperren kann. Er muss reagieren. Seine Flucht nach vorne ist ein Rückzug. Raus aus dem Wettbewerb mit der neuen Billigkonkurrenz aus Übersee. Rein in die Siebenbürgische Hügellandschaft im Westen Rumäniens – 1400 Kilometer ostwärts, nach Heltau, einem ehemaligen Zentrum der rumänischen Textilindustrie. Rein in eine Arbeitsweise, die nichts mit Hochtechnologie zu tun hat. Weg von der Stückzahl als wichtigstem Parameter hin zur Qualität.

Walter Aigner kann kein Rumänisch. Er ist nie in dem Land gewesen. Doch Österreich bietet keine Zukunft. „Der Neuanfang, das wusste ich, kann nur in einem Land mit niedrigen Kosten und hoher Textiltradition gelingen“, sagt der große, leger gekleidete Mann, der schnell zum Du-Wort übergeht. 1998 beginnt er, die Produktion nach Osten zu verlagern. „Schau her“, sagt er und zückt einen Stift. Er zeichnet zwei Kurven auf ein Blatt Papier. Die eine zieht erst nach oben, erreicht einen Plafond und stürzt dann ab, das ist der Tisca-Umsatz der vergangenen Jahrzehnte. Parallel verläuft eine Linie, die weit oben ansetzt, nach unten geht und am Ende wieder zu steigen beginnt. Das ist die Qualität. „Hier waren wir einmal“, sagt Aigner und zeigt auf die Stelle, wo die Linien am weitesten auseinander liegen – es sind die 1970er-Jahre. Mit umgerechnet zwölf Millionen Euro Umsatz erlebt das Teppichgeschäft, das sein Vater mit Schweizer Partnern aufgebaut hat, eine goldene Periode. Die Globalisierung? Fern. Der Absatz? Durch Möbelhäuser gesichert. Es sind Zeiten, in denen man seinen Mitbewerber noch kennt.

Doch als Aigner Mitte der 1990er-Jahre als Geschäftsführer den väterlichen Betrieb übernimmt, liegt der Umsatz im Keller. Der Junior leitet nun ein Unternehmen, das keine Zukunft hat.

Weitermachen und den Untergang einfach nur hinauszögern, dafür ist er zu jung. Zu kreativ. Zu ehrgeizig. Und er ist keiner, der sich duckt. Eher einer, der das Ruder herumreißt. Wie aber soll man mit den Wollteppichen auf dem globalen Markt bestehen? Aigner erinnert sich an die handwerklich hochwertigen Produkten aus den frühen Jahren von Tisca, wie sie sein Vater vor dem großen Boom gewoben hat, erinnert sich an die Zeit, als die Qualitätskurve über dem Umsatz lag. An die Teppichstrukturen, die unter dem Druck von Großabnehmern wie Ikea längst aus dem Portfolio verschwunden sind. Er erinnert sich an das Handwerk.

Wie das Schiffchen über den Teppich schießt und die Weberin jede Wollzeile kräftig an die anderen drückt. Ritsch. Ritsch. Wie sie vornübergebeugt die nächste Zeile Wolle zwischen den Kettfäden einzieht. Wie sich ihre konzentrierten Bewegungen dem monotonen Klacken des Webstuhls anpassen. Der wachsige Geruch der zu Bergen getürmten noch ungesponnenen Wollhaufen. „Das Handwerk ist etwas Emotionales“, sagt er, „etwas, das den Menschen berührt.“ Er beschließt darauf zu setzen, um sein Unternehmen wirtschaftlich zu sanieren. Um es zu retten.

Mit Erfolg: 60.000 Teppiche verlassen pro Jahr die Werkshallen der drei Tisca-Standorte in Siebenbürgen, die Hälfte des Umsatzes von sieben Millionen Euro setzt Tisca im Hochpreissegment ab. Bis heute brauchen die Webstühle in Heltau, Bogatu Roman und Ziegental keinen Starkstrom, um 26 verschiedene Strukturen in 98 Farben im Wollteppich zu erzeugen. Die Webstühle weben Teppiche mit Fingern, die wie Seeanemonen aus der Wolle ragen, oder unregelmäßige Knubbel, die eine textile Buckelpiste erzeugen, sie weben flache Oberflächen für den Platz unter dem Esszimmertisch. Aigners rund 150 Mitarbeiter produzieren für Möbelhäuser in Holland und Deutschland, für Abnehmer in ganz Europa und darüber hinaus. Nur mehr 20 Prozent des Umsatzes erwirtschaftet Tisca in Österreich. Ein Paradoxon vielleicht: Der Mann, der mit seinem Unternehmen der Globalisierung entkommen wollte, ist internationaler aufgestellt denn je.

Ist also alles eitel Wonne in Siebenbürgen? Das Wirtschaften ein Spaziergang über das idyllische Hügelland? Das eigene Unternehmen steht wieder auf soliden Beinen, ja, aber die Rahmenbedingungen im Land verschlechtern sich. Der Reformeifer Rumäniens – angetrieben vor allem durch den EU-Beitritt 2007 – ist erst Trägheit und mittlerweile einem offenen Aufstand der politischen Klasse gegen die Modernisierung gewichen. Das Hauptziel der aktuellen Regierung sei es überhaupt nur noch, die Straffreiheit für die Korrupten aus den eigenen Reihen sicherzustellen, sagt Aigner.

Im Dezember hat die rumänische Regierung eine Justizreform durch das Parlament gepeitscht, die die Gewaltenteilung untergräbt und den Justizapparat zum politischen Handlanger macht. Dazu kommt die Rechtsunsicherheit auch bei wirtschaftspolitischen Maßnahmen wie der kürzlich beschlossenen Steuerreform, die möglicherweise nicht vor dem Verfassungsgerichtshof besteht und damit einem jeden Unternehmer die Planbarkeit aus der Hand nimmt. Um das Volk ruhig zu halten, hat die Regierung den Mindestlohn immer wieder angehoben und damit den Druck auf die Arbeitgeber erhöht. Auch Aigner zahlt seinen Mitarbeitern jetzt mehr – ohne dass die Produktivität mit dem Tempo mithalten konnte. Seit sich in Siebenbürgen reihenweise westeuropäische Industriebetriebe aus der Automobil- und Elektronik-Branche, Riesen wie Continental und Bosch, angesiedelt haben und immer noch viele Rumänen emigrieren, lassen sich gute Mitarbeiter ohnehin schwer finden.

Für Aigner kommt ein Rückzug vom Rückzug trotzdem nicht infrage. Zu viele Hürden hat er in Rumänien schon genommen. Zu vielversprechend laufen Projekte wie das Nebenwerk in Ziegental, das ausschließlich Roma-Frauen beschäftigt, zu viel hat er mit seinem Unternehmen hier noch vor. Als nächstes will der Vorarlberger in Rumänien eine industrielle Wollwäscherei – es gibt keine mehr im Land – aufziehen, um einen Teil der derzeit verwendeten neuseeländischen Wolle durch den heimischen Rohstoff zu ersetzen. Vorerst ist der Unternehmer aber froh, einen neuen Webstuhl endlich in Betrieb genommen zu haben. Er hat ihn in einer Gruppe von Webstühlen 2012 von der Schwäbischen Alb gekauft. Auf das Sondermaß von sechs Metern erweitert, leistet er seit September seine Arbeit. Mechanisch, wie er es seit den 50er-Jahren tut. Nur jetzt in Rumänien.

Zum Unternehmen

Tisca Teppiche produziert Teppiche aus Schurwolle – seit 1999 ausschließlich in Rumänien. 60.000 Teppiche verlassen die drei Standorte jährlich, der Umsatz beträgt sieben Millionen Euro.

Zur Person

Walter Aigner studierte Betriebswirtschaft, bevor er das väterliche Unternehmen übernahm. Dieser hatte Tisca Teppiche in den 1960er- Jahren mit Schweizer Partnern aufgebaut. Der Familie Tischhauser aus Bühler gehören heute 75 Prozent an dem Unternehmen.