Schaeffler : Schaeffler-Konfrontation: "Gerhard Baum? Der soll ruhig öfter den Rebellen spielen."

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Gutzmer, im Jänner war Schaeffler erstmals auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas als Aussteller vertreten. Fernseher, Smartphones, Games: Was hatten Sie dort zu suchen?

Peter Gutzmer: Ein Fokus der Messe liegt ja auch auf der automobilen Zukunft. Und genau da setzten wir den Hebel an: Kupplungen, Wandler und Doppelkupplungsgetriebe zeigten wir auf der Detroit Auto Show. In Las Vegas traten wir mit Konzepten und Visionen zukünftiger Mobilität an. Etwa dem Bio-Hybrid, einem innovativen Mikromobilitätskonzept, das zeigt, wie wir uns eine Lösung für urbane Mobilität vorstellen. Der Bio-Hybrid ist nah am Fahrrad positioniert und verfügt über einen Pedelec-Antrieb. Zukünftige Highspeed-Radwege ermöglichen Ausbaustufen mit höheren Geschwindigkeiten

Schaeffler erzielt drei Viertel des Umsatzes im Automotive-Segment. Da geht es um klassische Lager oder Getriebekomponenten. Grenzt das nicht an Selbstverleugnung, neben Elektropionieren wie Tesla Flagge zu zeigen?

Gutzmer: Es existiert ja eine Schnittstelle zur klassischen Welt, zu der ich auch die Mannschaft um Herrn Baum zähle: Wie können wir ein mechatronisches Produkt wie den Wankstabilisator, der schon heute Komfort und Verbrauch optimiert, auch als Sensor für das Erfassen des Zustands einer Straßenoberfläche nutzen? Wie lassen sich auf diese Weise Fahrkomfortsignale für andere Teilnehmer desselben Ökosystems verbessern? Das sind hochspannende Fragen.

Herr Baum sitzt neben Ihnen. Geholt wurde er, um die Organisation mit Digital thinking anzuschießen.

Gutzmer: Deshalb ist er da. Er soll ruhig öfter den digitalen Rebellen spielen.

Herr Baum, Sie arbeiteten mehr als 20 Jahre bei IBM. 2015 tauschten Sie Valley Spirit gegen deutsche Ingenieurstugend. Schon bereut?

Gerhard Baum: Zu keiner Sekunde. Mir macht der Job Spaß. Es gibt Unternehmen, da läuft man mit dem Thema Digitalisierung gegen eine Wand. Bei anderen durch offene Türen. In dem Fall ist es so. Die technische Kompetenz im Unternehmen ist unglaublich. Und ist die erste Hürde der Diskussion erstmal überstanden und der Lackmustest absolviert, sind die Teams jederzeit bereit, Ideen weiterzuentwickeln und in der Tiefe anzureichern. Miteinander zu diskutieren, den kritischen Dialog zu führen, das ist wichtig.

Als Ingenieurshochburg: Macht das die Sache leichter oder schwerer?

Baum: Das macht es auf jeden Fall viel aufregender. Wenn Sie Digitalisierung in einem Umfeld betreiben, wo es längst zum Paradigma geworden ist, läuft es nach dem immer selben Muster ab: Wer eine Idee schneller hochskaliert, ist der Gewinner. In einem komplexeren Umfeld, in dem Sie unterschiedliche Welten zusammenbringen und gemeinsam nach Lösungen suchen, erhält der Innovationsprozess eine neue Dimension.

Entwicklung, Pilottests, Produktauslieferung - das ist für viele Maschinenbauer das klassische Prozedere, Produkte in den Markt zu bringen. Jetzt kommen Disruptoren wie Herr Baum und sagen, die Zeit dafür gibt es künftig nicht mehr. Herr Gutzmer: Eine notwendige Provokation?

Gutzmer: Qualitätsstandards, Kundenanforderungen, all das können wir nicht disruptiv verlassen. Das lassen Compliance-Regelwerke, der Gesetzgeber und vertragliche Vereinbarungen in der Form gar nicht zu. Aber vollkommen richtig: Wir müssen vorbereitet sein. Wir stecken in den Anfängen des Digitalzeitalters. Im Auto werden die digitalen Ansätze, die derzeit erst marginal angekommen sind, deutlich stärker repräsentiert sein. Uns erwartet ein Transformationsprozess. Wollen wir an der Spitze bleiben, müssen wir in fünf Jahren ein komplett anderes Unternehmen sein.

Ein schmerzlicher Ausbruch aus dem liebgewonnenen Koordinatensystem?

Gutzmer: Das ist kein Ausbruch, wir werden weiter in der klassischen Ingenieurswelt leben. Wir wollen aber neue Schulungsstrukturen und Kombinatoriken für Mitarbeiter nutzen. Und sie vielleicht auch mal in Design-Thinking-Workshops digitales Denken lehren.

Wann sind Geschäftsmodelle, bei denen funktionstüchtige Produkte schnell auf den Markt gelangen und mit Software-Updates dann sukzessive ausoptimiert werden, Teil der Schaeffler-Welt?

Gutzmer: Die streben wir definitiv nicht an. Wir können es uns nicht leisten, mit 80-Prozent-Lösungen den Kundenmarkt zu betreten und Sicherheitslücken in Kauf zu nehmen. Wir sind zukunftsorientiert: Ständig den Anforderungen des Markts hinterherzuhinken und in der Nachentwicklung zu stecken, kann kein Ziel sein.

Er kennt die Branche, versteht die IT und beherrscht die Methoden des schnellen Projektmanagements. Trotzdem: Warum ist Baum der Richtige?

Gutzmer: Er hat die Fähigkeit zu erkennen, wo bei uns die Tradition liegt und welche Erwartungen unsere Kunden an die digitale Zukunft stellen. Und er leitet die richtigen Schlüsse ab. Das heißt Kommunikation in alle Richtungen. Es wäre fatal, würde er so arbeiten wie wir. Nur die Kombinatorik bringt uns weiter.

Herr Baum, Sie wurden geholt, um die digitale Integration voranzutreiben.

Baum: Die Auseinandersetzung mit Innovation im Unternehmen ist vorbildhaft. Wie hat ein neues Geschäftsmodell für den Bio-Hybrid auszusehen? Wie lässt sich Know-how in den Segmenten Wind oder Bahn zu einem Produkt mit Kundenmehrwert schnüren? Daran arbeitet die Schaeffler-Truppe. Die Aufgabe meiner Mannschaft, der Data Scientists, Architects und Softwareentwickler, ist die Zusammenführung auf einer digitalen Plattform und deren Skalierung. Das ist ja das Schöne an solchen Lösungen: Auf Knopfdruck ordentliche Muliplikatoreffekte zu schaffen.

Neue Intelligenzen im Feld generieren neue Geschäftsmodelle. Künftig könnten Produkte noch stärker pro Einheit, etwa Laufleistung abgerechnet werden. In der Theorie.

Baum: Auch in der Praxis. Derartige Geschäftsmodelle haben wir etwa für die Windindustrie in der Pipeline: Ergänzende Produkte zur vorbeugenden Instandhaltung, die pro bereitgestellter Information oder erzielter Optimierung abgerechnet werden können.

Wie wird die Digitalisierungsstrategie auf das Produktionswerk Berndorf abstrahlen?

Gutzmer: Sie strahlt schon heute ab. Wir fertigen in einem Big-Data-Netzwerk. Künftig werden Qualitätsmessysteme an den Bearbeitungszentren über Sensorik noch viel stärker zur Produktionsoptimierung herangezogen werden können. Und Berndorf kann, sobald am Markt die dafür nötigen Voraussetzungen gegeben sind, bei der Fertigung sensorisierter Lager in den nächsten fünf Jahren eine wichtige Rolle übernehmen. Und: Wir denken generell darüber nach, künftig unsere Werkzeugmaschine 4.0 an verschiedenen Standorten in die Produktion zu integrieren.

Wie gehen Sie eigentlich mit den Unsicherheiten bei der Antriebsfrage um?

Gutzmer: Unsicher sind die künftigen Volumen konventioneller und alternativer Antriebsformen. Das Getriebe und der Verbrennnungsmotor werden uns erhalten bleiben, auch in Form von Hybridsystemen. Ein Drittel aller Fahrzeuge wird 2030 mit klassischen Verbrennungsantrieben ausgestattet sein. Aber auch im Luftverkehr, bei Wärmekraftmaschinen oder im Schiffsbetrieb werden Verbrennungsmaschinen weiter bestehen. Zunehmen wird aber die zu beherrschende Komplexität der Lösungen.

Herr Baum, Sie studierten neben Informatik Luft- und Raumfahrt. Ist Ihnen die Automotive-Branche dann eher zufällig passiert?

Baum: Ich habe bald festgestellt, dass der interessanteste Use-Case in der Autowelt zu finden ist. Mich reizt die Komplexität, die Transformation in der Branche. Und ich bin nicht gewillt, mir vom Silicon Valley Tempo oder Inhalte vorgeben zu lassen.

Das klingt nach einem klaren Commitment. Baum ist also keiner, vor dem sich die Belegschaft fürchten muss?

Gutzmer: Mir sind jedenfalls keine derartigen Protestaktionen bekannt. Sicher gibt es dann und wann Zögern. Aber vor allem jüngere Mitarbeiter setzen heute schon voraus, digitale Tools im Arbeitsumfeld vorzufinden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Peter Gutzmer, 63,

ist seit 2001 Technikchef bei Schaeffler. Seit 2013 ist er Aufsichtsratsmitglied bei Continental. Gutzmer studierte an der Universität Stuttgart Maschinenbau und promovierte in der Fachrichtung Verbrennungsmotoren.

Gerhard Baum, 59,

ist seit 2015 Chief Digital Officer bei Schaeffler. Er studierte Luft- und Raumfahrttechnik an der Universität Stuttgart und arbeitete jahrelang bei Daimler und IBM.