Interview: Clemens Wasner : „Die EU ist kein Wettbewerber im KI-Bereich“

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Zehn Jahre lang hat Clemens Wasner als Unternehmensberater in Asien gearbeitet, wo er den rasanten technologischen Fortschritt in der Automobilindustrie mitverfolgt hat. 2016 ist er nach Österreich zurückgekehrt und hat das KI-Start-up EnliteAI gegründet, mit dem er vor Kurzem den Staatspreis Innovation gewonnen hat. Er ist Gründer von AI Austria, einem unabhängigen Think-Tank zur Förderung von KI, und als Vorstandsmitglied der ADRA ist er für die Vergabe von rund 2,6 Milliarden Euro für europäische KI-Forschungsprojekte zuständig.

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ChatGPT hat einen regelrechten Hype um KI ausgelöst. Wie haben Sie diesen plötzlichen Siegeszug der KI erlebt, haben Sie damit gerechnet und welche Auswirkungen hat das auf die Industrie?

Clemens Wasner: Nein, überhaupt nicht. Bis vor Kurzem gab es keine großen Entwicklungen im Bereich der Umsetzung von KI-Projekten. Wir hatten einen eingeschwungenen Zustand erreicht, in dem ein Projekt fast immer mit einer mindestens sechsstelligen Investitionssumme verbunden war, egal ob es um Demand Forecasting, Logistikoptimierung, Qualitätskontrolle oder Predictive Maintenance ging. Mit Generative-KI und Large Language Models hat die KI innerhalb weniger Monate den Durchbruch im Consumer-Bereich geschafft – und das in einer bisher nicht gekannten Geschwindigkeit. Diese Entwicklung wirkt sich auch auf die Industrie aus, da sich mit diesen Technologien vielfältige Anwendungsmöglichkeiten ergeben und Kosteneinsparungen realisiert werden können. Man kann sogar sagen, dass wir in das Zeitalter der KI für Verbraucher eingetreten sind.

Der Mittelstand wird von KI überproportional profitieren.

Österreich ist ein Land des Mittelstands. Welche Chancen sehen Sie für den industriellen Mittelstand, von KI zu profitieren?

Wasner: In Österreich ist die Situation für KMU schwierig, weil es hierzulande keine wirklichen Vorbilder mit Leuchtkraft für die Branche gibt. Wenn ich mir die größten österreichischen Unternehmen anschaue, dann sehe ich, dass selbst bei denen noch keine relevanten Umsätze aus diesem Bereich kommen. Die positivste Entwicklung für KMU ist aber sicher der Kostenverfall, jetzt kann sich wirklich jedes Unternehmen Predictive Maintenance, bessere CRMTools, Konfiguratoren oder Administrationstools leisten. Darüber hinaus ergeben sich durch die großen Sprachmodelle und ihre Fähigkeiten, Programme zu schreiben, große Chancen genau an den Schmerzpunkten der kleinen Unternehmen, wo es immer einen Mangel an Entwicklern gab. Das kann man jetzt mit den Sprachmodellen sehr gut kompensieren. Der Mittelstand wird davon überproportional profitieren.

Anlite AI in Kooperation mit der Johannes Kepler Universität Linz (JKU) erhielt mit dem Projekt den VERENA-Preis. Wie lenkt man Strom intelligent, um Blackouts zu verhindern? Beim Stromnetz 4.0 eruiert das eine KI.

Sie haben mit Enlite AI den Staatspreis Innovation für das Projekt Powergrid 4.0 gewonnen. Dabei wird die Lieferkette von Stromnetzbetreibern durch KI optimiert. Welche Vorteile bringt der Einsatz von KI?

Wasner:
Ich finde, das ist eigentlich der perfekte Showcase für KI, weil wir damit sehr große Effekte erzielen konnten. Dabei werden lernende Algorithmen eingesetzt, um die optimalen Schaltzustände für das gesamte Stromnetz zu ermitteln, um Blackouts zu vermeiden und die Kosten und CO2Emissionen für kurzfristige Kapazitätsmaßnahmen durch intelligentes Flussmanagement zu reduzieren.

Das System nimmt dem Menschen aber nicht die Entscheidungen ab, sondern gibt nur Empfehlungen ...


Wasner:
Das ist richtig, das ist ganz wichtig zu betonen. In der Logistik kann ich mir schon vorstellen, dass man die Entscheidungen der KI überlässt, da gibt es schon schöne Beispiele wie Amazon, wo das bereits im Einsatz ist. Aber in der Energiewirtschaft ist das unvorstellbar.

Diese Dynamik geht verloren, wenn wir wieder in alte Denkmuster wie in den 90er-Jahren zurückfallen.

Sie veröffentlichen regelmäßig eine Übersichtskarte mit allen österreichischen KI-Start-ups. Gibt es neue Hidden Champions, die der Öffentlichkeit noch nicht bekannt sind?

Wasner: Das derzeit mit Abstand spannendste Pre-Seed-Start-up ist sicher ein Projekt aus dem Umfeld von Sepp Hochreiter, das sich mit Symbolic AI beschäftigt. Es schlägt eine Brücke zwischen regelbasierten Modellen und Sprachmodellen, wie wir sie von Open AI kennen. Es ist so etwas wie ein Reality-Check, den man dem System mitgeben kann. Es gibt ja unzählige Beispiele, wo ChatGPT etwas gefragt wird und wirklich absurde Ergebnisse herauskommen. Und mit Symbolic AI kann ich diese unsinnigen Ausreißer stoppen. Ich kann das System nicht mehr durch Prompt Engineering in die Ecke treiben, und das Spannende an dem Projekt ist, dass es Open Source ist. Und Magic.dev ist ein anderes Beispiel. Das Start-up wurde von zwei Absolventen des hochbegabten Track der HTL Spengergasse gegründet und nutzt künstliche Intelligenz, um Softwareentwickler beim Programmieren zu unterstützen.

Sie haben Open Source erwähnt: Mit Open AI gibt es jetzt einen KI-Platzhirsch, der zu 49 Prozent Microsoft gehört. Sollte so eine Technologie nicht offen sein?

Wasner: Dass wir heute überhaupt über KI sprechen, hat mit Open Source zu tun. Dadurch konnten Methoden und Algorithmen in den letzten Jahren von Forschern und Entwicklern weltweit verbessert werden und es gab immer einen regen Austausch. Diese Dynamik geht verloren, wenn wir wieder in alte Denkmuster wie in den 90er-Jahren zurückfallen, als einige wenige Konzerne das Tempo des technologischen Fortschritts bestimmten. Trotzdem muss man sagen, dass es heute auch Closed-Source-Ansätze gibt, das liegt in der Natur der Sache und ist auch völlig legitim. Wenn das eigene Wohl davon abhängt, kann man nicht alles Open Source machen – die Entwicklungskosten sind einfach zu hoch.

2,6 Milliarden sind in diesem Bereich so gut wie nichts.

Ein globales Wettrennen um die KI ist entbrannt. Wie wettbewerbsfähig ist Europa im Vergleich zu den USA und Asien?

Wasner: Die EU ist kein Wettbewerber im KI-Bereich.

Und das sagt ein Vorstandsmitglied von ADRA, das für die Verteilung der EU-Gelder zuständig ist?

Wasner: 2,6 Milliarden sind in diesem Bereich so gut wie nichts. Das habe ich auch der EU-Kommission gesagt, und damit vertrete ich auch eine Mehrheitsmeinung. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass ADRA für mich der Beweis dafür ist, dass die Kommission KI nicht ernst nimmt, denn KI, Big Data und Robotik müssen sich den ohnehin zu geringen Betrag noch einmal teilen. Auch hier stehe ich mit meiner Meinung nicht alleine da, der AIDA-Ausschuss des Europaparlaments unter Vorsitz von Axel Voss kam im Juni letzten Jahres zu einem sehr ähnlichen Schluss – wenn man KI ernst nehmen will, braucht es eine viel höhere Finanzierung und eine eigene Public Partnership (wie es ADRA ist) speziell für KI. Leider muss man sagen, dass wir derzeit das Gegenteil erleben, denn Europa hat sich in den letzten zehn Jahren aus dem digitalen Bereich verabschiedet – es findet keine Wertschöpfung statt.

Sie sagen, die KI-Strategie in Österreich sei auf dem Niveau von Uganda. Wie prekär ist die Situation?

Wasner: Zu diesem Schluss kommt das renommierte Brookings Institut aus den USA, das die KI-Aktivitäten von Nationen anhand mehrerer Kriterien vergleicht. Das ist ein Riesenproblem. Österreich ist ein Ausreißer innerhalb der EU. Aber die ganze Diskussion um Staatssekretär Tursky ist verfehlt. Sie zeigt aber auch die Qualität des Diskurses, finde ich. Wenn wir über Grundlagenforschung reden, dann reden wir über das Forschungs- und Wissenschaftsministerium. Dort ist die KI-Forschung beim Forschungs- und Wissenschaftsfonds angesiedelt und dort wurde das Budget vor Kurzem sogar gekürzt. Im EU-Kontext versteht das auch niemand, weder die Europäische Kommission noch andere Forschungscluster in den europäischen Staaten. Niemand versteht, warum die Situation bei uns so prekär ist. Es gibt bei uns keine Definition von Spitzenforschung außerhalb der etablierten Wissenschaften, wie man sie aus der Schule kennt – im digitalen Bereich definitiv nicht. Folglich haben die Forscher keine Hausmacht und niemanden, an den sie sich wenden können. Den Stellenwert von KI-Forschung in Österreich sieht man ja daran, dass bei der Vergabe von Fördermitteln der Cluster-of-Excellence-Wissenschaftsförderung KI nicht berücksichtigt wurde. Das ist so, als würde sich die Klimaministerin nicht um Elektromobilität kümmern. Das ist absurd.