IM-Expertenpool: Supply Chain : Die Krise der Lieferketten hat gerade erst begonnen – und das ist eine gute Nachricht

Die Corona-Krise stellt Unternehmen und Gesellschaft vor zahlreiche offene Fragen. Jetzt zeigt sich, wie weit der digitale Fortschritt wirklich ist und rückt dessen Bedeutung weiter in den Vordergrund. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich Verantwortliche von Unternehmen aus Branchen wie Halbleiterproduktion und Elektronik noch in Sicherheit wiegen. Doch auch sie sind durch eine starke Abhängigkeit aus dem asiatischen Raum, gerade im Bereich der Lieferketten, stark betroffen und müssen sich zunehmend mehr Gedanken um eine strategische Neuausrichtung machen.

Die Wirtschaft läuft allmählich wieder an und Unternehmen versuchen sich so gut wie möglich zu positionieren, denn – der Lockdown ist nicht das Worst-Case-Szenario. Die eigentlichen Herausforderungen starten jetzt und Unternehmen müssen schnell handeln – allerdings gehören viele Meinungen über Geschäfts- und Lieferkettenstrategien der Vergangenheit an und müssen zunehmend mehr infrage gestellt werden.

Veraltete Annahmen zu Geschäftsstrategien

Eine produktorientierte Strategie wird nicht mehr funktionieren, da Kunden sich schneller umorientieren und nicht mehr willens sind, auf das beste Produkt zu warten. In bislang stabilen Märkten verschärft sich die Konkurrenz, da neue Wettbewerber eintreten. So werden heutzutage beispielsweise Beatmungsmaschinen, Desinfektionsmittel oder auch Masken von Unternehmen angeboten, die vorher mit der Branche nichts zu tun hatten, wie der deutsche Automobilzulieferer Zettl eindrucksvoll beweist. Dieser hat die Massenproduktion von Sitzbezügen auf die Herstellung von FFP2 sowie FFP3 Schutzmasken vorübergehend umgestellt.

Digitale Roadmaps sind wertlos, wenn sie nicht bereits im operativen Geschäft angekommen sind. Oft wurden Datenproblematiken, Konnektivität und operative Resilienz nicht ausreichend adressiert, um dem Mitarbeiter spürbaren Nutzen zu bringen. Hier hat die Krise gezeigt, dass digitale Technologien funktionieren und sich in Zukunft als wichtiger Baustein für innovative Geschäftsprozesse etablieren werden. Davon überzeugt ist auch der Digitalverband Bitkom und veröffentlichte kürzlich ein Positionspapier zum Thema: „Digitale Arbeitswelt nach der Corona-Krise“.

Die Annahme, der Wettbewerb finde zwischen Lieferketten statt, muss aufgegeben werden. Weil für viele Wettbewerber sowohl entscheidende Lieferanten als auch wichtige Kunden gleich sind, verschärfen Lieferanten mit niedrigen Margen und Liquiditätspuffern das Risiko für mehrere Marktteilnehmer gleichzeitig. Ebenso stellt der steigende Druck auf Kunden bzw. Einzelhändler ein weit verbreitetes Risiko dar.

Stabiler Markt existiert derzeit nicht

Fremdkapitalaufnahme wirkte sich zwar bisher positiv auf die Leistungskennzahl aus, benötigt aber einen stabilen Markt zur Bedienung der Kredite, der so zurzeit nicht mehr existiert. Dies beeinträchtigt auch die bewährten Unterstützungsmaßnahmen der Wirtschaft mit Staatskrediten und Subventionen. Kredite und Subventionen der Regierungen helfen zwar kurzfristig, müssen aber dennoch zurückgezahlt werden – das geht nur mit einem funktionierenden Geschäft.

Wenn der Druck auf die Lieferketten der Unternehmen zunimmt, ist zu befürchten, dass irrationale Maßnahmen ergriffen werden. Sobald einzelne Unternehmen unter der Krise zusammenbrechen, könnten wegen des Vertrauensverlusts in die Lieferketten-Partner bzw. des Risikos für den Cashflow die Geschäftsbeziehungen zu einem völligen Stillstand kommen. Ein ähnliches Phänomen, wie zu Zeiten der großen Rezession 2007-2008, als nur mit außergewöhnlichen Maßnahmen das Vertrauen der Marktteilnehmer untereinander wiederhergestellt werden konnte.

Veraltete Annahmen zu Lieferkettenstrategien

Just-in-Time ist mit seinen minimalen Beständen und dem niedrigen Kapitaleinsatz eine ideale Strategie für ruhige Zeiten, baut aber auf stabilen Prozessen in Lieferung, Produktion und Absatz auf und kann plötzlich gestiegene Unsicherheiten nicht abfedern. Damit wird sie sich verändern müssen. Unternehmen stehen vor dem Problem nicht zu wissen, welche Materialien sie in welchem Umfang wo lagern sollen, da sich sämtliche Planungsparameter durch die Krise verschieben.

Initiativen, China zu verlassen, erweisen sich als fraglich. Einerseits kann das System nicht komplett entkoppelt werden, weil die Strukturen zwischen Hersteller, Anbieter und Lieferanten in einem integrierten Ökosystem zu komplex und verwoben sind. Andererseits spricht Thierry Breton, Kommissar der EU für Industrie und Binnenmarkt, davon, dass sich die EU zu sehr auf andere Länder wie China und USA verlässt und die Krise ein guter Zeitpunkt sei, die Position von Europa neu zu überdenken. Die Möglichkeit, die eigene Produktion zu verlagern, mag durch staatliche Förderung umsetzbar sein, die Verlagerung der Lieferanten und Sub-Lieferanten ist es deswegen jedoch noch nicht. Und bisher scheiterte die Diversifizierung der Lieferantenbasis nicht nur am Druck des Kapitalmarktes, Kostenstrukturen durch Single-Source-Beziehungen zu reduzieren, sondern auch an der mangelnden Konsistenz der von Lieferanten erzielbaren Qualität.

Die Nachwirkungen des Lockdowns

Die Nachwirkungen des Lockdowns werden sich Schritt für Schritt einstellen. Klar ist heute schon, dass sich Cashflow und Mindestreserven von Banken verschlechtern werden, nicht nur wegen der hohen Kreditlast auf Unternehmen, sondern auch weil Bürger ihre Kredite für Autos, Haus und Kreditkarten nicht mehr bedienen können. In den USA zeichnet sich eine schnell wachsende Arbeitslosigkeit ab und die Jobaussichten, gerade für Berufseinsteiger, verschlechtern sich im europäischen Raum stark. Das belegt eine Studie des Beratungsunternehmens McKinsey, in der die Berater deutlich machen, dass bis zu 59 Millionen Arbeitsplätze in der EU und Großbritannien durch die Krise gefährdet sind.

Durch den Lockdown fand in der Vergangenheit kaum Konsum statt und infolgedessen ein Nachfragerückgang der Endkunden, was sich auf die Lieferketten auswirkt. Die Standorte von Produktion und Lagerhäusern sind noch vor Investitionsanreizen durch die Kostenoptimierung von Standort und Materialfluss bestimmt. Eine plötzliche Verschiebung von Kundennachfrage und Lieferantenbasis führt in der Regel zu höheren Kosten und wird nach Lieferketten-Anpassungen verlangen. Gerade in Bezug auf Lieferanten und Kunden wird sich in der Zukunft der sogenannte Bullwhip-Effekt wieder verstärken. Doch noch ist Zeit, sich auf diese Fluktuationen vorzubereiten.

Noch haben viele Unternehmen die Situation unter Kontrolle

Die Nachfrage wird dabei stark von der wirtschaftlichen Erholung abhängen: Ob sie den Verlauf einer V-Kurve, eines U, eines W (bei einer zweiten Infektionswelle) oder im Worst-Case eine L-Form (bei einer langanhaltenden Stagnation) annimmt. Aktuellen Prognosen zufolge wird beim BIP in Deutschland bis zum Jahresende bei einem Minus von 6,5 Prozent erwartet, für 2021 wird dann ein Anstieg von 4,9 Prozent prognostiziert. Es bleibt jedoch abzuwarten, welchen langfristigen Verlauf die Wirtschaft tatsächlich einschlagen wird. Um sich auf diese Situation vorzubereiten, minimieren Unternehmen kurzfristig Ausgaben, indem alle Initiativen und Projekte – außer den absolut wichtigsten – eingefroren oder abgebrochen werden. Dies wirkt sich auch auf Digitalisierungsprojekte aus. Es wirkt sich aber auch auf die Anbieter aus, wodurch nicht-produzierende Branchen beeinträchtigt werden.

Die weiteren Schäden werden ersichtlich, wenn die Wirtschaft langsam weiter anläuft. Noch haben viele Unternehmen die Situation unter Kontrolle. Für einige hat sich nichts verändert, die Nachfrage ist ungebrochen und die Produktion läuft. Doch eine Umfrage des BME (Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik) zeigt, dass die Wahrnehmung zur Krise sich verändert: Sie wird mit der Zeit als gravierender empfunden.

Es zeigt sich bereits, dass es zu zweiten Erkrankungswellen kommen kann, wenn der Lockdown zu früh aufgehoben wird - dann stellt sich die Frage, ob Unternehmen einen weiteren Lockdown aushalten können. Und eine unkoordinierte Öffnung von Ländern, d.h. Märkten, kann leicht zu einem Ungleichgewicht zwischen Nachfrage- und Angebotskapazitäten führen. Zum Beispiel dann, wenn die Nachfrage nach der Lockerung steigt, sich die Unternehmen und Lieferanten aber noch nicht wieder erfolgreich positioniert haben.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich Absatzkanäle für Konsumgüter zugunsten der Online-Retailer verschieben. Als großer Gewinner in und nach der Krise werden Digitalkonzerne wie Amazon (und vor allem dieser) gesehen. Erhöhte Umsätze und steigende Mitarbeiterzahlen lassen den Onlinehändler gut dastehen. Doch durch zahlreiche Lieferengpässe und schlechte Hygienestandards in den Lagern steht das Unternehmen nach dem Lockdown in der Kritik. Auch hier wird sich in den kommenden Monaten und Jahren zeigen, welche Nachwirkungen die Krise sowie nachhaltige Veränderungen in den Lieferketten auf den Konzern hat.

Die Lockerungen gut überstehen

Die Herausforderungen liegen jetzt darin, die Phasen der Lockerung gut zu überstehen. Die Krise trifft zwar alle Volkswirtschaften, aber nicht alle Unternehmen werden unter schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen leiden. Jene, die die Verhältnisse besser überstehen wollen, folgen mehreren Ansätzen:

Kurzfristig halten sie den Cashflow aufrecht, reduzieren Ausgaben und fokussieren sich auf operative Ausgaben.

Mittelfristig vergrößern sie ihre Margen, indem sie Kosten reduzieren und nicht auf Angebote mit größtem Umsatz setzen, sondern auf jene, die die höchsten Gewinne erwirtschaften. Dazu gehört auch die Entscheidung, auf welche Kunden man sich konzentriert.

Langfristig erhöhen sie den Umsatz, indem sie ihren Marktanteil auch in einem schwierigen Markt vergrößern, auch wenn der Markt selbst nicht wächst. Das ist nur durch Wettbewerbsvorteile wie Verfügbarkeit und niedrigere Kosten möglich.

Das Hauptaugenmerk von produzierenden Unternehmen sollte dazu auf der Lieferkette liegen. Vorausschauend hätten Unternehmen das Versorgungsrisiko reduziert, indem sie Waren und Güter einkaufen, solange günstige Verfügbarkeit gegeben war. Hingegen ist es jetzt wichtig, umgehend initiativ zu werden und die weiteren Entscheidungen auf Basis detaillierter Analysen und Szenarien einwandfreier Daten zu treffen.

Als Experte im Bereich Supply Chain Management gibt mSE Solutions hier drei Aspekte vor, durch die Unternehmen mit der Bewältigung der Krise und einer Neuausrichtung der Geschäfte beginnen können, um Cash Flow zu minimieren, Working Capital niedrig zu halten, und in der Lage zu sein, Umsatz zu stabilisieren sowie Margen zu maximieren:

Eine weitreichende Visibilität in die Lieferkette mit schnellerer Szenarie-Planung: Das Supply-Chain-Team sollte seine originäre Aufgabe im Betrieb erfüllen und nicht zur Datenanalyse herangezogen werden, also auf die Ankunft von Gütern, das Verständnis der Supplier und die Organisation möglicher Wechsel eingehen. Dabei müssen Änderungen der Planungsparameter berücksichtigt werden.

Eine gestraffte Verkaufs- und Betriebsplanung auf Basis zeitnaher Analysen: Eine Frequenzerhöhung monatlicher S&OP-Meetings zum Wochenrhythmus ist nur sinnvoll, wenn die Datengrundlage gegeben ist. Zum Beispiel werden in S&OP-Prozessen Vorhersagen, Reviews und Planung in verschiedenen Teams durchgeführt. Verkürzt man diesen in manchen Firmen mehrere Wochen dauernden Prozess auf Tage, fehlen wichtige Teile im Entscheidungsprozess. Wichtiger ist, den Fokus auf das Erhalten einer validen Datenbasis zu legen. Auf dieser Basis können schnellere Entscheidungen getroffen werden.

Digitale Dienstleistung statt Transformation: Die digitale Transformation muss aus einer operativen Perspektive erfolgen, angestoßen werden und Antworten auf konkrete Fragen geben. Hier ist es hilfreich, einen externen Dienstleistungspartner zu beauftragen, der die Daten schnell konsolidieren und analysieren kann, sodass das eigene Planungs-Team der Lieferkette sich auf die Entscheidung und Umsetzung konzentrieren kann. Diese unmittelbare Orientierung am Nutzen für die Mitarbeiter ermöglicht eine Vorschau darauf, was möglich ist, wenn die Lieferketten nach der Krise tatsächlich digital transformiert werden.

Hier braucht es einen echten abteilungsübergreifenden Ansatz mit einer durchgängigen Sicht über das eigene Geschäft hinaus, der Kunden und Lieferanten einbezieht.

Das Verkaufs- und Produktionsteam muss an einem Tisch zusammenkommen, mit der Planung muss auf Anbieterseite begonnen werden: Was ist sinnvoll? Kann das Unternehmen mit einer steigenden Nachfrage umgehen? Was passiert im Fall eines Einbruchs der Nachfrage: Wenn ein Kunde nicht zahlen kann, soll die Produktion gestoppt werden und Rohmaterialien an anderer Stelle eingesetzt werden? Oder würde der Produktionsstopp wertvolle Maschinenkapazität ungenutzt lassen und ohnehin das Fertigprodukt andere Kundenaufträge bedienen können? Oder resultiert daraus ein Cashflow-Problem, da es sich um einen Großkunden handelte?

Fazit

Jede Volkswirtschaft wird von der Corona-Krise getroffen, aber nicht jedes Unternehmen wird leiden. Gewinner der Krise wird sein, wer durch bessere Szenarioanalysen der Lieferkette agiler wird und dadurch seinen Wettbewerbsvorteil ausbaut. Wichtig ist es deswegen, jetzt initiativ zu werden und auf Basis detaillierter Analysen gut informierte Entscheidungen zu treffen. Die beste Zeit, um sich auf eine Krise vorzubereiten, ist vor ihrem Eintreten. Aber es ist noch nicht zu spät, wenn Unternehmen jetzt schnell aktiv werden.

Andreas M. Radke ist Executive Consultant im Beratungsunternehmen msE Solutions. Zuvor arbeitete er in Führungs- und Beratungspositionen in Startups, agilen KMUs und soliden 150-jährigen Unternehmen in diversen Industrien.