Industrie 4.0 : Das muss eine moderne Fabrik können

Ihre Feuerprobe hat die Modellfabrik der Sachsen schon hinter sich: Bei der feierlichen Eröffnung am 15. Mai fiel den Gästen der „E3-Forschungsfabrik“ gleich auch die erste vollständig in der Karosseriebauanlage gefertigte Fahrertür des Volkswagen-Kompaktmodells Golf in die Hände. Matthias Putz hat nichts anders erwartet.

Die hier errichtetete Gesamtanlage entspricht dem Stand der Technik im Karosseriebau. „Und zwar dem höchsten“, vergisst der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik nicht zu betonen. Und trotzdem wird es beim perfekt eingespielten Fertigungsablauf, der gemeinsam mit den Projektpartnern Volkswagen, KUKA und Phoenix Contact ausgetüftelt wurde, nicht bleiben – zumindest vorerst nicht. „Wir nehmen jetzt in unserer Fabrik Schritt für Schritt einzelne Anlagen aus dem Betrieb“, erzählt der Institutsleiter.

Mit blinder Zerstörungswut hat das nichts zu tun. Ziel der Chemnitzer Modellfabrik ist ja, bis 2018 die Fertigungseffizienz hinaufzuschrauben. Die gesamte Anlage soll dann, nach unzähligen Einzeloptimierungen, in der Lage sein, sich selber flexibel auf neue Fertigungslose einzustellen. Geld dafür ist genug vorhanden. Auf 20,2 Millionen Euro beläuft sich die Gesamtinvestition in die Forschungsfabrik – Dimensionen, die nicht jedes Forschungsinstitut erreicht.

Produktivitätssteigerung von 30 Prozent

Ein allzu elitärer Zirkel, der sich da in Deutschland herausgebildet hat, mag sich da hierzulande einer denken und neidvolle Blicke gen Westen werfen. Und doch liegt man mit dieser Einschätzung völlig falsch: Als Minderheitenprogramm für Konzernriesen war die Auseinandersetzung mit der Produktion von morgen nie geplant.

„Die Fabrik der Zukunft geht uns alle an“, betont ein Produktionsprofi. Jeder darf sich in den nächsten Jahren auf schöne Produktivitätssteigerungen freuen – ganz gleich, ob KMU oder Konzern. Eine Studie stellt so etwa eine kumulierte Produktivitätssteigerung durch die Vernetzung der Produktion bis 2025 von 30 Prozent in Aussicht. Das mag übertrieben sein – wie die Meldung eines deutschen Verbands, es würden für den Begriff Industrie 4.0 mittlerweile 134 unterschiedliche Definitionen kursieren. Doch größere Flexibilität und mehr Ressourceneffizienz fallen für die produzierende Industrie in der smarten Fabrik allemal ab.

„Dort kommunizieren dann Menschen, Maschinen und Ressourcen unmittelbar miteinander“, heißt es beim Elektronikkonzern Siemens. Einen deutlichen Trend zur Individualisierung der Produkte „bis hin zur Losgröße 1“ beobachtet Rainer Ostermann, Country Manager bei Festo Österreich. Komponenten, die sich auf intelligente Art selbständig vernetzen, konfigurieren und somit Plug-&-Produce-fähig sind“, seien auf dem Vormarsch, sagt Ostermann. Der Materialeinsatz könnte sich tatsächlich „bis um die Hälfte reduzieren“, glaubt Christoph Höinghaus, CEO von Trivadis.

Das Beratungsunternehmen baut heuer seinen Bereich Intelligente Produktion aus – sicher kein Zufall. Andreas Fill, Chef des Innviertler Sondermaschinenbauers Fill, muss nicht lange überlegen: Er hofft auf schöne Produktivitätssteigerungen durch die virtuelle Inbetriebnahme, die 2020 wohl endlich voll in der Praxis etabliert ist. Franz Massak, Werkleiter bei Banner Kunststoff, kann es dagegen kaum erwarten, endlich intuitiver bedienbare Maschinen und Entnahmeroboter in seiner Linzer Fertigung begrüßen zu dürfen. Die Vorzeichen, nicht enttäuscht zu werden, stehen gut. Von der Planungsabteilung bis zur After-Sales-Truppe: jeder zählt in der Produktion von morgen zu den Gewinnern.

Siegeszug 3D-Modell

Nicht zum ersten Mal ging er unter die Blogger. Und wie es sich für einen anständigen Vertreter dieser Spezies gehört, gab er wieder etwas von sich preis: „Seit Jahren bin ich frustriert von der Wirklichkeit des 3D-Drucks“, notierte Autodesk-CEO Carl Bass in seinem Internet-Journal vor ein paar Monaten. Freilich war die Indiskretion gewollt: Zum selben Zeitpunkt kündigte der Hersteller von Konstruktionssoftware nämlich an, nun einen 3D-Drucker auf den Markt zu werfen – eine Entscheidung, die sich der Konzernriese, beim Thema 3D-Druck bisher auffällig unauffällig unterwegs, offenbar abringen musste.

Aber der Trend scheint unaufhaltbar: Mittlerweile gibt es mehrere Druckeranbieter und professionelle Büros für 3D-Druck wachsen auch in Österreich aus dem Boden. Anfangs als bloßes Bastler-Pläsier verspottet, wird der 3D-Druck wohl 2020 voll in der Industrie angekommen sein. Einer Erhebung des Studiengangs Industrial Management – Industriewirtschaft der FH Joanneum zufolge ist es trotzdem ein noch holpriger Pfad: Bei Österreichs KMU gebe es hinsichtlich digitaler Produktion noch großes brachliegendes Potenzial. Für fast 40 Prozent der Umfrageteilnehmer sei dies ein Thema, mit dem man sich lediglich „beschäftigt“. Überzeugungstäter sind das keine.

Obwohl es heute schon ansprechende Lösungen gibt: Mit dem Tool Engineering Center One ermöglicht der Software-Spezialist EPLAN schon heute die automatisierte Erstellung von Elektro- oder Fluidplänen auf Basis standardisierter Makros oder Artikel. Auf den Schaltschrankbau ausgeweitet, lassen sich ab dem Herbst nun auch Montageplattenlayouts automatisch generieren.

Die Chancen der Digitalisierung liegen freilich auch beim 3D-Druck. Und ausgerechnet dort, wo ihm manche vielleicht gar keinen so schnellen Durchbruch zugetraut hätten: Im Prototypenbau werden die schlauen Drucker nämlich möglicherweise gar nicht reüssieren. Ein Projekt bei BMW lässt eine andere Zukunft erahnen. Der Münchener Autobauer fertigt schon heute für Monteure flexible Montagehilfen – allesamt Unikate –, die individuell auf die jeweilige Handform und Größe angepasst sind. Diese Hilfsmittel, die die Daumengelenke vor übermäßiger Belastung schützen und fachsprachlich Orthesen heißen, fertigt der Autobauer schon heute mit einem Lasersinterverfahren.

Teileinspektion? Das macht bald ausschließlich die Maschine. Zumindest könnte so die nahe Zukunft aussehen. Nicht nur die zerspanenden Maschinen, auch Spritzgieß- und andere Produktionsmaschinen sollen künftig eine Fernwartung spendiert bekommen – die Devise: minimales menschliches Zutun. Erst die Hälfte mittelständischer Unternehmen verfügt einer Produktionsumfrage zufolge allerdings über einen Anlagenpark, der sich intelligent nennen darf – bis 2020, wenn die virtuelle Inspektion das Qualitätsmanagement revolutionieren wird, ist es also noch ein relativ langer Weg.

Immerhin: Immer mehr Unternehmen lösen sich aus ihrer Passivität, manche sogar inspizieren schon heute so, wie man es sich für 2020 wünscht: Zum Beispiel per Gestensteuerung wie im BMW-Werk Landshut. Dort unterziehen die Deutschen Stoßfänger nach dem Durchlaufen der Lackierstraßen einer Qualitätskontrolle. Kameras registrieren schon heute die Gesten der Mitarbeiter. „Eine Wischgeste über das Bauteil markiert den Stoßfänger als qualitativ einwandfrei“, heißt es beim Autobauer.

Ein Fingerzeig auf eine fehlerhafte Stelle bedeutet zurück zum Start. Genau diese Form der Interaktion ist, wonach der Industrie gelüstet: „Der Dialog zwischen Mensch und Maschine muss künftig noch effizienter laufen“, meint ein Produktionsprofi.

Roboterfarmen

Nach Hühnern und Windrädern bekommen 2020 auch Roboter ihre Farm. Zumindest stellen sich Forscher des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation die Zukunft der Produktion so vor. „Robot Farming“ würde angesichts zunehmender Modellvarianten und steigender Produktkomplexität 2020 „für Abhilfe sorgen“. Die Aufgabe des (natürlich Leichtbau-) Roboters im Jahr 2020? Er ist ein vollends skalierbare Produktionsarbeiter. Der Roboterbauer ABB stellt etwa „selbstdiagnosefähige und interagierende Automatisierungskomponenten“ in Aussicht – und weiß um die Wichtigkeit einer herstellerübergreifenden Einigung auf standardisierte Schnittstellen.

„Es mag futuristisch anmuten, dass zukünftig Maschinen miteinander reden können, um Informationen über Betriebszustände oder aktuelle Auslastungen auszutauschen“, konzediert Jürgen Prokop, Geschäftsführer Trumpf Werkzeugmaschinen. Das sollte „uns aber nicht davon abhalten, anspruchsvolle Zielmarken zu setzen“, meint er.

Was Experten darunter verstehen? Mitarbeiter werden sich künftig mit ihren Mobilgeräten gleich um eine ganze Vielzahl Roboter kümmern. Da trifft es sich gut, dass Forscher am Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung zurzeit eine Studie durchführen, die der Frage nachgeht, wann eine Berührung durch einen Roboterarm eigentlich in einer menschlichen Verletzung resultiert. Wen die fortschreitende Automatisierung – von menschenleeren Produktionsstraßen unkt freilich keiner – erschreckt: Das ist noch gar nichts. Selbst Nischenprodukte in kleiner Losgröße werden Betriebe künftig schnell und einfach fertigen können.

Die EU öffnet dafür ihr Füllhorn und stellt für ein Projekt zur Entwicklung tauglicher Plug-&-Produce-Verfahren fast vier Millionen Euro bereit. Der Schlachtplan klingt relativ einfach, hat es aber in sich: „Von Maschinen, die mit zusätzlicher Intelligenz ausgestattet sind und miteinander kommunizieren, erwarten wir eine deutliche Reduktion der Umrüstzeit“, erzählt Thomas Maier, Chef des Instituts für Informationsmanagement im Ingenieurswesen am deutschen KIT.

Perfekte Werkzeugmaschinen

Besenrein. So präsentiert sich die Fabrikshalle des Siemens-Elektronikwerks Amberg Besuchern. Seit 1989 produziert der deutsche Elektronikkonzern hier speicherprogrammierbare Steuerungen vom Typ Simatic. Vom Flair der seligen Achtziger ist hier freilich nicht mehr viel zu spüren – vielmehr fühlt man sich per Zeitreise in eine technologisch bessere Zeit versetzt. Im Werk – konzernintern hat es sich längst einen Ruf als Vorzeigewerk erarbeitet – fertigen die Siemensianer in höchster Güte.

Die wenigen Fehler, die passieren, werden durch verschiedene Prüfstationen erkannt. „Ich kenne kein vergleichbares Werk, das an diese niedrige Fehlerquote herankommt.“ Karl-Heinz Büttner, der Leiter des Werks, darf das sagen. Denn ähnliche Vorzeigefabriken, die technologisch so weit nach vorn schauen, haben nicht viele, der Automatisierungsspezialist Festo in Esslingen etwa. Um optimale Wertströme und verkürzte Innovationsprozesse geht es dort.

Selbst heutige Widerstandsnester wie der Werkzeugmaschinenbereich werden 2020 von Robotern durchdrungen sein: „Künftig werden die Vorteile der Werkzeugmaschine wie die hohe Präzision viel stärker mit der Flexibilität und Reichweite von Robotern kombiniert werden“, wagt Andreas Schuhbauer, Schlüsseltechnologien Werkzeugmaschinen beim Augsburger Roboterbauer KUKA, eine Prognose. Und Entwicklerideen, wie sie derzeit etwa beim deutschen Klemmenhersteller Weidmüller hinsichtlich Produktionsmaschinen mit Selbstkorrektur recht ambitioniert angegangen werden, werden immer öfter Realität.

Eifer hat noch niemandem geschadet, falscher Eifer schon: In diesem gedanklichen Koordinatensystem bewegt sich Thomas Bauernhansl, Forscher für Produktionstechnik und Fabrikbetrieb an der Universität Stuttgart. Er erforscht die Fabrik der Zukunft und gewinnt dem Bild des deutschen Perfektionismus hinsichtlich einer optimalen betrieblichen Logistik in einer Industrie-4.0-Welt eine neue Facette ab: Er warnt davor, „à la deutscher Ingenieurskunst zu versuchen, eine hundertprozentige Lösung entwickeln zu wollen“.

Bei der Umsetzung der Warenströme der Zukunft müsse man „klein anfangen, idealerweise mit einem einzelnen Logis- tikprozess“, bestätigt ein Supply-Chain- Profi. Wird damit die bestandslose Fabrik endlich Realität? „Uns muss es gelingen, das Fertigungsnetzwerk wie eine integrierte globale Fabrik zu steuern“, gibt Thomas Kaufmann, Lieferkettenspezialist beim Chiphersteller Infineon, zu Protokoll. Schwierig wird es allemal, wie Logistik-Vordenker Michael ten Hompel sagt.

„Wir können oftmals die Logistik von morgen schlechter vorhersagen als das Wetter“, sagt er. Wandelbare Systeme werden 2020 hoch im Kurs sein. Das Stichwort: Schwarmintelligenz. Aber auch in der Cloud werden sich Logistiker künftig vermehrt herumtreiben. Forscher der TU München wissen nur zu gut, welcher Gewinn die Rechnerwolke für den Materialfluss wäre. Die Deutschen erproben erste Ansätze eines Werkzeugmanagements in der Cloud. Betriebe könnten so die medialen Brüche in der Werkzeug-Supply-Chain „endgültig überwinden“.

Wo steht bei alledem der Mensch?

Hannes Hesse gibt sich dogmatisch. „Die menschenleere Fabrik wird es nie geben“, sagt der Hauptgeschäftsführer vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau einer Tageszeitung. Im Jahr 2020 wird in den vollautomatisierten Fabriken Arbeit von Menschenhand demnach genauso gefragt sein wie heute – oder sollte man vorsichtig sein mit derartigen Einschätzungen? Im deutschen Siemens-Vorzeigewerk Amberg ist die Mitarbeiterzahl mit 1100 Beschäftigten seit 1989 stabil – indes hat das Werk sein Produktionsvolumen versiebenfacht.

Die Herausforderungen der Produktion der Zukunft seien „flexible, dezentralisierte Produktionssysteme“, gibt Gerald Schatz, Geschäftsführer des Linz Center of Mechatronics, zu Protokoll. Mechatronische Systeme seien zusammen mit Softwaresystemen der Schlüssel. Erst die Integration von Sensoren und Regelungssoftware würde die Idee der in Produktionsprozesse integrierten Mess- und Auswerteverfahren vorantreiben. Und letztlich, so Schatz, wird das mechatronische Wissen herangezogen werden müssen, „damit aus der „Interaktion zwischen Mensch und Maschine Realität wird“. Nach einem brutalen Durchmarsch der Maschine klingt das nicht.

Smarte Fabriken

Sie ist als Technologieidyll geplant: Nur wenige Kilometer vom Hauptsitz des Industrieautomatisierers Festo in Esslingen-Berkheim entsteht die konzerneigene Technologiefabrik Scharnhausen. Die Pläne klingen ehrgeizig: Nach ihrer Fertigstellung soll die Fabrik – Bruttogeschossfläche über 40.000 Quadratmeter – das Leitwerk der Deutschen für die Produktion von Ventilen, Ventilinseln und Elektronik verkörpern.

Konzipiert ist das Werk – das ist seine Einmaligkeit – als zukunfts- und wandlungsfähig. Ein Ansatz, dem auch Chemnitzer For- scher viel abgewinnen können: In ihrer Modellfabrik sind Wissenschafter des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik neuen Ansätzen der ressourceneffizienteren Produktion auf der Spur. Auf einer Fläche von über 1.600 Quadratmetern werden in drei Kompetenzbereichen (Antriebsstrang, Karosseriebau, Energiemanagement) neue Produktionstechniken sowie fabrikplanerische Konzepte auf Praxistauglichkeit erprobt. Die rege Mitarbeit von Industriepartnern wie KUKA oder VW erklärt sich da fast von selbst.