Stahlindustrie : Voestalpine vs. Thyssenkrupp: Aufstieg und Niedergang zweier Stahlkonzerne

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Der Teppichbelag im Veranstaltungssaal des Erste Bank Campus in Wien verströmte noch den Geruch des Großhandels. Nicht nur die Wahl des Veranstaltungsortes war anders, als Herbert Eibensteiner im September erstmals zu einem Hintergrundgespräch vor die Vertreter der Hauptstadt-Medien trat. Der neue starke Mann in Linz benötigte die ganze Routine seiner siebenjährigen Erfahrung als Vorstand der mächtigen Voestalpine Steel Division, um die Zahlen zu erklären, die er, seit gerade einmal zwei Monaten im Amt, zu verantworten hat: Im ersten Geschäftsquartal von April bis Juni des Jahres fehlten 60 Prozent auf den vergleichbaren Vorjahresgewinn.

Schweinezyklus

Doch die konjunkturelle Talfahrt, inmitten derer Eibensteiner das Ruder beim Linzer Stahlhersteller übernommen hat, trifft den Konzern nicht unvorbereitet. Die Strategie der Vorwärtsintegration und des Wandels zum technologiebasierten Stahlunternehmen hat die Risiken im Konzern ausbalanciert. Die Linzer, mit einer Roheisenproduktion von rund 5 Millionen Jahrestonnen unter den globalen Stahlkochern ein Zwerg, sind mit ihrer Technologiestrategie in der Welt der Eisenhütten eine globale Benchmark. Aus dem insolventen Stahlkocher Voest der 80er ist in den 90ern der Nischenanbieter VA Stahl AG und ab der Jahrtausendwende ein Technologieanbieter mit hohem Weiterfertigungsanteil geworden. Die Voestalpine hat heute einen Ruf zu verlieren.

Wer die Konzernzentrale von Voestalpine-Mitbewerber Thyssenkrupp besucht, kann nicht anders als beeindruckt zu sein: Von hier aus werden weltweit 160.000 Mitarbeiter, mehr als dreimal so viel wie die Linzer auf der Payroll haben, dirigiert. Die Architektur des 2010 fertiggestellten Thyssenkrupp Quartiers ist ein Glas und Stahl gewordenes Symbol von Kapital und Macht. Hier, im Headquarter Q1, das wie dem Film „Transformers“ entsprungen scheint, wird wenige Tage nach Erscheinen dieser Ausgabe Martina Merz, die mittlerweile dritte Vorstandsvorsitzende des Stahlkonzerns in 18 Monaten, ihren Platz einnehmen. Die Aufsichtsratschefin löst in einer Art Feuerwehraktion Guido Kerkhoff ab, der erst im Februar zum CEO bestellt wurde. Es besteht Grund zur Annahme, dass Herbert Eibensteiner die frühere Bosch-Managerin nicht um ihre Aufgabe beneidet: Der einstige Branchenprimus der europäischen Stahlindustrie, im September aus dem deutschen Leitindex DAX geflogen, kämpft um sein Überleben. Wie konnte es so weit kommen?

Stringentes Geschäftsmodell

Wie man in Linz trotz komplizierter Strategie eine schlüssige Stahl-Erzählung gestrickt hat – und man in Essen daran gescheitert ist.

Immer wieder reagiert das Publikum überrascht: Im aktuellen Image lm der Voestalpine findet sich kein einziges Bild eines Hochofens, kein Stahlwerk, keine Aufnahme eines Abstiches. Fast wirkt es, als würde man in Linz vermeiden wollen, mit der Produktion von Rohstahl in Verbindung gebracht zu werden. Das ist schon länger so: Mit dem Strategieprogramm „Mehr aus Stahl“ hat Peter Strahammer 2001 den Schwenk zu technologielastigen Endprodukten eingeläutet. Digitalgesteuerte Weichen bestimmen heute das Selbstbild der Voestalpine stärker als glühende Stahlbrammen. Trotz aller Downstream-Strategien: Die Voestalpine definiert sich heute als Technologiekonzern, der Stahl als Ursprung hat.

Thyssenkrupp hat es mit der Identität weitaus schwerer. Der Konzern ist heute ein Konstrukt mit einer Beteiligungsliste von 498 Unternehmen, mehr Konglomerat als Konzern. Man produziert Aufzüge ebenso wie Kriegsschiffe, U-Boote, Industrieanlagen und Spezialbleche. Der Bauchladen sammelte sich an, während die Strategien wechselten wie die Jahreszeiten. Zuletzt – und am kostspieligsten – wurde versucht, den Stahl im Mischkonzern auf das Nebengleis zu schieben. Durch eine Fusion mit Tata Steel Europe sollte der Stahlbereich de facto aus dem Konzernverbund verschwinden. Der große Rest des Unternehmens (ca. 30-25 Mrd. Umsatz) würde Thyssenkrupp zum industriellen Dienstleistungskonzern machen.

Doch die EU-Kommission hat der Strategie mit einem Veto einen Riegel vorgeschoben – und erwischte den Essener Konzern damit am falschen Fuß: Fast zwei Jahre an strategischen Umsetzungen, organisatorischen Vorleistungen, Investitionen und Deinvestitionen müssen jetzt abgewickelt werden. Gerade einmal ein Jahr im Amt, musste der neue CEO Guido Kerkhoff den bereits aussortierten Stahlbereich wieder zum eigentlichen Geschäftszweck erklären. Thyssenkrupp soll jetzt zum „Materialkonzern mit einigen Beteiligungen“ werden.

Loyale Eigentümer

Warum man in Linz froh ist, anno 2003 der Göttin der Weisheit entkommen zu sein.

Es war einer der größten wirtschaftspolitischen Aufreger des Jahres 2003: Mit einem klandestinen Plan unter dem Namen Minerva wollte der damalige Finanzminister Karl-Heinz Grasser die Voestalpine „privatisieren“. Der 37-Prozent-Anteil, den die Bundesbeteiligungsholding ÖIAG damals hielt, sollte an Frank Stronachs Magna-Konzern (und in weiterer Folge Teile davon an Finanzfonds) verkauft werden. Nachdem der Plan vorzeitig bekannt wurde und Massenproteste in Linz drohten, wurde er abgeblasen – und mit einer Kernaktionärslösung ein stabiler Eigentümer gefunden: Aus Anteilen der Raiffeisen Landesbank Oberösterreich (RLB), der Oberbank, Hypo und Oberösterreichischen Versicherung sowie der Voest-Mitarbeiterbeteiligung wurde eine oberösterreichische Lösung zur Vollprivatisierung gezimmert, die bis heute – 16 Jahre später – die bestimmende Aktionärsstruktur der Voestalpine beschreibt. Eine Eigentümerstruktur, die dem Management seither Gestaltungsspielraum und Handlungssicherheit für langfristige Unternehmensplanung gibt.

Das kann von den Eigentümern des Thyssenkrupp-Konzerns nicht behauptet werden: Die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung (AKBH) ist mit einem Anteil von 21 Prozent der Hauptaktionär. Die stark auf Mitarbeiterwohl und Gemeinnützigkeit bedachte Familienstiftung verfügt allerdings über keine Sperrminorität mehr. Aktueller Haupttreiber unter den Aktionären ist der schwedische Equity-Fonds Cevian, der mit 18 Prozent das zweitgrößte Aktienpaket von Thyssenkrupp kontrolliert. Seither treibt der Hedgefonds mit seiner Renditeerwartung das Management vor sich her: Zuletzt mit der Forderung an das Management, die Aufzugssparte von Thyssenkrupp, die letzte Cashcow im Konzern, komplett zu verkaufen und dabei 18 Milliarden Euro zu lukrieren. Neun Milliarden davon sollen als Sonderdividende an die Aktionäre gehen. Der mittlerweile geschasste Guido Kerkhoff lehnte dieses Ansinnen rundweg ab. Noch ist offen, ob sich der 18-Prozent- Aktionär durchsetzt.

Stabiles (lokales) Management

Die Linzer hatten seit der Verstaatlichtenkrise so viele Vorstandsvorsitzende wie Thyssenkrupp in den letzten 18 Monaten.

In den vergangenen 27 Jahren – seit 1992 – hatte die Voestalpine abgesehen vom frischgebackenen CEO Herbert Eibensteiner ganze drei Vorstandsvorsitzende: Peter Strahammer (1992-2001), Franz Struzl (2001-2003) und Wolfgang Eder (2003-2019). Jeder Einzelne von ihnen hatte bereits eine jahrzehntelange Karriere im Unternehmen hinter sich, bevor er auf dem Chefsessel Platz nehmen durfte. Ganz anders die Mitbewerber aus dem Ruhrgebiet. In den vergangenen 18 Monaten wechselten die Manager im Chefsessel der Essener Zentrale Q1 schneller als die Trainer bei Rapid. Nach Ulrich Lehner, Bernhard Pellens und Martina Merz rückt jetzt der ehemalige Siemens-Manager Siegfried Russwurm als vierter Kandidat an die Aufsichtsratsspitze. Vom Chefposten wichen erst Heinrich Hiesinger (kam von Siemens), jetzt Guido Kerkhoff (ursprünglich Deutsche Telekom). Und Martina Merz (einst Bosch) gilt ebenfalls als Lösung für maximal 12 Monate, bis ein neuer Vorstandschef gefunden ist.

Glückliche Fügung und Größenwahn

Warum das vorzeitige Ende des „Projekt Edelweiß“ wohl ein Segen für die Voestalpine gewesen ist.

38 zu 9 – das ist das Verhältnis der Eigenkapitalquoten in Prozent von Voestalpine und Thyssenkrupp. Neun Prozent Eigenkapital sind das Resultat der möglicherweise größten Fehlentscheidung in der deutschen Industriegeschichte: die Errichtung zweier Stahlwerke in Brasilien (Produktion günstigen Stahls für die Nafta-Region) und im amerikanischen Alabama (Weiterverarbeitung des Stahls für die US-Industrie). Geplant im Nachfrageboom Mitte der 2000er gingen die Werke 2010 in Betrieb, als sich das Marktumfeld (Stahlkrise, Frontalangriff chinesischer Billiganbieter) stark verändert hatte. Doch serielles Missmanagement und die technischen Fehlentscheidungen machten die Investition zum Desaster: Durch die Schwierigkeiten im vorgeschalteten Werk Brasilien produzierte Alabama selbst in den besten Quartalen nur mit halber Kapazität – und musste nach drei Jahren mit einem Verlust von mehreren Milliarden Euro verkauft werden. Weniger schnell verabschiedete man sich vom Milliardengrab in Brasilien: Erst 2017 gelang der Verkauf des Werkes – der einstige Thyssenkrupp-CEO Guido Kerkhoff bezifferte die Abgänge aus den Amerika-Abenteuern in Summe auf acht Milliarden Euro.

Möglicherweise nur knapp entgangen ist die Voestalpine einem ähnlichen Schicksal. Noch 2007 plante man in Linz angesichts der damals herrschenden massiven Stahlnachfrage das Projekt „Edelweiß“: ein komplett neues Stahlwerk an der türkischen Küste am Schwarzen Meer. Bei einem Treffen von Voestalpine-Chef Wolfgang Eder und dem türkischen Präsidenten Erdogan solle man, wie Eder damals erzählte, sogar schon über mögliche Standorte gesprochen haben. Ende 2012 sollte die Produktion anlaufen – doch Voestalpine-Finanzchef Ottel habe, so heißt es, Anfang 2008, wenige Monate vor Ausbruch der Finanzkrise, die Notbremse gezogen. Investiert wurde trotzdem: seit Mitte der 2010er-Jahre in eine Direktreduktionsanlage in Corpus Christi, die mit preiswertem US-Gas Stahlvormaterial für das Linzer Werk produziert. Das Prestigewerk ist mit 900 Millionen Euro Investitionssumme (statt der geplanten 550 Millionen) bisher deutlich teurer geworden. Doch weil die Risikovorsorge von Eibensteiner-Vorgänger Wolfgang Eder sehr hoch angesetzt wurde, schlagen sich die Anlaufschwierigkeiten im neuen US-Werk bisher nicht in der Finanzstruktur nieder: Die Eigenkapitalquote der Voestalpine ist zuletzt sogar gestiegen.