30 Jahre INDUSTRIEMAGAZIN : Christian Kern: „Wir verstehen erst heute, was Habermas meinte“

Harald Katzmair FAS.research interviewt Christian Kern, damals Chef der ÖBB (Oktober 2015)
© Thomas Topf

Dieses Interview erschien erstmals November 2015, als Christian Kern Chef der ÖBB war. Inhaltlich weiterhin relevant, freuen wir uns, es aus unserem Archiv zu holen.

Das Büro von Christian Kern ist ein guter Ort, um einen Blick auf das Große Ganze zu richten. Selbst an der Gangseite transparent verglast, lässt sich im 22. Stock des ÖBB-Tower die Stadt in allen Facetten erfassen: die gigantischen Bürotürme auf der Donauplatte, Zeichen des neuen Wiener Wohlstands. Das provisorische Flüchtlingscamp, in dem hunderte Freiwillige per Smartphone organisiert Hilfe leisten. Aber auch die Gemeindebauten im Arbeiterbezirk Favoriten, wo jene, die sich als Verlierer des gesellschaftlichen Wandels empfinden, am Wahlsonntag erstmals die FPÖ zur stärksten Partei des Bezirks gemacht haben. Um Perspektive soll es auch in dem Gespräch gehen, das der renommierte Netzwerkanalytiker Harald Katzmair mit dem wohl besten Netzwerker des Landes, ÖBB-Chef Christian Kern, führt. Für 60 Minuten bleiben die elektronischen Geräte im Raum unbeachtet. Am Schreibtisch signalisiert der Rechner von Christian Kern im Dreiklang die Ankunft neuer E-Mails.

HARALD KATZMAIR: Ich probiere es mal mit Kulturpessimismus, Herr Kern. Wenn ich mich so umhöre, dann erkenne ich, dass das österreichische Narrativ erodiert: Wir entkoppeln uns vom Wachstum Deutschlands, während die Osteuropa-Story der Alpenrepublik vor dem Kollaps steht. Neue, disruptive Kräfte sind am Werk: Der technologische Wandel krempelt ganze Geschäftsmodelle oftmals binnen weniger Monate komplett um. Was bedeutet das für österreichische Führungskräfte? Welchen Stellenwert hat das persönliche Beziehungsgeflecht von Managern angesichts dieses Wandels?

CHRISTIAN KERN: Der Philosoph Jürgen Habermas entwickelte schon in den 1980er-Jahren die These, dass die Berechenbarkeit in unserer Gesellschaft verschwindet. Wir verstehen erst heute, drei Dekaden danach, was er wirklich gemeint hat. Derzeit treffen meiner Meinung nach zwei Entwicklungen aufeinander: Einerseits verändert der massive technologische Wandel die grundsätzlichen Fragen der Kommunikation und gesellschaftlichen Organisation. Das betrifft die Wertschöpfungsketten in Unternehmen massiv. Selbst in traditionellen Industrien entstehen wie aus dem Nichts neue Geschäftsmodelle, die völlig destrukturierend wirken. Aber dieser Wandel hat auch Auswirkungen auf alle andere Lebensbereiche, wie man beobachten kann, wenn man hier aus dem Fenster sieht: Der Flüchtlingsstrom durch Europa ist ebenso von Social Media gelenkt wie die Hilfswelle im Land per Smartphone organisiert ist.

Gerade diese Hilfswelle ist auch Ausdruck einer dramatischen Werteänderung...

KERN: Darauf will ich hinaus. Denn die zweite Entwicklung ist fast noch dramatischer: Wir erleben einen Wertewandel junger Menschen, wie er normalerweise Generationen, Jahrhunderte benötigt. Die Frage, was jüngeren Menschen wichtig ist – und welche Beziehungen sie eingehen wollen, beantwortet sich heute ganz anders als noch vor fünfzehn oder zwanzig Jahren.

Der Google-Chef Eric Schmidt hat das anscheinend erkannt, wenn er sagt, Unternehmen, die sich nur über ihr Produkt oder ihre Technologie definieren, werden nicht überleben. Überleben wird, wer sich über seine Ökologie definiert. Was er meint ist: Wer auch beim nächsten und übernächsten technologischen Zyklus dabei sein will, wird das ausschließlich über seine Beziehungen schaffen. Und zwar in allen Bereichen: zu den Mitarbeitern, den Kunden, den Lieferanten, aber auch in die Gesellschaft, in die Startup-Szene...

Start-ups: das bessere Abenteuer für Junge?

KERN: Ich hatte kürzlich ein Schlüsselerlebnis. Eine wirklich fähige junge Dame erzählte mir begeistert, dass sie von einem der größten heimischen Industrieunternehmen in ein 15-Mitarbeiter-Startup wechselt, weil sie sich dort wesentlich wohler fühlt. So eine Aussage eines Top-Mitarbeiters wäre vor zehn Jahren noch eine Einzelmeinung gewesen. Heute ist sie das nicht mehr. Vor allem die Leitbetriebe in diesem Land müssen sich fragen, wie attraktiv sie eigentlich noch sind – und ob sie ein Umfeld bieten, in dem sich fähige junge Menschen entwickeln wollen.

Selbst renommierte Unternehmen können nur Attraktoren sein, wenn sie ein starkes persönliches Momentum bieten: Optimismus, die Befriedigung von Neugier.

KERN: Oder das Abenteuer des Entdeckens. Der wirtschaftliche Erfolg, das Wachstum – einst die Magneten für fähige Mitarbeiter – sind heute eher Resultat als Motiv. Ein Umfeld für Menschen mit diesen neuen Ansprüchen müssen wir hier schaffen. Im Rahmen der Strategieentwicklung haben wir daher unter anderem festgelegt, dass das Ziel, zu den Top-Ten der österreichischen Arbeitgeber zu zählen, gleichberechtigt neben betriebswirtschaftlichen und Absatz-Zielen steht.

Der Entwicklungschef eines großen Technologieunternehmens sagte unlängst zu mir: „Wir investieren hunderte Millionen, aber wir wissen nicht, ob uns nicht morgen schon ein Startup über das Businessmodell wegräumt.“

KERN: Eine Einschätzung, die ich oft höre.

Ich glaube, vor diesem Problem stehen derzeit fast alle Führungskräfte. Wir sind gewöhnt, dass Innovation im Bereich von Wissen und Technologie stattfindet, aber dass jemand plötzlich kostenlos anbietet, was bisher das Geschäftsmodell war, weil man sich ganz anders finanziert, ist eine Destrukturierung, vor der man sich zu Recht fürchtet.

KERN: Diese Disruption betrifft auch die ÖBB. Als wir vor drei Jahren 175 Jahre Bahn in Österreich feierten, sagte ich sinngemäß: „Es gibt uns seit fast zwei Jahrhunderten. Wir befriedigen das menschliche Bedürfnis nach Mobilität, und das Geschäftsmodell wird auch in 175 Jahren noch Bestand haben. Dann wird über Google, Facebook und Amazon kein Mensch mehr sprechen.“

Halten Sie diese These noch aufrecht?

KERN: Dass in 175 Jahren niemand mehr über Google, Facebook und Amazon sprechen wird, davon bin ich überzeugt. Aber ich bin nicht mehr so sicher, ob es selbst für einen so traditionellen Saurier wie die Bahn so etwas wie eine Bestandsgarantie gibt. Hätte mir vor drei Jahren jemand gesagt, dass es heute Testbetriebe für selbstfahrende Autos geben würde, hätte ich das für Unsinn gehalten. Aber Digitalisierung bringt eben auch Transparenz und Netzwerkeffekte. Phänomene wie Fernbus oder Car Sharing gibt es schon lange, doch plötzlich beginnen sie, der Bahn ernsthaft gefährlich zu werden. Die potenzielle Destrukturierung der herkömmlichen Geschäftsmodelle ist eine Riesenherausforderung für Manager.

Und wie steuern Sie gegen?

KERN: Die Kernaufgabe von Führungskräften muss sein, die Stärken des eigenen Unternehmens zu verstärken – und nicht, sich mit dem Versuch aufzuhalten, aus Defiziten Stärken zu machen. Mein Stehsatz bei jungen Mitarbeitern lautet: „Management ist ein Kreativjob.“ Kreativität ist eine Funktion von Wissen, und das ereilt einen unangenehmerweise nicht auf dem Sofa sondern ist das Resultat von viel, viel Arbeit. Doch das ist seit Jahrhunderten die Funktion von Managern und wird sich auch nicht ändern: Wir sind Kreativspieler.

Was bedeutet das für Ihr Netzwerk? Lässt sich mit einer traditionellen Vorstellung von Netzwerken heute noch erfolgreich führen?

KERN: Nein. Auch weil sich der Charakter der Netzwerke massiv verändert hat. Vor einer Generation hieß es noch: Man trifft einander immer zwei Mal – und das war auch ganz gut, da Konflikte nicht mit der letzten Konsequenz und letzter Härte geführt wurden. Nur wurden eben auch notwendige Entwicklungen nicht immer eingeleitet, weil man aus diesem System nicht herausfallen wollte. Früher waren die Generaldirektoren beste Freunde, und ihre Ehefrauen gingen gemeinsam ins philharmonische Konzert. Die Zeit ist vorbei.

Harald Katzmair FAS.research und Christian Kern ÖBB (Oktober 2015)
Kern: "Digitalisierung bringt eben auch Transparenz und Netzwerkeffekte. Phänomene wie Fernbus oder Car Sharing gibt es schon lange, doch plötzlich beginnen sie, der Bahn ernsthaft gefährlich zu werden." - © Thomas Topf

Netzwerk als Frage der Vision

Netzwerke dienen also viel stärker dem gegenseitigen Sparring als der gegenseitigen Unterstützung?

KERN: Die Zeiten, in denen man einander freundschaftlich beisprang, gibt es nicht mehr. Wir stehen unter viel größerem Druck, die Transparenz ist deutlich höher als früher, und dass die durchschnittliche Lebensdauer europäischer CEOs bei sechs Jahren liegt, muss uns auch bewusst sein. Netzwerke dienen heute viel stärker der Inspiration. Ich will von anderen lernen, Kontexte verstehen – das sind die Optionen, die sich für mich aus Netzwerken ergeben sollen.

Es ist auch eine Frage der Vision. Damit etwas gelingt, braucht es eine sehr starke Vorstellung von der Zukunft und die Lust daran, das auch in die Welt zu tragen. Dies gelingt den missionarischen Amerikanern sehr gut, ist aber auch etwa in der deutschen Ingenieurs-Kultur verankert...

KERN: Eine These, die Sie auch nach VW aufrechterhalten?

Ich spreche jetzt vom klassischen deutschen Mittelstand. Wir haben im Zuge einer Umfrage unter deutschen Mittelständlern erfragt, von welchen Unternehmen sie inspiriert werden und was diese Unternehmen auszeichnet. Als erstes wurde nahezu immer die Mitarbeiter-Loyalität genannt, also die durchschnittliche Verweildauer. Die ist aber nur bei wertebasiertem Management hoch. Ein sehr spannendes Ergebnis, eigentlich gegen den Trend: statt Beschleunigung also eher Verstetigung, die einen erst in die Lage versetzt, schnell zu sein und agil.

KERN: Wir haben im Zuge der Flüchtlingskrise ähnliches erlebt. Natürlich ging es im Wesentlichen darum, eine gegebene Situation professionell zu bestehen. Es hat aber auch mit unseren Mitarbeitern etwas gemacht und sie bestimmt stärker motiviert, als wenn wir noch drei Zehntel beim ROCE zulegen. Was die Menschen wirklich treibt, ist ernsthafte Wertefundierung: die Möglichkeit, im Winter Obdachlosen zu helfen, einen Beitrag zu ökologisch und sozial verträglichem Verkehr zu leisten, eine Standortfunktion zu erfüllen, Arbeitsplätze zu schaffen. Das hohe Maß an Identifikation mit solchen Themen sehen wir jeden Tag im Intranet.

Themenwechsel. Elon Musk, der etwas bizarre aber durchaus faszinierende Gründer von Paypal und Tesla, sagt auf die Frage nach seinem Erfolgsrezept immer: Erstens: reines Glück...

KERN: ...wobei Kreiskys Diktum zutrifft: Was bitteschön macht a Depperter mit an Glück?

Und zweitens: prinzipienbasiertes Vorgehen. Wenn etwas den eigenen Prinzipien nicht entspricht, soll man es auch nicht tun, selbst wenn andere damit sehr erfolgreich sind. Stattdessen sollte man darüber nachdenken, wie man sich die Technologien, die entwickelt werden und die unser Leben bestimmen, aneignen, zu etwas Eigenem machen kann. Wir haben das in Österreich zuletzt recht erfolgreich mit der Osteuropa-Story gemacht. Doch dieses Narrativ ist nun kollabiert. Überhaupt fällt auf, dass wir Europäer nicht besonders gut darin sind, unsere Chancen zu wahren. Ein Beispiel: In der fünften Mobilfunk-Generation ist etwa kein einziges europäisches Unternehmen mehr dabei. Und wir sind ja wohl nicht zu blöd dafür.

KERN: Stimmt. Wir Europäer tendieren oft dazu, Probleme völlig richtig zu analysieren und dann grandios an der Umsetzung der Lösungen zu scheitern. Und das ist auch ein Grund, warum uns hierzulande das Narrativ verloren geht.

Ist die Managementleistung der Voestalpine für Sie eine Benchmark?

KERN: Wenn wir darin übereinstimmen, dass heute die Disruptionen fürs Geschäft von außen kommen, dann muss eine Benchmark innerhalb des eigenen Sektors und der eigenen Region immer unvollständig sein. Es ist ein bisschen wie in Platons Höhlengleichnis: Wir sitzen vor der Wand und halten die Schatten dort für die Realität, während sich das wahre Geschehen hinter unserem Rücken abspielt. Die Inspirationsquellen sind zwingend woanders zu sehen, nicht in der eigenen Industrie und im eigenen Land. Man muss aber auch nicht wie gebannt ins Silicon Valley schauen. Inspiration kann man selbst beim Fußball finden.

Wer hat Sie denn eigentlich zuletzt wirklich inspiriert?

KERN: Meine wichtigste Inspirationsquelle in diesem Sommer war die Biographie von Gert Voss.

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Aufgezeichnet von Bernhard Fragner und Rudolf Loidl.

Georg Kopetz, Gründer von TTTech, und Harald Katzmair, Gründer von FAS
Katzmair: "Überhaupt fällt auf, dass wir Europäer nicht besonders gut darin sind, unsere Chancen zu wahren. " - © Thomas Topf

Zur Person Christian Kern

CHRISTIAN KERN wuchs als Sohn einer Sekretärin und eines Elektroinstallateurs im Wiener Arbeiterbezirk Simmering auf. Nach einem Studium an der Uni Wien startete als Wirtschaftsjournalist und wurde im Jahr 1991 in der Bundesregierung Vranitzky Assistent des Staatssekretärs Peter Kostelka. 1994 holte ihn die sozialdemokratische Parlamentsfraktion als Büroleiter und Pressesprecher ins Hohe Haus. Im Jahr 1997 wechselte er zum Verbund, wo er 2007 Vorstand wurde. 2010 wurde der Vater dreier Söhne und einer Tochter Vorstandsvorsitzender der ÖBB-Holding und galt als Kanzlerreserve der Sozialdemokraten. Von Mai 2016 bis Dezember 2017 war der dann Österreichischer Bundeskanzler.

Zur Person Harald Katzmair

HARALD KATZMAIR gilt als einer der renommiertesten europäischen Analysten im Bereich von Kommunikationsnetzwerken. Der gebürtige Linzer ist Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des Sozial- und Strukturanalyseunternehmens FAS.research. Er unterrichte an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie an den Universitäten Klagenfurt und Krems.