Michael ten Hompel : „Unglaubliche Entwicklungssprünge“

Der Anblick ist gespenstisch. Mehrere Dutzend Multishuttles bewegen sich durch die rund 1000 Quadratmeter große Halle. Außer den leisen Geräuschen der Antriebe ist nichts zu hören. Vor allem aber: Niemand bedient die kleinen Transporter, sie fahren völlig autonom durch den Raum, pendeln permanent zwischen einem Regallager und mehreren Kommissionierstationen. Was auf den ersten Blick wirkt wie eine Spielerei, ist nach den Worten von Michael ten Hompel nicht weniger als der „größte Versuch zur künstlichen Intelligenz, der jemals unternommen wurde. Nicht nur in der Logistik.“

Der Professor für Förder- und Lagerwesen an der Uni Dortmund und geschäftsführende Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik ist ein Mastermind des Feldversuchs, der dem praktischen Einsatz künstlicher Intelligenz zu einem wesentlichen Durchbruch verhelfen soll. Basierend auf Algorithmen des italienischen Mathematikers Marco Dorigo ist in der Dortmunder Versuchshalle zu sehen, wie „zellulare Fördertechnik“ die Intralogistik in den kommenden Jahren verändern soll. Für Andreas Tengler, Geschäftsführer der Barkawi Management Consultants in Wien, ist es ein Paradebeispiel dafür, „wie das Lager der Zukunft aussehen wird: vernetzt, intelligent und ressourceneffizient“.

Es ist Forschung, doch Michael ten Hompel ist überzeugt, dass nicht nur die Serienreife unmittelbar bevorsteht – „Ich denke, wenn solche Systeme erst einmal industrietauglich auf den Markt kommen, dann wird alles sehr schnell gehen.“

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr ten Hompel, warum sollte Intralogistik von Ameisen lernen?

Michael ten Hompel: Weil Ameisen ein unglaubliches Erfolgsmodell der Evolution sind! Die einzelnen Tiere verfügen bekanntlich – wie auch die einzelne Shuttles im Lager – über eine geringe Intelligenz. Doch gemeinsam leisten sie Erstaunliches, und zwar, weil sie kommunizieren. Deren Informations-Austausch über Pheromone kann man auf die Lagertechnik übertragen, sodass sich die Fahrzeuge im Ameisenhaufen – sprich: im Lager – autonom bewegen. Dabei legen sie eine Art digitaler Pheromon-Spur, die wie bei den Ameisen mit der Zeit verdampft. Die zellularen Transportsysteme organisieren in gleicher Weise die kürzesten Wege und die Reihenfolge der Transporte. Das Ergebnis sind sich selbst organisierende „Ameisenstraßen“ zwischen den Arbeitsstationen im Lager.

Wir begannen schon vor einigen Jahren damit, an den zellularen Transportsystemen zu forschen. Unmittelbar darauf begann die 4. Industrielle Revolution, und die spielte uns natürlich in die Karten. Die „Ameisenalgorithmen“ des Mathematikers Marco Dorigo sind ein geradezu hervorragendes Beispiel für Industrie 4.0: autonome Systeme, die sich untereinander vernetzen und die über Agenten-Software gesteuert werden.

Wie nahe sind Sie an der Serienreife?

ten Hompel: Sehr nahe. Wir verhandeln derzeit mit Industriepartnern darüber, das System in Serie auf den Markt zu bringen. Wir hoffen, dass es nach der Sommerpause so weit sein wird.

Dient ein solches System auch der Kostensenkung?

ten Hompel: Nicht grundsätzlich. Natürlich handelt es sich derzeit noch um eine Simulation, doch soweit wir es abschätzen können, dürften die zellularen Transportsysteme im Anwendungs-Korridor von 500 bis 800 Behältern pro Stunde ihr Optimum erreichen und hier auch etwas kostengünstiger sein als klassische Förder- und Lagertechnik. Bei höheren Förderleistungen sind die herkömmlichen Systeme aber natürlich überlegen. Die Hochleistungs-Distribution ist sicherlich nicht das Einsatzgebiet der zellularen Fördertechnik. Sie erhöht vor allem die Flexibilität.

Die notwendige Hardware ist bereits am Markt?

ten Hompel: Absolut! Wir halten alles in Händen, um Schwärme zellularer Transportsysteme Wirklichkeit werden zu lassen. Die entwickelte Technik passt sich nahtlos in die existierende Welt ein, und besondere Installationen sind nicht notwendig. Die Fahrschienen und Beckhoff-Steuerungen sind Industriestandard.

Gibt es Probleme bei den Schnittstellen?

ten Hompel: Das sehe ich überhaupt nicht. Mechanisch besteht die Schnittstelle aus einem ganz normalen Lagerregal und aus einer ebenen Fläche mit den Arbeitsstationen. Je nach Ausführungsform müssen Sie vielleicht noch ein paar Farbstreifen zur Markierung von Hauptfahrwegen auf den Boden kleben. Auch manuelle Übergaben könnte man einrichten. Dann hätten Sie zwar im Grunde wieder ein normales Shuttle, aber prinzipiell wäre auch das möglich. Auf der Softwareseite bieten erste Firmen wie SAP neue Schnittstellen, die das Internet der Dinge mit HANA verbinden.

Wir hören schon lange von Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge, doch gerade in der Intralogistik scheint hinsichtlich Intelligenz der Systeme noch Luft nach oben zu bestehen.

ten Hompel: Glücklicherweise, davon leben wir ja (lacht). Doch in den vergangenen Jahren und Monaten bewegt sich wirklich viel, und das liegt vor allem an den enormen technischen Entwicklungen. Ein wunderbares Beispiel ist der 3D-Druck, mit dessen Hilfe wir Dinge herstellen können, die man konventionell gar nicht fertigen könnte. Für unsere neuste Shuttle-Entwicklung, den RackRacer, haben wir zum Beispiel den Prototyp ausgedruckt. Da entstehen ganz neue, bionische Formen. So sieht der gedruckte RackRacer ein bisschen aus wie eine Gottesanbeterin. Spektakuläre Fortschritte gab es im Bereich der Sensorik, und auch die Prozessoren machen unglaubliche Entwicklungssprünge – und all das kostet nur noch ein paar Euro. Dies wird die Intralogistik enorm vorantreiben.

Bei all dem sollte man aber nicht vergessen, dass es immer noch so etwas gibt wie die geniale Idee – auch im Bereich der ganz normalen Mechanik. Es gibt sie noch, diese goldenen Momente, in denen ein Techniker mit einem Einfall zu Ihnen kommt, und Sie denken: Mein Gott, das hat wirklich noch keiner bemerkt? Die Entwicklung des RackRacers war für mich ein solcher Moment.

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Mitarbeiter?

ten Hompel: Das ist ein wesentlicher Punkt. Wir arbeiten intensiv an Systemen, die den Menschen auch in der richtigen Art und Weise mit der neuen Welt verbinden. Bei den bisherigen industriellen Revolutionen haben wir uns immer Gedanken über die Erhöhung der Produktivität gemacht. Den Menschen haben wir einem Takt unterworfen, einem Produktionstakt.

Doch hier haben wir Grenzen erreicht, und wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Individualität des Menschen sinnvoll einsetzen. Vor allem im Zusammenspiel mit cyberphysischen Systemen. Industrie 4.0 ist ein sozio-technisches System.

Die jungen „Digital Natives“ setzen zu Recht voraus, dass sie sich mit dem Fahrzeug, vor dem sie stehen, auch unterhalten können. Menschen und Maschinen müssen sich vernetzen, in neuartigen sozialen Netzwerken als Partner miteinander kommunizieren und arbeiten. Das funktioniert aber nur, wenn wir den Menschen die richtigen Geräte und die richtige Software zur Verfügung stellen. Reale und virtuelle Welten werden miteinander verschmelzen. Datenbrillen wie Visux oder Google Glass sind ein wichtiger Schritt in Richtung dieser „Augmented Reality“. Auch hier gilt: Die Technik ist schon da, jetzt müssen die Applikationen her. Stellen Sie sich vor, Sie sehen ein Fahrzeug nur an, und es erkennt das und fährt auf Sie zu. Das ist bereits Realität, wir haben es gerade auf der CeMAT präsentiert.

Wenn solche Systeme erst einmal industrietauglich auf den Markt kommen, dann wird alles sehr schnell gehen. Mich erinnert es an die Zeit, als wir anfingen, uns über E-Commerce Gedanken zu machen. Damals waren wir in der virtuellen Welt des Internet, jetzt sind wir beim Internet der Dinge, wir beginnen also, die Dinge tatsächlich miteinander zu vernetzen. Ich glaube, einiges wird überraschend schnell gehen, wenn die richtigen Applikationen auf dem Markt sind.

Ameisenalgorithmen

So funktionieren sie konkret

(Andreas Tengler, Barkawi Management Consultants)

Intelligente Multishuttles koordinieren die Auftragsannahme untereinander. Kommt ein Auftrag herein, erfahren es die Transportfahrzeuge über eine Software. Sie kommunizieren ihren GPS-Standort über Funkmodule an alle anderen Fahrzeuge im Lager – ähnlich wie Ameisen über Pheromone den anderen Ameisen klarmachen, wo sie sich befinden. Die Multishuttles tauschen sich dann über WLAN aus, wer den Transport übernehmen kann.

Das Shuttle, das sich in der kürzesten Entfernung zum gewünschten Übergabebahnhof befindet, erhält den Auftrag – und lässt die anderen wiederum wissen, dass die Aufgabe nicht mehr offen ist. Sensoren sorgen dafür, dass es während des Transportes nicht zu Kollisionen kommt. Neben den Multishuttles werden auch Transporteinheiten wie Container immer „intelligenter“. Ausgestattet mit RFID-Modulen, gelangen sie nicht nur unfallfrei zu ihrem Ziel, sondern kontrollieren auch, ob sie die richtige Ware geladen haben.

Damit die Ware während des Transports nicht beschädigt wird, messen die Sensoren außerdem relevante Parameter im Inneren des Behälters: Bei temperaturempfindlichen Lebensmitteln oder Pharmaprodukten ist so eine lückenlose Kühlkette sichergestellt. Ist die transportierte Flüssigkeit wärmer, als sie sein sollte? Wurde der Container mit dem falschen Inhalt beladen? Dann wird Alarm ausgelöst.