Tag der Industrie : Tag der Industrie 2016: Quo vadis Europa?!

Das bisher Undenkbare ist tatsächlich passiert: Die Bürger Großbritanniens haben sich entschlossen, der Europäischen Union Lebewohl zu sagen. Das Referendum – mit einer historisch hohen Wahlbeteiligung von über 70 Prozent – markiert den bisherigen Höhepunkt einer Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise, die vor wenigen Jahren noch völlig unvorstellbar schien. Kein Wunder: Während überzeugende Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit – Migration, Globalisierung oder Arbeitslosigkeit – ausbleiben, werden Kleinigkeiten – etwa die Wirkkraft von Staubsaugern – zentraleuropäisch reguliert.

Wohin führt der Weg Europas? Kann das Ziel, wie manche meinen, nur darin liegen, dass sich die Union auf ihre Kernkompetenzen – den Freihandel – zurückbesinnt? Oder sollen weitere nationale Zuständigkeiten wie Sicherheit, Verteidigung und Sozialpolitik an Brüssel abgegeben werden? Und wenn ja, hat die Union in ihrem derzeitigen Zustand dazu überhaupt noch die Kraft? Den diesjährigen Tag der Industrie stellte die Industriellenvereinigung unter den Titel "Quo vadis, Europa?". Hochkarätige Experten zeigten im Haus der Industrie in Wien Wege vor, um die Union aus ihrer derzeitigen Problemlage zu führen.

"Mehr Europa, wo nötig"

"Europa steckt in der Krise, weil es uns nicht gelingt, die großen Themen unserer Zeit zu lösen", sagt Georg Kapsch, Präsident der Industriellenvereinigung, durchaus selbstkritisch. Doch die Vertrauenskrise sei nicht unbedingt nur durch ein Versagen der EU-Institutionen entstanden, sondern vor allem durch das Handeln der nationalen Regierungen. "Denn die schieben nur allzu gerne alles Negative auf Brüssel." Die österreichische Industrie hingegen brauche mehr Europa. Man benötige eine Phase der europäischen Konsolidierung und der Weichenstellungen, die ein weiteres Zusammenwachsen "wie auch schon jetzt in durchaus unterschiedlichen Geschwindigkeiten" ermöglicht.

Gemeinsame Sicherheitspolitik

Ein Zusammenwachsen etwa im Bereich einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Der Aufbau europäischer Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen sowie die Schaffung einer europäischen Armee stellt ein Element der Forderungen nach mehr Europäischer Union dar. "Wie sollen wir uns denn sonst in der Flüchtlingskrise, der Ukraine-Krise oder gegenüber Russland und der Türkei glaubwürdig positionieren?", meint etwa Karl-Heinz Kopf, zweiter Präsident des Nationalrates, in einer Podiumsdiskussion. Zentrale politische Verantwortung in diesem Bereich fordert auch Gerald Knaus, Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative: "Ich komme gerade aus einem Flüchtlingslager in Griechenland und ich stelle fest, in der Migrationspolitik versagt Europa auf ganzer Linie. Es gibt keine zentrale Instanz, die dieses klassisch europäische Thema koordiniert."

Mehr Legitimation, straffere Strukturen

"Europa braucht Leader und mehr Leadership", postulierte Polens Vizepremier Mateusz Morawiecki in seiner Keynote. An beidem fehle es derzeit, auch weil es an Legitimation und an den dafür nötigen Strukturen fehlt, ergänzt Kapsch. Eine stärkere Bürgerbeteiligung, etwa durch die Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten oder "europäischer Parteien" mit transnationalen Listen, könnte dies leisten. "Das Einstimmigkeitsprinzip auf Einzelfälle zu begrenzen, könnte Entscheidungsprozesse in relevanten Bereichen beschleunigen", so Kapsch.

Vertiefung der Wirtschaftsunion

"Es braucht auch Reformen zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion", erklärt Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung. Die Stärkung der Kompetenzen des Eurogruppen-Vorsitzenden oder die Schaffung eines Strukturreformfonds in der Eurozone für Staaten, die tiefgreifende Reformen durchführen, soll verstärkt werden. "Schließlich würde es auch helfen, wenn drastische Verstöße gegen die Euro-Stabilitätsregeln wieder wirksam sanktioniert würden, um das Vertrauen in die EU zu stärken", konstatiert der IV-Präsident Georg Kapsch.

Zwei (oder mehr?) Geschwindigkeiten

Einige dieser Ansinnen dürften in manchen Mitgliedsstaaten weniger Enthusiasmus auslösen. Dafür soll, so das Konzept der Industrie, die Möglichkeit der differenzierten Integration geschaffen werden. "Ein Kerneuropa, wie es die Eurozone zum Teil bereits darstellt, könnte, flankiert von Staaten mit privilegierten Partnerschaften", solch eine differenzierte Integration leisten. Eine sogenannte privilegierte Partnerschaft böte etwa Großbritannien jene enge Anbindung an den gemeinsamen Markt, die es wünscht – und die unserer Wirtschaft entgegenkommt.

"Weniger Europa, wo erforderlich"

"Ziel muss ein Mehr an Europa sein, wo es notwendig ist – und ein Weniger an Europa, wo es nicht notwendig ist", definiert Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung. Während in den Bereichen Wirtschafts- und Währungspolitik, Migration, Außen- und Sicherheitspolitik ein Mehr absolut geboten sei, könnten Regulierungen in vielen Bereichen durchaus subsidiär an die Länder abgegeben werden. Als Beispiel nannte er etwa Corporate-Governance-Themen und CSR-Regeln. "Während überzeugende Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit – Migration, Globalisierung oder Arbeitslosigkeit – ausbleiben, werden Kleinigkeiten – etwa die Wirkkraft von Staubsaugern – zentraleuropäisch reguliert."

Etappenziel: Konsolidierung. Digitalisierung

Ein erstes Etappenziel der Reformen der EU muss, darüber herrschte in den Diskussionen am Tag der Industrie Einigkeit, die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sein: Etwa die Behäbigkeit der Verwaltung. "Was in Österreich als schnell gilt, läuft in den USA unter langsam", erzählt Peter Platzer aus seiner Erfahrung als Start-up-Unternehmer in einer vielbeachteten Ansprache. "Das Problem ist: Die Konkurrenz unserer Unternehmen ist global. Deshalb muss Europa schneller werden. In seinen Entscheidungen, in seiner Verwaltung."

Moderne Arbeitszeitregeln – etwa über so genannte Blue Cards, könnten die innereuropäische Mobilität fördern. Auch die grenzüberschreitende Koordinierung – und einfachere Anerkennung – von Sozialleistungen sei anzugehen. In der Energiepolitik laufe man Gefahr, die europäische Vorreiterrolle durch immer höhere Klimaziele zu überdehnen, sagt IV-Präsident Kapsch. Innovationsorientiert sei diese Politik durchaus ein Anreiz für die Industrie, Innovationen zu schaffen – doch immer neue Grenzwerte und Vorschriften führten zu einem gravierenden Nachteil für den Standort, ohne die globale Klimasituation zu verbessern.

Kapsch weiter: "Von eminenter Wichtigkeit für das Funktionieren der Europäischen Union ist es auch, die kleinen und mittleren Unternehmen in die Digitalisierung 'mitzunehmen'". Die Realisierung eines echten digitalen Binnenmarktes sowie die Entwicklung und Durchsetzung europäischer Standards sind Voraussetzung dafür, dass die heimischen Klein- und Mittelbetriebe nicht aus der zukünftig digitalen Wertschöpfungskette fallen.

"Kein Elitenprojekt"

Ziel aller Reformen muss es sein, so der Tenor der Teilnehmer, dass Europa nicht als Elitenprojekt wahrgenommen wird. "Die Akzeptanz einer großen Mehrheit der Bevölkerung ist Voraussetzung für die Zukunft der Union", postulierte Mateusz Morawiecki, Vizepremierminister von Polen. Doch selbst wenn die Handlungsfähigkeit der Union wiederhergestellt wird, ist sie nicht alleine für die Zukunftsfähigkeit der Union bestimmend. "Der Erfolg der Europäischen Union basiert möglicherweise gar nicht so sehr auf ihrem wirtschaftlichen Erfolg", sagt Tibor Navracsics, der als EU-Kommissar für Bildung und Kultur etwa für das Erasmus-Programm zuständig ist. "Der Erfolg wird auch daran gemessen, wie gut sie es schafft, Identität zu stiften." Und Navracsics weiter: "Sehen wir uns doch an, womit die Eurobefürworter in Großbritannien geworben haben. Mit Zahlen, Daten, Fakten. Und die Gegner mit Emotion. Und wer hat gewonnen?"

Dieser Text erschien ursprünglich im Magazin "Tag der Industrie".