Logistik : "Flexibler, agiler – und teurer"

Herr Glass, stimmen Sie der These zu, dass die Supply-Chains angesichts wachsender Komplexität, kleinerer Lose und kürzerer Sequenzen immer verletzlicher werden?

Achim Glass Grundsätzlich ja. In der Automobilbranche erfolgt der sogenannte Entkoppelungspunkt immer später. Das heißt, die OEMs versuchen das Fahrzeug so spät wie irgendwie möglich zu customizen. Infolge dessen sehen wir als Logistiker einen immer stärkeren Trend hin zur besseren Bedarfsplanung. Einige OEMs haben sich zum Ziel gesetzt, Lieferzeiten von derzeit Wochen oder Monaten auf wenige Tage zu verkürzen. Das macht die Supply-Chains übrigens nicht nur anfälliger, es hebt auch deren Kosten.

Worin bestehen denn die Risiken?

Glass Es gibt mittlerweile eine unermesslich hohe Anzahl an Fahrzeugvariationen. Es existieren ja schon nahezu keine identischen Fahrzeuge mehr, und das wiederum verlangt eine immer komplexere variationsabhängige Einspeisung der zu verbauenden Artikel direkt in die Fahrzeugfertigung, was in der Fachsprache als "sequencing" bezeichnet wird. In der Produktion besteht das Risiko demnach in einem möglichen Bandstillstand. Im Aftermarket-Bereich wiederum ist es die Nichtverfügbarkeit von Artikeln, die ein Fahrzeug länger als notwendig in der Werkstatt stehen lässt. Das ist ärgerlich, verursacht bei den Herstellern allerdings nur verhältnismäßig wenig Kosten. Eine Drosselung der Produktion allerdings ist ein GAU.

Rückt die Resilience in den Fokus der Logistik?

Glass Ja, ohne allerdings das Thema Effizienz zu verdrängen. Es ist eher ein zweiter Workstream, parallel zum klassischen Supply-Chain-Management. Resilience ist derzeit ein extrem heißes Thema, wenngleich es manchmal ein wenig abstrakt erscheint. Die großen Speditionen beschäftigen sich bereits intensiv damit.

Sind starke Netzwerke eine Möglichkeit, die Resilience zu erhöhen?

Glass Netzwerke sind ohnehin die Basis, ohne die gar nichts läuft. Nur müssen die Netzwerke angesichts des Tempos der Veränderungen noch flexibler und agiler werden: neue Produkte, neue Lieferanten, neue Produktionsstätten in anderen Ländern etc. – das alles geschieht immer schneller. Bei diesem stetigen Wandel müssen sich die Netzwerke umgehend umstellen und anpassen – eine sehr große Herausforderung an die Logistik. Demnach gilt die Annahme, je stärker das Netzwerk, desto höher die Resilience.

Für die kleineren Spediteure ist das keine gute Nachricht.

Glass Ich persönlich bin der Meinung, dass das Thema Resilience sehr ressourcenintensiv ist. Im Gegenzug bekommt der Dienstleister aber nicht wirklich etwas von seinen Kunden zurück. Da stellt sich schon die berechtigte Frage, wie viel Fokus Unternehmen auf die Thematik legen. Und dann haben Konzerne dem Mittelstand gegenüber wahrscheinlich einen Vorteil.

Die Automobilbranche gilt als besonders gut vernetzt. Macht sie das auch resilienter?

Glass Absolut. Da jedoch die externen Risiken tendenziell zunehmen, siehe die jüngsten Überschwemmungen in Chennai, Indien, oder den Vulkanausbruch in Japan, wird die Automobilbranche wohl noch mehr Geld investieren müssen, um für den Fall der Fälle Notfallpläne parat zu haben.

Gerade im Automotive-Bereich sind die Beziehungen zwischen OEM und Dienstleistern ja nicht immer besonders partnerschaftlich. Das kann das Thema Resilience doch nicht fördern?

Glass Diesen Befund kann ich nur teilweise teilen. Eine Partnerschaft schließt ja auch nicht aus, dass man hart über Preise verhandelt. Die Pharmabranche ist der Automobilbranche da allerdings um einiges voraus. Das mag an den höheren Erträgen im Pharmabereich liegen, welche den Logistikkosten dadurch weniger Aufmerksamkeit zukommen lässt. Auch sprechen wir hier von geringeren Transportmengen, was wiederum nicht so große Skaleneffekte und somit Kostenreduktionen zulässt, wie im Automobilsegment. Im Gegenzug sind die temperaturkontrollierten Lieferketten mit großen Investitionen in beispielsweise Spezialfahrzeuge, Zertifizierungen oder Umschlagplätze erheblich. Wenn man in diesem Nischengeschäft zu sehr auf die Kosten drückt, kann man den sehr hohen Anforderungen an die Qualität nicht mehr gerecht werden. Im Automotivbereich dagegen bewegen wir uns im Massenmarkt und in einer Commodity. Wir beobachten den Trend, dass bei immer mehr Ausschreibungen von OEMs die Resilience verstärkt angesprochen wird und die ausgewiesene Kompetenz des Dienstleisters in dieser Thematik bei der Auftragsvergabe eine Rolle spielt.

Achim Glass ist seit 2015 Head of the Global Automotive Vertical der Kühne+Nagel AG in der Schweiz. Seit 18 Jahren für den Konzern tätig, war er in Hamburg, Santiago de Chile und Wien stationiert und verantwortete unter anderem die Entwicklung der Seefracht zwischen Deutschland und Südamerika, den Sales-Bereich in Chile, die weltweite Hotellogistik sowie Sales und Marketing für Osteuropa. Achim Glass studierte Wirtschaft an der Oxford Brookes University in Oxford und erwarb einen Executive MBA in Logistik an der Universität St. Gallen.