Protest : NIMBY als zeitgeistige Philosophie

windrad neben kleinem haus

Der Begriff NIMBY beschreibt Menschen, die sich in ihrem eigenen Interesse gegen die Entwicklung einer Technologie oder eines Dienstes in ihrem Umfeld wehren, von der sie jedoch profitieren und die sie ansonsten unterstützen würden.

- © cegli - stock.adobe.com

Mit der Französischen Revolution von 1789 wurden auch die gesellschaftlichen Grundwerte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit propagiert. Nicht alle haben sich bis heute gleichermaßen durchgesetzt.

Unsere neoliberale Gesellschaft pocht am meisten auf die Freiheit, während die kommunistische Revolution vergeblich versuchte, die Gleichheit zu betonen. Um die Brüderlichkeit bzw. die Solidarität ist es nach wie vor nicht gut bestellt, noch dazu, wo wir nun mit Problemen konfrontiert sind, die nur auf globaler Ebene und am besten ohne Egoismen gelöst werden können.

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Die Hinterhofidylle

Aber einen solch weiten Horizont müssen wir gar nicht erst in Betracht ziehen, denn es gibt ja auch noch unseren Hinterhof. Der Begriff NIMBY beschreibt dabei Menschen, die sich in ihrem eigenen Interesse gegen die Entwicklung einer Technologie oder eines Dienstes in ihrem Umfeld wehren, von der sie jedoch profitieren und die sie ansonsten unterstützen würden.

Dies ist auch verwandt mit Floskeln wie „Nicht in meiner Amtszeit“ oder „Nicht in diesem Wahljahr“. Oft ist der Widerstand gegen neue Entwicklungen bei denjenigen, die in der Nähe des geplanten Standorts wohnen, ungewöhnlich groß. Das NIMBY-Konzept versucht, dieses Phänomen der geringen öffentlichen Akzeptanz für neue Entwicklungen und Vorhaben zu analysieren, um beispielsweise im Rahmen partizipatorischer Prozesse Lösungen anbieten zu können. Am stärksten vom NIMBY-Widerstand betroffen sind geplante Kraftwerke und Versorgungsunternehmen, Infrastruktureinrichtungen wie Autobahnen und Flughäfen, aber auch Deponien, Abbaustätten und Orte des Amüsements.

Protest in Molln: Bürger demonstrieren gegen Windräder in den Wäldern des Waldviertels.

- © IG Windkraft

Komplexes Phänomen

Projektentwickler verwenden diesen Begriff manchmal abwertend, um die Bedenken der Projektgegner abzutun und sie gar als Bedrohung der lokalen Entwicklung abzustempeln. Aus diesem Grund wird in Fachkreisen die Verwendung des Begriffs kritisch gesehen – auch deshalb, weil komplexe Themen damit stark vereinfacht werden.

Und tatsächlich ist Widerstand gegen Starkstromleitungen und Windkraftwerke etc. durchaus legitim, wenn wir bedenken, dass Freiheit heute auch darin gesehen wird, dass man zum Gaudium grenzenlos streamen kann oder es Konzepte der Elektromobilität gibt, die vorsehen, dass Fahrzeuge mit mehreren Hundert PS deshalb laufend aufzuladen sind, weil sie mit unnötig schweren Batterien durch die Landschaft rasen. Für diesen Luxus müssen aber nun alle in die dafür notwendige Infrastruktur einzahlen und höhere Strompreise in Kauf nehmen – auch jene, die nicht streamen, mit dem Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen.

Und manche davon müssen auch insofern ein Opfer erbringen, als sie durch bauliche Maßnahmen in ihrem Umfeld Lebensqualität einzubüßen haben. Auf diese Menschen trifft auch der Begriff NIMBY bzw. die attestierte egozentrische Einstellung gar nicht zu, weil sie eben von diesen Entwicklungen nicht oder nur eingeschränkt profitieren – oder wie etwa bei energieaufwändigen KI-Anwendungen dadurch sogar ihre Jobs verlieren können.

Windkraftprotest: Umwelt- und Klima-Landesrat Stefan Kaineder und Landtagsabgeordneter Rudi Hemetsberger beim gemeinsamen Lokalaugenschein mit besorgten Bürgern bei der Bohrbaustelle im Jaidhaustal in Molln.

- © Land OÖ/Werner Dedl)

Keiner kommt rein

Umgekehrt trägt NIMBY als mittlerweile weit verbreitete Lifestyle-Attitüde auch dazu bei, dass bestehende Ungleichheiten sogar weiter verschärft werden. Beispielhaft dafür sind die USA, wo es unter Haus- und Wohnungsbesitzern mittlerweile schick geworden ist, sich gegen neue Bauvorhaben in der Nähe einzusetzen. Schließlich könnten die Bauten dann die Sicht verstellen, die Kinder die Ruhe stören, und es käme auch zu einem höheren Verkehrsaufkommen. Darüber hinaus gibt es auch Bedenken, dass weiterer Zuzug der Exklusivität des Wohnortes schaden und es so zu einer Abwertung der Immobilie kommen könnte.

In Anbetracht eines überhitzten Immobilienmarktes hat dieses Phänomen nun auch einen Anteil daran, dass das Wohnen in den USA noch weniger leistbar wurde und die Anzahl der Obdachlosen in den US-amerikanischen Städten zuletzt erheblich stieg. Die traurige Ironie dabei ist, dass die Obdachlosen mittlerweile nicht nur in den Stadtzentren präsent sind, sondern nun auch auf die Vorstädte überschwappen. Wie jene, die bei dem Spiel „Die Reise nach Jerusalem“ keinen Platz mehr gefunden haben, sind die Verlierer dieser Entwicklung nun auch dort anzutreffen, wo es die eigensinnigen Hausbesitzer sicher nicht gerne sehen. Und zusätzlich tragen sie jetzt dazu bei, dass durch negative Begleiterscheinungen wie Drogenhandel und Alkoholismus deren Immobilien an Wert einbüßen. Dieses neue Phänomen ist in den von Republikanern dominierten Kommunen zu finden, aber noch häufiger in jenen, die von Demokraten regiert werden.

Selber ist man fein heraußen

So ist NIMBY generell nicht an eine gewisse Ideologie gebunden, und die damit einhergehende Denkweise drückt sich auch nicht nur dadurch aus, dass man gegen etwas ist oder anderen den Zugang zu den Ressourcen im eigenen Umfeld verwehrt. NIMBY tritt auch zu Tage, wenn man sich als besonders liberal und aufgeschlossen gibt und beispielsweise Regelungen für den Zuzug von Migranten schon aus Prinzip ablehnt, während man die eigenen Kinder aber nicht mehr an eine öffentliche Schule schickt. Der persönliche Back Yard wird also in die Privatschule transferiert, wo fremdsprachige Kinder den Schulerfolg der eigenen Kinder nicht mehr gefährden können, während sich die Probleme an den öffentlichen Schulen dadurch noch weiter verstärken. Durch diese Strategie gelingt es, nicht selbst als engstirnig und als mit Vorurteilen behafteter Verhinderer zu gelten. Dieses konfliktbehaftete Terrain überlässt man großzügig dem fremdenfeindlichen rechten Rand der Gesellschaft.

Ähnliche Verhaltensweisen existieren auch auf globaler Ebene. In unseren westlichen Gesellschaften wird versucht, absehbaren lokalen Konflikten aus dem Weg zu gehen, indem das Ungemach dorthin verlagert wird, wo solche Konflikte weniger wahrscheinlich sind oder gar im Keim erstickt werden. So können die EU-Staaten auf anderen Kontinenten auf entfernte Hinterhöfe zugreifen, in denen etwa die Rohstoffe für die saubere Energiewende abgebaut werden oder ohne nennenswerte Umwelt- und Sozialauflagen Kleidung für die Fast Fashion hergestellt wird. Vorhaben wie das EU-Lieferkettengesetz sind diesbezüglich nur ein Bluff – wie die Klimaziele oder die Million Artilleriegeschosse für die Ukraine –, weil die Politik genau weiß, dass der Appell an die Solidarität nicht ausreichen wird und in letzter Konsequenz wohl auch Freiheiten beschränkt werden. So etwas – zum Beispiel im Sinne einer Kreislaufwirtschaft – gesellschaftlich fair auszuhandeln, ist eine äußerst undankbare Aufgabe, derer man sich am liebsten in der aktuellen Legislaturperiode oder gar in einem Wahljahr nicht aussetzen, sondern diese lieber aussitzen möchte.

Ein Beispiel für diese Haltung ist auch der jüngste Gasfund im oberösterreichischen Molln, mit dem man Österreich annähernd drei Jahre lang versorgen könnte. Die Proteste gegen die Förderung des heimischen Gases in diesem naturbelassenen Gebiet ließen nicht lange auf sich warten, und Anrainer sowie Aktivisten der Bürgerinitiative Pro Natur Steyrtal wurden durch den Bohrkonzern sogar mit Klagsdrohungen eingeschüchtert. Bei nüchterner Betrachtung muss allerdings auch klar sein, dass ein Verzicht auf diese Vorkommen der Umwelt und dem Klima nichts nützen wird. Im Gegenteil, Österreich wird diese Mengen über lange Transportwege teuer einkaufen, wobei das Gas eventuell auch durch Fracking-Prozesse erzeugt wird, die wir hier bei uns ablehnen.