Digitalisierung : Rittal wird radikal digital

Diese Marktdurchdringung muss Rittal erst einmal einer nachmachen: Die Schaltschränke des Herstellers stehen beim Mount Rushmore Memorial der vier Präsidenten in den USA, bei der Apostolischen Bibliothek in Rom und beim Teilchenbeschleuniger Cern in Genf. Sie hängen am Netz in Windrädern, Kreuzfahrtschiffen und unzähligen Betrieben der Autoindustrie, der Maschinenbauer und Anlagenbauer. Vor 55 Jahren baute Rittal im deutschen Bundesland Hessen den ersten standardisierten Kompaktschaltschrank, heute ist die Firma auf diesem Gebiet Weltmarktführer. „Es gibt praktisch keine Branche, in der unsere Produkte nicht genutzt werden“, sagt Vertriebschef Hans Sondermann.

Transformiert

Rund 115 Menschen arbeiten für Rittal in Österreich an den Standorten in Wien, Graz, Linz und Lauterach. Etwa 10.000 sind es weltweit, viele von ihnen im Produktionsprozess. Im Moment kommen allerdings immer mehr Informatiker und Robotikspezialisten dazu – denn Rittal ist dabei, Produktion und Logistik noch viel stärker zu digitalisieren als bisher. Hier trifft klassische Old Economy der schweren Blechstanzmaschinen auf Industrie 4.0. Etwa in einem neuen Werk nach allen Regeln der digitalen Kunst. Oder in einem komplett digitalisierten Logistikzentrum. Und nicht zuletzt im Internet, wo die Kundenbestellung als Datensatz direkt an die Maschine gesendet wird.

Komplett neues Werk

Bei aller Begeisterung der Berater über die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten von Industrie 4.0: In der realen Welt stoßen sie öfter an ihre Grenzen. Etwa bei zu engen Gängen und der Einsicht, dass nicht jede heute erfolgreiche Fabrik einfach so digitalisiert werden kann. Auch bei Rittal war das an mehreren Standorten rund um den Konzernsitz in Rittershausen der Fall. Deshalb entschied sich der Hersteller für ein 24.000 Quadratmeter großes, komplett neues Werk in Haiger. Mit 250 Millionen Euro nicht gerade eine alltägliche Investition. Ab dem kommenden Jahr sollen hier 9.000 Gehäuse produziert werden – pro Tag. Entsprechend beachtlich ist auch der Jahresverbrauch von 25.000 Tonnen Stahl.

Selbstorganisierte Maschinen

Wegen einem Aspekt soll Haiger in Zukunft für alle Konzerntöchter ein Vorbild sein: Der Kunde wird sich aus 300 Gehäusegrundtypen nahezu jedes Produkt individuell zusammenstellen können – während die Produktion selbst bei Losgrößen unter zehn Stück effizient bleiben soll. Die dreistufige Fertigung aus Blechbearbeitung, Lackierung und Montage vernetzt Rittal durchgehend. Fahrerlose Transportsysteme liefern dann das Material völlig „selbstorganisiert“ und ohne menschliches Eingreifen zur entsprechenden Maschine. Nicht alle heutigen Mitarbeiter haben in diesem Werk noch Platz. Trotzdem würden auch in Haiger etwa 290 Menschen beschäftigt sein, verspricht Rittal – allerdings vor allem in der Überwachung von Maschinen an der Produktionslinie.

High-End-Lager

Direkt neben der Baustelle des Werks ist heute seit wenigen Monaten das größte Logistikzentrum des Konzerns in Betrieb. Hier steuert schon jetzt ein Hochleistungsrechner sämtliche Ein- und Ausgänge. In dem 4.000 Quadratmeter großen und bis zu 32 Meter hohen Zentrum herrscht rund um die Uhr Hochbetrieb: Mit 14 Stundenkilometern, also so schnell wie ein Gabelstapler, werden Schaltschränke, Kleingehäuse, Kühlgeräte und Zubehör an ihren Platz transportiert und wieder abgeholt. Hinten ist sowohl die Bestückung des Hochregallagers mit 21.500 Palettenplätzen für Großschränke als auch des Kleinteilelagers mit 25.000 Behälterplätzen voll automatisiert. Nur im vorderen Bereich wuseln die Fahrer mit großen elektrischen Gabelstaplern umeinander wie die Kellner vor dem Bierausschank bei einem großen Volksfest. Anders als bei den Maschinen ist bei ihnen die Anspannung bei diesem Zeitdruck nicht zu übersehen.

Platzhirsch

In Europa ist Rittal der Platzhirsch in seinem Markt, in Nordamerika und China allerdings nicht. Mit einem besonderen Angebot will der Fertiger die Konkurrenz besonders unter Druck setzen: mit „Rittal Con guration System“, einem Portal, bei dem der Schaltschrankhersteller eng mit der Softwareschmiede Eplan zusammenarbeitet, die, wie Rittal selbst, zur Industriegruppe Friedhelm Loh gehört. Das Portal erlaubt dem Kunden per Mausklick die Zusammenstellung eines „gewöhnlichen“ oder eines ganz individuell gestalteten Schaltschranks, dessen Details das System vollautomatisch entlang der vom Kunden vorgegebenen Parameter vorberechnet. Auch mögliche Berechnungsfehler des Bestellers erlaube dieses System nicht mehr, heißt es bei Rittal.

Durchgängige Daten

Die Bestellung geht dann als digitaler Datensatz direkt an die Fertigung, in der wiederum die benötigten Informationen und Maschinenprogramme automatisch erstellt werden. Rittal liefert den Datensatz dahinter, Eplan bereitet sie auf. „Ein perfektes Beispiel für Datendurchgängigkeit“, so der Hersteller. Auch diesen rasend schnellen Weg von einer Idee und einem Stück Blech über Computerprogramme, Stanzmaschinen und Lackierereien bis zum Kunden ist etwas, was Rittal erst einmal jemand nachmachen muss.